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Als am Sonntag die Nacht hereinbrach, schlich Etienne zum Dorfe hinaus. Ein klarer, gestirnter Himmel verbreitete ein blaues Dämmerlicht über die Erde. Er ging zum Kanal hinab und folgte langsam der Böschung in der Richtung nach Marchiennes. Es war sein Lieblingsspaziergang, ein grasbewachsener Weg von zwei Meilen Länge, der sich geradeaus neben der mit geometrischer Genauigkeit gezogenen Linie des Kanals hinzog, welcher gleich einem endlosen Stück flüssigen Silbers verlief.
Hier begegnete er niemals einem Menschen. Er war deshalb auch unangenehm überrascht, als er an diesem Abend einen Mann auf sich zukommen sah. Im fahlen Lichte der Sterne erkannten die beiden einsamen Spaziergänger sich erst, als sie ganz nahe einander gegenüberstanden.
»Du bist's!« flüsterte Etienne.
Suwarin nickte, ohne zu antworten. Einen Augenblick standen sie unbeweglich da; dann setzten sie Seite an Seite den Weg nach Marchiennes fort. Jeder schien seine Gedanken fortzuspinnen, als seien sie sehr weit voneinander.
»Hast du von den Pariser Erfolgen Plucharts in der Zeitung gelesen?« fragte endlich Etienne. »Man erwartete ihn auf dem Bürgersteig und brachte ihm laute Ehrenbezeigungen, als er die in der Vorstadt Belleville stattgehabte Versammlung verließ ... Der Mann ist im Zuge trotz seines ewigen Schnupfens; er wird seinen Weg machen.«
Der Maschinist zuckte mit den Achseln. Er verachtete die Schönredner, diese Kerle, die in die Politik eintreten, wie man in die Advokatie eintritt, um mit Redensarten Renten zu erwerben.
Etienne war jetzt bei Darwin angelangt. Er hatte Bruchstücke seiner Werke in einer gekürzten, volkstümlichen Ausgabe zu fünf Sous gelesen; nach diesem halb verstandenen Buche machte er sich ein umstürzlerisches Bild von dem Kampfe um das Dasein, in dem die Mageren die Fetten verzehren, das starke Volk das bleiche Spießbürgertum verschlingt. Doch Suwarin geriet in Zorn und ließ sich über die Dummheit der Sozialisten aus, die sich auf Darwin berufen, diesen Apostel der wissenschaftlichen Ungleichheit, dessen berühmte »Zuchtwahl« nur für aristokratische Philosophen gut sei. Allein der Kamerad war eigensinnig und wollte den andern mit Vernunftgründen unterkriegen; er drückte seine Zweifel durch folgende Annahme aus: Die alte Gesellschaft existierte nicht mehr, man hatte sie bis auf die letzten Reste weggefegt; war da nicht zu befürchten, daß die neu erstehende Welt von denselben Ungerechtigkeiten allmählich verdorben würde, eine Welt, in der die einen krank, die anderen gesund, die einen geschickter und klüger sind und, alles zu ihrem Vorteil benutzend, die anderen blöd und dumm und wieder zu Sklaven werden? Angesichts dieses ewigen Elends schrie der Maschinist mit wütender Stimme: »Wenn die Gerechtigkeit mit dem Menschen unmöglich ist, muß der Mensch verschwinden. So viele verfaulte Gesellschaften, ebenso viele Gemetzel, bis das letzte Wesen ausgerottet ist.« Da trat wieder ein Schweigen zwischen ihnen ein.
Gesenkten Hauptes ging Suwarin auf dem feinen Grase dahin, dermaßen in seine Gedanken versunken, daß er am äußersten Rande des Wassers wandelte mit der ruhigen Sicherheit eines Menschen, der auf dem Dache eingeschlafen ist und neben der Rinne liegend sich seinen Träumen überläßt. Dann fuhr er plötzlich zusammen, scheinbar ohne Ursache, als sei er auf einen Schatten gestoßen. Er blickte auf mit seinem bleichen Gesicht und sagte zu seinem Genossen in mildem Tone:
»Habe ich dir erzählt, wie sie gestorben ist?«
»Wer denn?«
»Mein Weib in Rußland.«
Etienne machte eine ausweichende Gebärde, erstaunt über das Zittern der Stimme und das Bedürfnis nach Vertraulichkeit bei diesem sonst so unempfindlichen Burschen, der in stoischer Abgeschiedenheit von den anderen lebte. Er wußte nur, daß sein Weib eine Geliebte war, und daß man sie in Moskau gehängt hatte.
