Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Viertes Kapitel

Nachdem sie Rasseneurs Wirtshaus verlassen hatten, schritten Etienne und Katharina schweigend nebeneinander hin. Es begann das Tauwetter, ein kaltes, langsames Auftauen, das den Schnee beschmutzte, ohne ihn zu schmelzen. An dem fahlen Himmel barg sich der Vollmond kaum sichtbar hinter dichten Wolken, schwarzen Fetzen, die ein Sturm in unermeßlicher Höhe wütend dahinjagte. Auf der Erde wehte kein Hauch; man hörte nur den schmelzenden Schnee von den Dächern tropfen und zuweilen in größeren, weißen Massen mit weichem Fall herniederstürzen.

Verlegen angesichts dieses Weibes, das ihm aufgehalst worden, fand Etienne in seinem Unbehagen nichts zu sagen. Der Gedanke, sie mitzunehmen und bei sich im Réquillartschachte zu verbergen, schien ihm unsinnig. Er hatte sie nach dem Dorfe zu ihren Eltern führen wollen, aber sie hatte sich mit einer Miene des Entsetzens geweigert; nein, nein; alles eher, als ihnen zur Last fallen, nachdem sie sie so schmählich verlassen hatte. Keines von beiden sprach mehr; sie gingen aufs Geratewohl die Wege dahin, die das Tauwetter in Schmutzflüsse verwandelt hatte. Zuerst waren sie in der Richtung nach dem Voreux gegangen; dann wandten sie sich rechts und schritten zwischen dem Hügel und dem Kanal dahin.

»Du mußt doch irgendwo schlafen«, sagte er endlich. »Wenn ich nur eine Stube hätte, würde ich dich gern mitnehmen...«

Doch eine Regung seltsamer Scheu unterbrach ihn. Er erinnerte sich seiner und ihrer Vergangenheit, ihrer heftigen Begierden von ehemals, und der Scham und der Scheu, die sie hinderten, sich zu verbinden. Trug er denn noch immer Verlangen nach ihr, fragte er sich, daß er sich so verlegen, sein Herz von einem neuen Verlangen erwärmt fühlte? Die Erinnerung an die Maulschellen, die sie in Gaston-Marie ihm gegeben hatte, erregte ihn jetzt, anstatt ihn zu erzürnen. Er war überrascht von all diesen Empfindungen; der Gedanke, sie nach seinem Versteck in der Réquillartgrube mitzunehmen, schien ihm jetzt ganz natürlich und leicht durchführbar.

»Entschließe dich, wohin soll ich dich führen?... Mißachtest du mich denn, weil du dich weigerst, dich mit mir zu verbinden?«

Sie folgte ihm langsam und schwer, weil sie mit ihren Holzschuhen in den Fahrgeleisen immer ausrutschte. Ohne den Kopf zu heben, flüsterte sie:

»Ich habe Kummer genug, kränke mich nicht noch mehr Wohin würde dein Verlangen nunmehr führen, da ich einen Liebhaber habe und du eine Geliebte?«

Sie sprach von der Mouquette. Sie glaubte, er lebe mit diesem Mädchen, wie es seit zwei Wochen erzählt wurde; als er versicherte, daß es nicht wahr sei, schüttelte sie den Kopf, und erinnerte ihn an den Abend, da sie gesehen hatte, wie sie sich küßten.

»Wie schade um alle die Dummheiten!« hub er wieder an, indem er stehen blieb. »Wir würden uns so gut vertragen haben.«

Sie schauerte zusammen und antwortete dann:

»Bedaure es nicht, du hast nicht viel verloren. Wenn du wüßtest, wie hinfällig ich bin, nicht dicker als ein Stückchen Butter für zwei Sous und dabei so schlecht gebaut, daß ich niemals ein Weib werde, gewiß nicht!«

Sie beschuldigte sich in freimütigem Tone des langen Zögerns ihrer Mannbarkeit, als ob es ihr Vergehen sei. Trotzdem sie schon mit einem Manne lebte, ward sie dadurch kleiner, in die Reihe der Kinder zurückversetzt. Wenn man wenigstens ein Kind machen könne, habe man doch eine Entschuldigung.