»Die Sache war nicht gelungen«, erzählte Suwarin, auf den weißen Lauf des Kanals blickend, der sich zwischen den Reihen der großen, dunklen Bäume verlor. Wir hatten zwei Wochen in einem Loche zugebracht, um die Eisenbahn zu untergraben; aber nicht der kaiserliche Zug flog in die Luft, sondern ein mit Reisenden gefüllter... Dann wurde Annuschka verhaftet. Sie hatte uns, als Bäuerin verkleidet, jeden Abend Brot gebracht. Sie hatte auch die Lunte angezündet, weil man einen Mann leichter hätte bemerken können. Unter der Menge verborgen, folgte ich den Prozeßverhandlungen sechs lange Tage hindurch....«
Seine Stimme stockte; er wurde von einem Hustenanfall ergriffen und drohte zu ersticken.
»Zweimal drängte es mich aufzuschreien; ich wollte über die Köpfe hinwegspringen, um zu ihr zu gelangen. Aber was hätte es genützt? Ein Mann weniger bedeutet einen Streiter weniger; und ich merkte wohl, daß sie mir »Nein!« gebot mit ihren starren Blicken, die den meinigen begegneten.«
Er hustete wieder.
»Auch auf der Richtstätte fand ich mich ein. Es regnete, und die Ungeschickten verloren darüber den Kopf. Sie brauchten zwanzig Minuten, um vier andere zu hängen; der Strick riß, und sie konnten mit dem Vierten nicht fertig werden... Annuschka stand dabei und wartete. Sie sah mich nicht; sie suchte mich in der Menge. Ich war auf einen Eckstein gestiegen, und da sah sie mich; unsere Blicke verließen einander nicht mehr. Als sie tot war, schaute sie mich noch immer an... Ich lüftete den Hut zum letzten Gruße und ging.«
Wieder trat Stille ein. Die weiße Allee des Kanals zog sich ins Endlose hin; beide gingen mit gedämpften Schritten, jeder in seinen Gedanken vereinsamt. Das bleiche Wasser schien am Horizont in einem kleinen, hellen Loche zu endigen.
»Es war unsere Strafe«, fuhr Suwarin in hartem Tone fort. »Unsere Liebe war unser Vergehen... Es ist gut, daß sie tot ist; aus ihrem Blute werden Helden erstehen; ich aber werde keine Schwäche mehr im Herzen haben; keinen Anverwandten, kein Weib, keinen Freund; nichts, was die Hand beben machen würde an dem Tage, wenn es gilt, anderen das Leben zu nehmen oder das seinige hinzugeben.«
Etienne war in der kalten Nacht fröstelnd stehen geblieben. Er ließ sich mit dem anderen in keine Erörterung ein; er sagte bloß:
»Wir sind weit; wollen wir zurückkehren?«
Sie kehrten langsam nach dem Voreux zurück. Nach einigen Schritten setzte er hinzu:
»Hast du die neuen Anschlagzettel gelesen?«
Es waren große, gelbe Plakate, welche die Gesellschaft am Morgen hatte anschlagen lassen. Sie führte darin eine deutlichere und versöhnlichere Sprache; sie erklärte sich bereit, die Arbeitsbücher der Bergleute zurückzunehmen, die am nächsten Morgen anfahren würden. Alles sollte vergessen sein; selbst den am meisten Bloßgestellten sollte Verzeihung werden.
»Ja, ich habe sie gesehen«, antwortete der Maschinist.
»Und wie denkst du darüber?«
»Ich denke, daß alles aus ist ... Die Herde wird wieder anfahren. Ihr alle seid viel zu feige.«
Etienne verteidigte erregten Tones die Kameraden. Ein Mann kann tapfer sein; eine Menge, die Hungers stirbt, ist machtlos. Langsamen Schrittes waren sie bei dem Voreux angekommen. Angesichts der dunklen Masse der Grube fuhr er fort und erklärte, er seinerseits werde nicht mehr anfahren; aber er verzeihe jenen, die anfahren würden. Weil das Gerücht ging, daß die Zimmerleute nicht Zeit genug hatten, die Verzimmerung auszubessern, wollte er darüber Näheres wissen. War es so? Der Druck der Erdmasse gegen die Hölzer, die dem Schachte gleichsam ein Kleid von Balken und Brettern anlegten, soll diese im Innern dermaßen herausgedrängt haben, daß eine der Förderschalen in einer Länge von fünf Metern die Wände streifte. Suwarin war wieder still geworden und gab ihm nur knappe Antworten. Er habe gestern noch gearbeitet, die Schale streife in der Tat die Wände. Die Maschinisten mußten sogar die Geschwindigkeit verdoppeln, um an dieser Stelle vorüberzukommen. Aber alle Vorgesetzten hatten für diese Bemerkungen nur eine und dieselbe gereizte Antwort: Man wolle Kohle haben; die Verbesserungen kämen später.
»Du siehst, die Geschichte geht aus den Fugen«, murmelte Etienne. »Es kann lustig werden.«
Die Augen auf die Grube gerichtet, die im Dunkel der Nacht nur undeutlich zu sehen war, schloß Suwarin in ruhigem Tone:
»Wenn die Geschichte aus den Fugen geht, laß die Kameraden es wissen, wenn du ihnen rätst anzufahren.«
Im Kirchturm von Montsou schlug es neun Uhr; und als sein Gefährte sagte, daß er heimkehre, um zu Bett zu gehen, fügte Suwarin hinzu, ohne dem andern die Hand zu reichen:
»Nun denn lebe wohl! Ich reise.«
»Wie, du reisest?«
»Ja, ich habe mein Arbeitsbuch zurückgefordert und gehe anderswohin.«
Etienne sah ihn erstaunt und erregt an. Nach einem gemeinsamen Spaziergange von zweistündiger Dauer sagte er ihm das mit ganz ruhiger Stimme, während ihm – Etienne – die bloße Ankündigung dieser plötzlichen Trennung das Herz zusammenschnürte. Man hatte Bekanntschaft gemacht, man hatte zusammen gearbeitet: es war traurig zu denken, daß sie einander nicht mehr sehen sollten.
»Du reisest ab; und wohin gehst du?«
»Fort; ich weiß es nicht.«
»Und werde ich dich wiedersehen?«
»Nein; ich glaube nicht.«
Sie schwiegen und standen einen Augenblick wortlos einander gegenüber.
»So lebe wohl!«
»Lebe wohl!«
Während Etienne zum Dorfe hinanstieg, machte Suwarin kehrt und ging zum Kanalufer zurück. Er war jetzt allein und wandelte ziellos dahin; gesenkten Hauptes verlor er sich dermaßen ins nächtliche Dunkel, daß er nur mehr ein beweglicher Schatten der Nacht schien. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und zählte die Schläge der Uhr im fernen Kirchturm. Als es Mitternacht schlug, verließ er das Ufer und lenkte seine Schritte nach dem Voreux.
Zu dieser Stunde war die Grube menschenleer; er fand daselbst nur einen schlaftrunkenen Aufseher. Die Maschine sollte erst um zwei Uhr zur Aufnahme der Arbeit geheizt werden. Zunächst ging er hinauf und nahm aus einem Schrank einen Kittel, den er dort vergessen zu haben vorgab. Verschiedene Werkzeuge, ein Schraubenzieher, eine kleine, sehr starke Säge, ein Hammer und ein Meißel waren in diesen Kittel eingewickelt. Dann ging er wieder fort; aber anstatt durch die Baracke hinauszugehen, schlüpfte er in den engen Gang, der zum Leiternschacht führte. Den Kittel unter dem Arm haltend, stieg er hinab, ganz sachte, ohne Lampe, durch Zählen der Leitern die Tiefe messend. Er wußte, daß die Schale in einer Tiefe von dreihundertvierundsiebzig Metern den fünften Durchlaß der unteren Verzimmerung streifte. Als er vierundfünfzig Leitern hinabgestiegen war, tastete er mit der Hand und fühlte die Anschwellung der Hölzer. Da war es.