»Arme Kleine!« sagte Etienne leise, von tiefem Mitleid ergriffen.

Sie befanden sich am Fuße des Hügels, in dem tiefen Schatten des riesigen Erdhaufens geborgen. Ein tiefschwarzes Gewölk zog eben am Monde vorüber; sie sahen ihre Gesichter nicht mehr; ihre Atemzüge flossen ineinander, und ihre Lippen suchten sich zu dem Kusse, dessen Verlangen sie ehemals monatelang gequält hatte. Doch plötzlich erschien der Mond wieder, und sie sahen über ihren Köpfen, hoch auf dem lichtübergossenen Gipfel die Schildwache vom Voreux kerzengerade stehen. Noch ehe sie sich geküßt, trennte sie ein Gefühl der Scham, jene Scham von ehemals, in die sich der Zorn mengte, ein unbestimmter Widerwille und sehr viel Freundschaft. Sie machten sich wieder auf den Weg, mühselig, bis zu den Knöcheln im Kote watend.

»Also ausgemacht, du willst nicht?« fragte Etienne.

»Nein«, sagte sie. »Du nach Chaval, wie? Und nach dir ein anderer... Nein, das ekelt mich; ich finde kein Vergnügen dabei, warum soll ich es tun?«

Sie schwiegen und gingen wieder etwa hundert Schritte, ohne ein Wort auszutauschen.

»Weißt du wenigstens, wohin du gehst?« fragte er dann. »Ich kann dich in einer solchen Nacht nicht auf der Straße lassen.«

Sie antwortete einfach: »Ich gehe nach Hause. Chaval ist mein Mann; ich habe nicht anderswo zu schlafen als bei ihm.«

»Aber er schlägt dich tot!«

Sie schwieg und zuckte nur ergeben mit den Achseln. Er werde sie prügeln, und wenn er müde sei, aufhören. Sei das nicht immer noch besser, als sich auf den Straßen herumzutreiben wie eine Metze? Übrigens sei sie an die Schläge gewöhnt und sage sich zu ihrem Troste, daß unter zehn Mädchen acht es nicht besser träfen als sie. Wenn ihr Liebhaber sie eines Tages zur Frau nehme, sei es von ihm ganz schön.

Etienne und Katharina hatte ihre Schritte mechanisch nach Montsou gelenkt. Je mehr sie sich dem Orte näherten, desto schweigsamer wurden sie. Es war, als seien sie gar nicht mehr beisammen. Er fand nichts mehr zu sagen, um sie zu überzeugen, trotzdem es ihn tief bekümmerte, sie zu Chaval zurückkehren zu sehen. Ihm brach das Herz, aber er hatte ihr nichts Besseres anzubieten; sein Leben war das erbärmliche Dasein eines Flüchtigen, eine Nacht ohne Morgen, wenn die Kugel eines Soldaten ihm den Kopf zerschmetterte. Vielleicht war es in der Tat klüger zu leiden, was man litt, ohne es mit einem anderen Leid zu versuchen. Er geleitete sie gesenkten Hauptes zu ihrem Liebehaber zurück und fand kein Wort des Widerspruches, als sie bei dem Werkshof in der Hauptstraße etwa zwanzig Meter von Piquettes Wirtshause stehen blieb und ihm sagte:

»Komm' nicht weiter. Wenn er dich sieht, gibt es wieder eine häßliche Geschichte.

Im Kirchturm schlug es elf Uhr; das Wirtshaus war geschlossen, aber durch die Ritzen der Türe sah man noch Licht.

»Lebewohl!« flüsterte sie.

Sie hatte ihm die Hand gereicht, und er behielt sie in der seinen, so daß sie ihm sie mit sanfter Gewalt entziehen mußte, un sich von ihm zu trennen. Ohne den Kopf zu wenden, trat sie durch die kleine Haustür. Aber er ging noch nicht fort, sondern blieb auf demselben Platze stehen, die Augen auf das Haus gerichtet, voll Angst, was drinnen geschehen mochte. Er spitzte die Ohren und zitterte, daß er das Geheul eines geprügelten Weibes hören könne. Das Haus blieb dunkel und still; er sah bloß ein Fenster des ersten Stockwerkes sich erhellen; und da dieses Fenster sich öffnete und er einen schmalen Schatten erkannte, der sich hinausbeugte, trat er näher.