Mit der Geschicklichkeit und der Kaltblütigkeit eines guten Arbeiters, der über sein Werk lange nachgedacht, machte er sich an die Arbeit. Er begann damit, ein Feld in der Holzwand des Schachtes durchzusägen, um eine Verbindung mit der Aufzugsabteilung herzustellen. Bei dem schnell verflackernden Lichte von Zündhölzchen konnte er sich von dem Zustande der Verzimmerung und den in der jüngsten Zeit vorgenommenen Ausbesserungen Kenntnis verschaffen.
Zwischen Calais und Valenciennes hatte seinerzeit die Abteufung der Schächte unerhörte Schwierigkeiten zu überwinden, denn es galt, durch die Wassermassen zu kommen, die im Grunde der tiefsten Täler unterirdisch lagerten und sich gleich endlosen Seen ausbreiteten. Nur die Konstruktion der Verzimmerungen, die Balken, die gleich den Dauben eines Fasses aneinandergefügt wurden, vermochte den Zufluß aufzuhalten und die Schächte zu isolieren inmitten der Seen, deren tiefe, dunkle Fluten an die Wände schlugen. Bei der Abteufung des Voreuxschachtes hatte man zwei Verzimmerungen anlegen müssen, die des oberen Niveaus, wo Sand und Lehm, mit Wasser getränkt wie ein Schwamm, das kreidige, nach allen Richtungen zerrissene Erdreich umgaben; dann die des unteren Niveaus, direkt oberhalb des kohlenhältigen Bodens, durch feinen, gelben Sand, der dahinrann, als sei er flüssig. Hier befand sich das unterirdische Meer, der Schrecken aller Kohlengruben im Norden, ein Meer mit seinen Stürmen und Schiffbrüchen, ein unbekanntes, unergründliches Meer, das in einer Tiefe von mehr als dreihundert Metern unter der Erdoberfläche seine schwarzen Fluten wälzte. Gewöhnlich waren die Verzimmerungen stark genug, um den ungeheuren Druck auszuhalten; sie hatten nichts zu fürchten als eine Senkung des benachbarten Erdreiches, das fortdauernd durch den Einbruch der aufgelassenen Stollen erschüttert wurde. Durch das Sinken der Felsen entstanden zuweilen Risse, die sich allmählich bis zu dem Gebälk ausdehnten, das sie aus der Form brachten, indem sie es nach dem Innern des Schachtes drängten. Darin lag eben die Gefahr; es drohte ein Einsturz, es drohte ein Wassereinbruch; die Grube konnte verschüttet oder ersäuft werden.
Suwarin, der rittlings in der von ihm gemachten Öffnung saß, stellte eine sehr ernste Verschiebung des fünften Durchlasses der Verholzung fest. Die Hölzer legten sich in ihren Rahmen bauchig vor; mehrere traten sogar aus dem Gefüge. Durch die Risse, die man mit geteertem Werg zu verstopfen suchte, brach reichliches Sickerwasser durch. Von der Zeit gedrängt, hatten die Zimmerleute sich begnügt, in den Winkeln Haken anzubringen; doch war diese Arbeit so oberflächlich gemacht, daß nicht überall Schrauben eingesetzt waren. Im Flugsande hinter der Verholzung war augenscheinlich eine lebhafte Bewegung eingetreten.
Suwarin machte sich daran, mittels des Schraubenziehers die Schrauben der Winkelhaken zu lockern, so daß ein letzter Druck sie alle losreißen mußte. Es war dies ein tollkühnes Beginnen, bei dem er zwanzigmal Gefahr lief, in eine Tiefe von hundertachtzig Metern hinabzustürzen. Er hatte sich an den Leitpfosten der Schalen festhalten müssen; über dem Schlunde schwebend kroch er auf den Querbalken fort, welche diese Leitpfosten in bestimmten Zwischenräumen verbanden; bald lag er auf dem Bauche, bald saß er, bald bog er sich zurück, auf einen Ellbogen oder auf ein Knie gestützt, in ruhiger Mißachtung des Todes. Ein Hauch würde genügt haben, ihn hinabzustürzen; dreimal glitt er ab und hielt sich wieder fest, ohne auch nur zu zucken. Zuerst tastete er mit der Hand, dann arbeitete er, ein Zündhölzchen nur dann anzündend, wenn er inmitten der glitschigen Balken sich verirrte. Nachdem er die Schrauben gelockert, machte er sich an die Hölzer selbst, und jetzt ward die Gefahr für ihn noch größer. Er hatte den »Schlüssel« gesucht, das ist das Stück, welches die übrigen stützte; dieses bearbeitete er mit einer wahren Wut; er durchbohrte es, durchsägte es, verkleinerte es, damit es seine Widerstandskraft einbüße, wobei das durch die Löcher und Risse in dünnen Strahlen hervorschießende Wasser ihn blendete und mit einem eiskalten Regen durchnäßte. Zwei Zündhölzchen erloschen, die übrigen wurden durchnäßt; es war Nacht, ein bodenloser Abgrund von Finsternis.
Von diesem Augenblicke an bemächtigte sich seiner eine wahre Wut. Der Atem des Unsichtbaren betäubte ihn; das dumpfe Entsetzen vor diesem Loche, in das ein Platzregen sich ergoß, versetzte ihn in eine wahre Zerstörungswut. Er stürzte sich, blindlings auf die Verzimmerung, hieb auf das Geratewohl los, wohin er traf, mit dem Meißel, mit dem Hammer, mit der Säge, von der Gier ergriffen, das Gebälk über seinem Haupte sogleich zu zerstören. Er überließ sich dabei einer Grausamkeit, als habe er mit seinem Messer in der Haut eines lebenden Wesens gewühlt, das er verabscheute. Er wollte es endlich töten, dieses bösartige Tier Voreux mit dem allezeit aufgesperrten Rachen, der soviel Menschenfleisch verschlungen hatte. Wo seine Werkzeuge sich ansetzten, da knirschte es laut; er streckte den Rücken, er kroch hin und her, stieg hinab und stieg hinauf, wie durch ein Wunder sich festhaltend in dieser fortwährenden Erschütterung, gleich einem Nachtvogel in dem Gebälk eines Glockenturmes.
Doch unzufrieden mit seiner Aufregung beruhigte er sich wieder. Konnte man denn die Dinge nicht kaltblütig verrichten? Er verschnaufte sich und kehrte dann nachdem Leiternschachte zurück, dessen Öffnung er wieder verschloß, indem er das ausgesägte Feld wieder an seine Stelle setzte. Es war genug; er wollte nicht durch eine allzugroße Beschädigung die Gruben Verwaltung aufmerksam machen, die vielleicht unverzüglich Ausbesserungen anordnen würde. Das Tier hatte seine Wunde im Leibe; man werde sehen, ob es am Abend noch lebe. Er hatte seine Unterschrift zurückgelassen; die entsetzte Welt werde erfahren, daß das Tier nicht in natürlicher Weise gestorben. Er nahm sich die Zeit, regelrecht die Geräte in seine Jacke einzuwickeln und stieg gemächlich die Leitern empor. Als er unbemerkt die Grube verlassen hatte, kam ihm nicht einmal der Gedanke, seine Kleider zu wechseln. Es schlug drei Uhr. Er blieb auf der Straße stehen und wartete...
Zur selben Stunde ward Etienne, der wach auf seiner Matratze lag, durch ein leises Geräusch beunruhigt, das in der stockfinsteren Stube zu vernehmen war. Er unterschied den leisen Atemzug der Kinder, das Schnarchen des alten Bonnemort und der Frau Maheu, während Johannes neben ihm ein anhaltendes, flötenartiges Pfeifen vernehmen ließ. Ohne Zweifel hatte er nur geträumt; er wollte sich eben zur Wand umkehren, als das Geräusch wieder anhob. Es war ein Knistern des Strohsackes, die vorsichtige Anstrengung eines Menschen, der sich von seinem Lager erhebt. Da dachte er sich, Katharina sei vielleicht unwohl.
»Bist du es? Was ist dir?« fragte er mit leiser Stimme.
Niemand antwortete; nur das Schnarchen der anderen dauerte fort. Fünf Minuten rührte sich nichts, dann begann das Knistern von neuem. Weil er dieses Mal sicher war, sich nicht getäuscht zu haben, ging er durch das Zimmer und streckte in der Finsternis die Hände nach dem gegenüber stehenden Bette aus. Seine Überraschung war groß, als er das Mädchen sitzen fand. Sie war wach und lauschte mit zurückgehaltenem Atem.