Katharina flüsterte ganz leise:

»Er ist noch nicht heimgekehrt. Ich lege mich schlafen... Ich bitte dich, geh'.«

Etienne ging. Das Tauwetter nahm zu; ein Sturzregen ergoß sich von den Dächern; der Schweiß rann von den Mauern, von den Pfahlhecken, von allen den undeutlich sichtbaren, im Dunkel der Nacht verlornen Massen dieser Fabriksvorstadt. Zunächst lenkte er seine Schritte nach Réquillart, krank vor Ermüdung und Trauer, nur mehr von dem Bedürfnis erfüllt, unter der Erde zu verschwinden, dort zunichte zu werden. Dann erfaßte ihn wieder die Erinnerung an die Voreuxgrube; er dachte an die belgischen Arbeiter, die daselbst anfahren sollten, an die Kameraden aus dem Arbeitsdorfe, die gegen die Soldaten erbittert und entschlossen waren, keine Fremden in ihrer Grube zu dulden. Er ging von neuem längs des Kanals hin durch die Pfützen von geschmolzenem Schnee.

Als er bei dem Hügel ankam, schien der Mond sehr hell. Er erhob die Augen und blickte zum Himmel empor, an dem die Wolken dahin jagten, getrieben von dem Sturme, der dort oben wütete und sie in weiße Fetzen zerriß, ganz dünn, von der unklaren Durchsichtigkeit trüben Wassers auf der Oberfläche des Mondes; sie folgten einander so schnell, daß das Gestirn bald verhüllt war, bald wieder in seiner vollen Klarheit hervortrat.

Den Blick von diesem reinem Lichte erfüllt, senkte Etienne das Haupt, als ein Schauspiel auf dem Gipfel des Hügels seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Starr von Kälte ging jetzt die Schildwache auf und ab, fünfundzwanzig Schritte in der Richtung nach Marchiennes und dann fünfundzwanzig in der Richtung nach Montsou. Man sah das Bajonett blitzen oberhalb dieser Schattengestalt, die sich vom fahlen Nachthimmel scharf abzeichnete. Was den jungen Mann hauptsächlich interessierte, war, daß er hinter der Steinhütte, in welcher der alte Bonnemort in stürmischen Nächten Schutz zu suchen pflegte, einen beweglichen Schatten sah, etwas wie ein kriechendes Tier auf der Lauer; Etienne erkannte in dem Schatten sofort Johannes an seinem langen, dürren Rückgrat. Die Schildwache konnte ihn nicht bemerken. Die Höllenrange hatte gewiß einen schlimmen Streich vor; denn er kam aus dem Zorn gegen die Soldaten nicht heraus und fragte immer, wann man diese Mörder los sein werde, die man mit Flinten aussende, um die Menschen zu töten.

Etienne schwankte einen Augenblick, ob er ihn anrufen solle, um ihn zu hindern, eine Dummheit zu begehen. Der Mond hatte sich verborgen; er sah den Jungen niederhocken, wie zum Sprung bereit; doch der Mond kam wieder zum Vorschein, und der Junge verblieb in seiner hockenden Stellung. Bei jeder Wendung kam die Schildwache bis zu der steinernen Hütte, machte dann kehrt und ging wieder ab. Plötzlich –- als wieder ein Gewölk den Mond verdunkelte –- sprang Johannes mit dem ungeheuren Satz einer Wildkatze dem Soldaten auf die Schultern, hakte sich dort fest und stieß ihm das offen gehaltene Messer in den Hals. Die härene Halsbinde leistete Widerstand, der Junge mußte mit beiden Händen auf das Heft drücken und mit dem ganzen Gewichte seines Körpers sich daran hängen. Oft hatte er Hühner geschlachtet, die er hinter den Pachthöfen abgefangen. Das Ganze spielte sich so schnell ab, daß man nur einen unterdrückten Schrei in der Stille der Nacht hörte, während das Gewehr klirrend zu Boden fiel. Schon leuchtete der Mond wieder ganz hell.

Starr vor Entsetzen schaute Etienne noch immer. Der Anruf erstarb in der Tiefe seiner Brust. Der Hügel oben war leer; kein Schatten hob sich mehr von der scheuen Flucht der Wolken ab. Er eilte hinan und fand Johannes auf allen Vieren neben der Leiche, die mit ausgebreiteten Armen rücklings lag. In dem hellen Mondschein hoben sich das rote Beinkleid und die graue Kapuze von dem weißen Schnee scharf ab. Kein Tropfen Blut war geflossen; das Messer stak noch bis zum Heft im Halse.

Mit einem wütenden Faustschlage streckte er den Jungen zu Boden, daß er neben die Leiche hinfiel.

»Warum hast du das getan?« stammelte er außer sich.

Johannes raffte sich auf, kroch auf den Händen fort mit einem katzenartigen Anschwellen seines mageren Rückens; seine breiten Ohren, seine grünen Augen, seine vorspringenden Kinnladen zitterten und flammten noch in der Erschütterung seiner Missetat.

»Donner Gottes, warum hast du das getan?«

»Ich weiß nicht; ich hatte das Verlangen.«

Er beharrte bei dieser Antwort. Seit drei Tagen hatte er dieses Verlangen. Es quälte ihn; der Kopf tat ihm weh davon, da, hinter den Ohren, so beharrlich dachte er daran. Hatte man diese Saukerle von Soldaten zu schonen, welche die Bergleute in ihrem eigenen Heim belästigten? Von den heftigen Reden im Walde; von den Rufen nach Verwüstung und Tod, welche durch die Gruben hallten, waren ihm fünf oder sechs Worte im Schädel geblieben, die er immerfort wiederholte, wie ein Straßenjunge, der »Revolution« spielt.

Mehr wußte er nicht; niemand hatte ihn gedrängt; es war ihm ganz von selbst gekommen, etwa wie ihm die Lust kam, von einem Felde Zwiebeln zu stehlen.

Entsetzt über dieses dumpfe Entstehen des Verbrechens in diesem Kinderschädel versetzte er ihm noch einen Fußtritt wie einem unbewußt handelnden Tiere. Er zitterte, daß der in der Voreuxgrube aufgestellte Militärposten den unterdrückten Schrei der Schildwache gehört haben könne; jedesmal, wenn der Mond hervortrat, warf er einen ängstlichen Blick nach der Grube. Aber es hatte sich nichts gerührt; und er neigte sich vor, betastete die allmählich erstarrenden Hände, horchte nach dem Schlage des stille stehenden Herzens des ermordeten Soldaten. Man sah von dem Messer nichts als das Heft, in welches das Wort »Liebe« in schwarzen Buchstaben eingraviert war.

Vom Halse wandten sich seine Blicke zum Gesichte und er erkannte den kleinen Soldaten Julius, den Rekruten, mit dem er eines Morgens geplaudert hatte. Tiefes Mitleid erfaßte ihn beim Anblicke dieses blonden, mit rötlichen Sommerflecken übersäeten Gesichtes. Die blauen Augen standen weit offen und schauten zum Himmel empor mit jenem starren Blick, mit dem er neulich am Horizonte seine Heimat gesucht hatte. Wo war jenes Plogoff, das gleichsam in blendendem Sonnenschein vor ihm aufgetaucht war? Weit, weit. Das Meer heulte fern in dieser sturmbewegten Nacht. Der Wind, der so hoch dahinfuhr, war vielleicht auch über das kahle Küstenland hinweggestrichen, wo der kleine Soldat zu Hause war. Dort standen zwei Frauen, die Mutter und die Schwester, hielten ihre Hauben fest, damit der Wind sie nicht entführe, und schauten gleichfalls in die Ferne, als hätten sie sehen können, was der kleine Soldat zu dieser Stunde machte jenseits der hunderte von Meilen, die sie trennten. Sie würden lange, lange auf ihn warten können. Wie abscheulich ist es, wenn die Armen untereinander sich für die Reichen töten!

Doch die Leiche mußte fortgeschafft werden. Etienne dachte zuerst daran, sie in den Kanal zu werfen. Die Gewißheit, daß man sie dort finde, brachte ihn davon wieder ab. Da geriet er in die höchste Angst; die Minuten drängten; welchen Entschluß sollte er fassen? Er hatte eine plötzliche Eingebung: wenn er die Leiche bis zur Réquillartgrube schaffen könnte, so wüßte er sie daselbst für immer zu vergraben.