»Warum antwortest du nicht? Was machst du denn?«
»Ich stehe auf«, sagte sie schließlich.
»Zu dieser Stunde stehst du auf?«
»Ja, ich kehre zur Arbeit in die Grube zurück.«
Etienne war sehr ergriffen und mußte sich auf den Rand des Strohsackes setzen, während Katharina ihm ihre Gründe erklärte. Sie leide zuviel bei diesem müßigen Leben und empfinde zu schwer die vorwurfsvollen Blicke, die fortwährend auf ihr ruhten; sie wolle sich lieber der Gefahr aussetzen, in der Grube von Chaval gestoßen zu werden. Wenn die Mutter das Geld zurückweisen solle, das sie ihr bringen werde, so sei sie groß genug, um für sich zu leben und ihre Suppe zu kochen.
»Geh«, ich will mich ankleiden. Wenn du gut zu mir sein willst, sagst du nichts.«
Doch er blieb neben ihr; er hatte den Arm um ihren Leib gelegt mit einer Liebkosung, in der sich Kummer und Mitleid ausdrückten. Im Hemde, eng aneinander geschmiegt, fühlten sie die Wärme ihrer nackten Haut am Rande dieses noch von der Nachtruhe warmen Lagers. Sie hatte mit der ersten Bewegung sich von ihm losmachen wollen; dann hatte sie still zu weinen begonnen, hatte ihn auch ihrerseits umhalst, um ihn in einer verzweifelten Umschlingung Leib an Leib zu behalten. So blieben sie ohne ein anderes Verlangen mit der Vergangenheit ihrer unglücklichen Liebe, die sie nicht hatten befriedigen können. War es denn aus für immer? Würden sie es nicht wagen, sich eines Tages zu lieben, jetzt, da sie frei waren? Nur ein wenig Glück wäre notwendig gewesen, um ihre Scham zu verscheuchen, dieses Unbehagen, das sie hinderte, sich zusammenzutun, wegen allerlei Gedanken, in denen sie selbst nicht ganz klar lasen.
»Lege dich wieder«, flüsterte sie. »Ich will kein Licht machen, um die Mutter nicht zu wecken... Es ist Zeit zum Aufbruch; laß' mich!«
Er hörte nicht, preßte sie nur sinnlos an sich, das Herz von unendlicher Trauer erfüllt. Ein Bedürfnis nach Frieden, ein unüberwindliches Bedürfnis, glücklich zu sein, bemächtigte sich seiner; er sah sich schon verheiratet in einem sauber gehaltenen Häuschen ohne einen andern Ehrgeiz, als mit ihr da zu leben und zu sterben. Mit trockenem Brote würde er sich begnügen; und wenn nur für einen Brot da wäre, so wäre es für sie. Wozu noch etwas anderes? War denn das Leben mehr wert?«
Doch sie machte jetzt ihre nackten Arme los.
»Laß mich, bitte!«
In einer Aufwallung seines Herzens sagte er ihr ins Ohr:
»Warte, ich gehe mit dir.«
Er selbst war erstaunt, dies gesagt zu haben. Er hatte geschworen; nicht wieder anzufahren; woher kam dieser plötzliche Entschluß, der seinen Lippen entschlüpft war, ohne daß er daran gedacht oder die Sache einen Augenblick erwogen hätte. Jetzt erfüllte ihn solcher Friede, eine so vollständige Genesung von seinen Zweifeln, daß er hartnäckig bei seinem Entschlüsse beharrte als ein durch den Zufall Geretteter, der endlich den einzigen Ausweg aus seinem Leid gefunden. Er wollte sie auch nicht anhören, als sie alles aufbot, ihn von seinem Entschlüsse abzubringen, weil sie begriff, daß er sich für sie opfere, und weil sie die bösen Reden fürchtete, mit denen man sie in der Grube empfangen würde. Doch er erklärte, sich um niemanden zu kümmern; die Anschlagzettel verhießen Verzeihung, und das genügte.