»Komm' her!« sagte er zu Johannes.

Der Junge traute ihm nicht.

»Nein, du willst mich prügeln. Überdies habe ich zu tun. Gute Nacht!«

In der Tat hatte er mit Bebert und Lydia ein Stelldichein verabredet in einem Versteck, einem Loche, das sie unter den Holzvorräten der Voreuxgrube sich zurechtgemacht hatten. Es war ein Ausflug zwischen den drei Kindern vereinbart worden; sie wollten die Nacht über von Hause ausbleiben, um dabei zu sein, wie die belgischen Arbeiter bei der Anfahrt mit Steinen beworfen würden.

»Komm' hierher,« wiederholte Etienne, »oder ich rufe die Soldaten, die dir den Kopf abschneiden.«

Als Johannes sich entschloß, rollte er sein Taschentuch zusammen und band es fest um den Hals des Soldaten, ohne das Messer herauszuziehen, das den Blutfluß hinderte. Der Schnee schmolz, und man sah auf dem Boden weder eine rote Pfütze, noch die Spuren eines Gestampfes, die ein Ringen verraten hätten.

»Fasse ihn an den Beinen.«

Johannes faßte den toten Soldaten bei den Beinen, Etienne bei den Schultern, nachdem sie das Gewehr auf seinem Rücken befestigt hatten. Langsam stiegen sie mit ihrer Last den Hügel hinab und achteten sorgfältig darauf, daß die Steine nicht ins Rollen gebracht wurden. Glücklicherweise hatte der Mond sich wieder verhüllt; aber als sie längs des Kanals forteilten, erschien er wieder in seiner vollen Klarheit. Es war ein Wunder, wenn der Militärposten sie nicht sah. Schweigend beschleunigten sie ihre Schritte, gehindert durch das Schaukeln des Leichnams und genötigt, alle hundert Meter die Last auf den Boden zu legen, um sich ein wenig zu verschnaufen. An der Ecke des Réquillartgäßchens hörten sie ein Geräusch, das ihnen das Blut in den Adern erstarren ließ; sie hatten knapp Zeit, sich hinter einer Mauer zu verbergen, um nicht einer Patrouille in die Hände zu fallen. Weiterhin wurden sie durch einen Mann überrascht; doch dieser war berauscht und entfernte sich unter Verwünschungen. Endlich kamen sie bei der alten Grube an, schweißbedeckt und dermaßen verstört, daß ihre Zähne klapperten.

Etienne hatte richtig vermutet, daß es nicht leicht sein werde, den Leichnam durch den Schacht der Steigleitern hinunterzuschaffen. Es war eine furchtbar mühselige Arbeit. Vor allem mußte Johannes, der oben blieb, den Körper hinabgleiten lassen, während Etienne, an dem Gestrüpp hängend, neben ihm blieb, um ihm über die ersten zwei Absätze hinwegzuhelfen, wo einzelne Sprossen gebrochen waren. Dann mußte er bei jeder Leiter dasselbe Manöver von vorne beginnen, voraus hinabsteigen und den Körper in seinen Armen auffangen; das ging so über dreißig Leitern, zweihundertundzehn Meter tief, und auf jeder Leiter fühlte er immer wieder den Körper auf sich niederfallen, wobei das Gewehr seinen Rücken bearbeitete. Er hatte nicht zugegeben, daß der Knabe das Stückchen Kerze hole, mit dem er geizte. Wozu denn auch? Das Licht wäre ihnen nur hinderlich in diesem engen Schlund. Doch als sie atemlos im Auffahrtssaale angekommen waren, schickte er den Kleinen die Kerze holen. Er setzte sich nieder und erwartete ihn im Finstern neben der Leiche mit stürmisch pochendem Herzen.