»Ich will arbeiten; das ist mein Gedanke... Wir wollen uns geräuschlos ankleiden!«
Mit großer Behutsamkeit kleideten sie sich in der finstern Schlafstube an. Sie hatte am vorhergehenden Abend im geheimen ihre Grubenkleidung vorbereitet; er holte aus dem Schrank eine Jacke und eine Hose; sie wuschen sich nicht, um nicht mit der Schüssel Geräusch zu machen. Alle schliefen; aber sie mußten den engen Gang durchschreiten, wo die Mutter ihr Lager hatte. Sie hatten das Unglück, an einen Sessel zu stoßen; die Mutter erwachte und fragte schlaftrunken:
»Wer ist's?«
Katharina war zitternd stehen geblieben und drückte heftig Etiennes Hand.
»Ich bin's, beunruhigen Sie sich nicht«, sprach dieser. »Mir ist zu heiß, ich muß ein wenig frische Luft schöpfen.«
»Gut, gut.«
Frau Maheu schlief wieder ein. Katharina wagte sich nicht zu rühren. Endlich ging sie in die Wohnstube hinunter und teilte da eine Butterschnitte, die sie von einem Brote, das eine Dame aus Montsou geschenkt, zurückbehalten hatte. Dann schlossen sie sachte die Tür und gingen fort.
Suwarin war bei einer Wegkrümmung in der Nähe des Wirtshauses »Zum wohlfeilen Trank« stehen geblieben. Seit einer halben Stunde beobachtete er, wie die Bergleute zur Arbeit zurückkehrten, undeutlich im nächtlichen Dunkel, mit dem dumpfen Getrappel einer Herde ihres Weges ziehend. Er zählte sie wie der Metzger am Eingange des Schlachthauses die Tiere zählt; ihn überraschte ihre Zahl; er hatte selbst in seinem Pessimismus nicht vorausgesehen, daß die Zahl dieser Feiglinge so groß sein könnte. Der Zug dauerte noch immer an. Steif und kühl stand der Maschinist da mit klaren Augen und aufeinander gepreßten Zähnen.
Doch jetzt fuhr er zusammen. Unter den vorüberziehenden Männern, deren Gesichter er nicht unterscheiden konnte, hatte er einen an seinem Gange erkannt. Er trat näher und hielt ihn an.
»Wohin gehst du?«
Etienne war betroffen. Anstatt die Frage zu beantworten, stammelte er:
»Du bist noch nicht fort?«
Dann gestand er, daß er zur Grube zurückkehre. Gewiß, er habe geschworen; allein es sei kein Leben, mit verschränkten Armen auf Dinge zu warten, die vielleicht in hundert Jahren kommen würden; er habe überdies seine besonderen Gründe, die ihm veranlaßten, die Arbeit wiederaufzunehmen.
Bebend hatte Souvarine ihm zugehört; dann packte er ihn bei einer Schulter und stieß ihn zurück in der Richtung nach dem Dorfe.
»Geh« nach Hause; ich will es, hörst du?«
Doch als Katharina näher kam, erkannte er auch sie. Etienne wehrte sich und erklärte, er gestatte niemandem, über sein Verhalten zu urteilen. Die Augen des Maschinisten wanderten von dem Mädchen zu dem Kameraden, während er mit einer Gebärde plötzlicher Entmutigung einen Schritt zurücktrat. Wenn ein Mann ein Weib im Herzen hatte, dann war dieser Mann verloren, er mußte sterben. Vielleicht sah er in einer plötzlich auftauchenden Erscheinung seine Geliebte wieder, die in Moskau gehängt worden, dieses letzte Band, das ihn an die Menschen knüpfte; nachdem dieses zerschnitten war, hatte er seine Freiheit über das Leben anderer und sein eigenes Leben gewonnen.
»Geh!« sagte er einfach.
Etienne stand einen Augenblick verlegen da und suchte nach einem freundschaftlichen Worte, um nicht so von dem andern zu scheiden.
»Du reisest?«
»Ja.«
»So gib mir die Hand, Alter. Glückliche Reise und keinen Groll!«
Der andere reichte ihm eine eiskalte Hand. Weder Freund, noch Weib.
»Also, diesmal ein ernstliches Lebewohl!«
»Lebewohl!«
Suwarin, der unbeweglich im Dunkel stand, folgte mit den Blicken Etienne und Katharina, die den Voreuxschacht betraten.