Als Johannes mit dem Lichte erschien, beriet sich Etienne mit ihm; denn der Knabe hatte diese alten Gänge durchforscht bis zu den geheimsten Spalten, wohin kein erwachsener Mann vordringen konnte. Sie setzten ihren Weg fort und schleppten den Toten durch eine Unzahl verfallener Galerien noch fast einen Kilometer weit. Endlich gelangten sie an eine Stelle, wo die Wölbung sich tief herabsenkte, so daß sie sich auf den Knien fortbewegten unter einem Rutschfelsen, der mit halb geborstenen Hölzern gestützt war. Es war eine Art langer Kiste, in die sie den kleinen Soldaten wie in einen Sarg betteten. Sie legten das Gewehr ihm zur Seite, dann stießen sie mit den Stiefelabsätzen gegen die Hölzer, daß sie vollends zerbrachen, auf die Gefahr hin, selbst die Knochen dabei zu lassen. Sogleich barst der Felsen; sie hatten knapp Zeit, auf allen Vieren hinwegzukriechen. Als Etienne sich umwandte, weil er sehen wollte, was geschah, dauerte die Senkung des Gewölbes fort; die ungeheure Last zermalmte allmählich den Leichnam; nichts blieb mehr übrig, nichts als die dichte Erdmasse.

Als Johannes in seine Verbrecherhöhle zurückgekehrt war, streckte er sich auf seinem Heulager aus und brummte von Müdigkeit übermannt:

»Die Rangen sollen warten; ich will ein Stündchen schlafen.«

Etienne hatte die Kerze ausgelöscht, von der nur noch ein kleines Stückchen übriggeblieben war. Auch er war wie gebrochen, fühlte aber keinen Schlaf; schmerzliche Gedanken arbeiteten in seinem Schädel wie mit Hammerschlägen. Von allen blieb bald nur ein einziger übrig und quälte und ermüdete ihn mit einer Frage, auf die er keine Antwort wußte: warum hatte er den Chaval nicht niedergemacht, als er ihn unter seinem Messer hatte? Warum hatte dieser Knabe einen Soldaten umgebracht, der ihm völlig unbekannt war, dessen Namen er nicht einmal wußte? Dies warf alle seine revolutionären Glaubenssätze um: den Mut zu töten, das Recht zu töten. Sollte er feige sein? Der Knabe auf seinem Heulager hatte zu schnarchen begonnen; es war das Schnarchen eines Betrunkenen, als schlafe er seinen Mordrausch aus. Etienne fühlte sich gereizt und angewidert, weil er ihn da wußte, da hörte. Plötzlich schauerte er zusammen: der Hauch der Furcht war ihm über das Gesicht gefahren. Ein leichtes Streifen, ein Schluchzen schien ihm aus den Tiefen der Erde hervorzukommen. Das Bild des kleinen Soldaten, der mit seinem Gewehr da unter den Felsen lag, ließ sein Rückgrat zu Eis erstarren und seine Haare sich sträuben. Es war unsinnig: die ganze Grube füllte sich mit Stimmen; er mußte die Kerze wieder anzünden und beruhigte sich erst, als er bei dem fahlen Schein die leeren Galerien sah.

Noch eine Viertelstunde saß er nachdenklich da, immer von dem nämlichen Kampfe durchrüttelt, die Augen starr auf die brennende Kerze gerichtet. Doch endlich gab es ein leises Knistern, der Docht erlosch und alles versank wieder in Finsternis. Er fröstelte und hätte Johannes ohrfeigen mögen, um ihn zu hindern, daß er so stark schnarche. Die Nähe des Knaben ward ihm so unerträglich, daß er von einem Bedürfnisse nach frischer Luft gequält, durch die Galerien und durch den Schacht eilte, als jage ein Schatten hinter ihm her.

Oben inmitten der Trümmer der Réquillartgrube konnte Etienne endlich mit voller Lunge Atem schöpfen. Da er nicht zu töten wagte, war es an ihm zu sterben; dieser Todesgedanke, der ihn schon einmal gestreift, tauchte jetzt wieder auf und setzte sich wie eine letzte Hoffnung in seinem Schädel fest. Wenn er einen tapfern Tod fände, für die Revolution fiele, dann wäre alles aus, seine Rechnung abgeschlossen, – gleichviel ob ihm Gutes oder Schlimmes beschieden war – und er würde nimmer zu denken haben. Wenn seine Kameraden die belgischen Arbeiter angreifen sollten, wollte er in der ersten Reihe stehen und werde wohl das Glück haben, eine tödliche Kugel wegzubekommen. Festen Schrittes kehrte er zur Voreuxgrube zurück, um dort Umschau zu halten. Es schlug zwei Uhr, und ein großer Lärm kam aus dem Aufseherzimmer, wo der Militärposten kampierte. Das Verschwinden der Schildwache hatte den Posten in die größte Bestürzung versetzt; man hatte den Kapitän geweckt, und nach einer sorgfältigen örtlichen Untersuchung glaubte man an eine Fahnenflucht. Etienne stand im Dunkel auf der Lauer und erinnerte sich, von dem kleinen Soldaten gehört zu haben, daß der Kapitän ein Republikaner sei. Wer weiß, ob man ihn nicht bestimmen könnte, zum Volke überzugehen? Die Truppe könnte die Gewehre umkehren, und dies wäre das Signal zur Niedermetzelung der Spießbürger. Ein neuer Traum riß ihn fort; er dachte nicht mehr ans Sterben; er blieb stundenlang da im Schmutz, den Schauer des Tauwetters in den Schultern fühlend, fieberhaft erregt durch die Hoffnung auf einen noch möglichen Sieg.

Bis fünf Uhr spähte er nach den belgischen Arbeitern. Dann merkte er, daß die Gesellschaft die List gebraucht hatte, sie in der Voreuxgrube übernachten zu lassen. Jetzt begann die Anfahrt. Die wenigen Streikenden aus dem Dorfe der Zweihundertundvierzig, die man als Kundschafter aufgestellt hatte, zögerten, die Kameraden zu benachrichtigen. Er selbst benachrichtigte sie von dem feinen Streich, und sie eilten herbei, während er hinter dem Hügel auf dem Schleppwege wartete. Es schlug sechs Uhr; der fahle Morgenhimmel rötete sich, als der Abbé Ranvier, die Sutane über seine mageren Beine emporhebend, auf einem Seitenpfade erschien. Jeden Montag las er die Frühmesse in einer Klosterkapelle, die jenseits der Kohlengrube lag.

»Guten Morgen, mein Freund!« rief er mit kräftiger Stimme, nachdem er mit seinen Flammenaugen den jungen Mann betrachtet hatte.

Aber Etienne antwortete nicht. In der Ferne hatte er zwischen den Gerüsten der Voreuxgrube eine Frauensperson vorüberkommen sehen und eilte, von Unruhe ergriffen, hinzu, weil er Katharina erkannt zu haben glaubte.

Seit Mitternacht trieb sich Katharina auf den vom Tauwetter aufgelösten Straßen herum. Als Chaval bei seiner Heimkehr sie im Bette gefunden, hatte er mit einem Backenstreiche sie auf die Beine gebracht. Er rief ihr zu, sie solle sogleich durch die Tür flüchten, wenn sie nicht zum Fenster hinausfliegen wolle; weinend, nur halb bekleidet, mit Fußtritten verfolgt, hatte sie sich entfernen müssen. Völlig betäubt von dieser rohen Trennung hatte sie sich auf einen Eckstein gesetzt und nach dem Hause hingesehen in der Erwartung, daß er sie zurückrufen werde; denn sie hielt alldies für unmöglich und glaubte fest, er spähe nach ihr und werde ihr zurufen, sie möge wieder heraufkommen, wenn er sie so sehe, vom Nachtfrost geschüttelt, einsam, von aller Welt verlassen.

Nach Verlauf von zwei Stunden faßte sie einen Entschluß, weil sie schier erfror in der Unbeweglichkeit eines auf die Straße gejagten Hundes. Sie verließ Montsou, kehrte wieder um und kämpfte mit sich selbst, ob sie von der Straße aus ihrem Liebhaber zurufen oder an die Tür klopfen solle. Aber sie fand nicht den Mut dazu. Endlich ging sie auf der geraden Heerstraße fort mit dem Gedanken, zu ihren Eltern zurückzukehren. Doch als sie im Dorfe ankam, ward sie von einer solchen Scham ergriffen, daß sie längs der Vorgärten dahinlief aus Furcht, von jemandem erkannt zu werden, trotzdem das ganze Dorf hinter den geschlossenen Fensterläden im Schlafe lag. Seither irrte sie herum, vom geringsten Geräusch erschreckt, zitternd vor Angst, daß man sie ergreifen und als Landstreicherin nach Marchiennes in jenes öffentliche Haus bringen könne, dessen Gespenst ihr seit Monaten drohte. Zweimal war sie in die Nähe der Voreuxgrube gekommen und, erschreckt durch die lauten Stimmen des Militärpostens, wieder atemlos davongelaufen, wobei sie sich mehrmals umsah, ob man sie nicht verfolge. Das Réquillartgäßchen war immer voll Betrunkener; sie kehrte dennoch dahin zurück in der unbestimmten Hoffnung, dort den zu treffen, den sie einige Stunden früher abgewiesen hatte.

Chaval sollte diesen Morgen anfahren, und dieser Gedanke führte Katharina wieder zur Grube zurück, wenngleich sie fühlte, daß es nutzlos sei, mit ihm zu reden. Zwischen ihnen war alles aus. In Jean-Bart ward nicht mehr gearbeitet, und er hatte geschworen, sie zu erwürgen, wenn sie wieder im Voreux Arbeit nehme, wo er durch sie bloßgestellt zu werden fürchtete. Was sollte sie anfangen? Anderswohin gehen, Hunger leiden, den Roheiten aller Männer unterliegen, denen sie begegnen würde? Mit todmüden Beinen schleppte sie sich in den Pfützen der Straße fort, beschmutzt bis an den halben Rücken. Das Tauwetter hatte die Straßen in Ströme von Morast verwandelt; sie drohte darin zu versinken, wankte aber dennoch immer weiter, immer weiter, und wagte nicht, einen Stein zu suchen, um darauf einen Augenblick auszuruhen.

Der Tag brach an. Katharina hatte eben den Rücken Chavals erkannt, der vorsichtig den Umweg um den Hügel machte, als sie Lydia und Bebert wahrnahm, die ihre Nasen aus ihrem Versteck unter dem Holzvorrat hervorsteckten. Sie hatten daselbst die ganze Nacht auf der Lauer gelegen und nicht gewagt heimzukehren, weil Johannes ihnen befohlen hatte, ihn zu erwarten; während dieser in der Réquillartgrube seinen Mordrausch ausschlief, hatten die beiden Kinder sich mit den Armen umschlungen, um weniger zu frieren. Der Wind pfiff zwischen den Stangen von Kastanien- und Eichenholz; sie verkrochen sich wie in einer verlassenen Köhlerhütte. Lydia wagte nicht, laut ihre Leiden eines geprügelten Liebchens zu erzählen, und auch Bebert fand nicht den Mut, sich über die Maulschellen des »Führers« zu beklagen, von denen seine Backen schwollen; aber schließlich mißbrauchte dieser gar zu sehr seine Macht, indem er sie zwang, in tollkühnen Raubzügen ihre Knochen zu riskieren, und nachher sich weigerte, mit ihnen zu teilen. Ihr Herz empörte sich, und sie küßten sich schließlich trotz des Verbotes auf die Gefahr hin, von dem Unsichtbaren Maulschellen zu erhalten, wie er ihnen gedroht hatte. Als die Maulschelle nicht kam, fuhren sie fort, sich herzlich zu küssen, ohne an etwas anderes zu denken, in diese Liebkosung ihre ganze, so lange Zeit unterdrückte Leidenschaft, ihr ganzes Martyrium und ihre ganze Zärtlichkeit legend. So hatten sie die ganze Nacht hindurch sich erwärmt, glücklich in diesem weltverlorenen Loche, daß sie sich nicht erinnerten, selbst am Sankt-Barbara-Feste glücklicher gewesen zu sein, an dem man Törtchen aß und Wein trank.

Plötzlich ertönende Hornstöße ließen Katharina erschreckt zusammenfahren. Sie richtete sich in die Höhe und sah den Militärposten vom Voreux Gewehr in Arm antreten. Etienne eilte herbei; Bebert und Lydia sprangen mit einem Satze aus ihrem Versteck hervor. Dort hinten stieg im wachsenden Tageslichte unter zornigen Gebärden eine Schar Männer und Weiber vom Dorfe hernieder.


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