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Am letzten Sonntag des Monates Juli fand in Montsou das große Bergmannsfest statt. Schon Samstag abends scheuerten die Hausfrauen die Wohnstube; es gab hierbei eine wahre Sintflut, das Wasser wurde in großen Mengen über die Fliesen und an die Wände geschleudert; und der Fußboden war noch nicht trocken trotz des weißen Sandes, womit er bestreut worden. Es war ein großer Luxus für diese armen Leute. Der Tag kündete sich sehr heiß an; der Himmel war gewitterschwül, die Luft drückend, wie es zur Sommerszeit in den flachen Landschaften Nordfrankreichs häufig vorkommt.
In der Familie Maheu beobachtete man wegen des Sonntags nicht so genau die Stunde des Aufstehens. Den Vater litt es schon um fünf Uhr nicht mehr im Bette, und er kleidete sich an; die Kinder hingegen schliefen bis neun Uhr. Heute ging Maheu in den Garten seine Pfeife rauchen und kehrte schließlich heim, um allein die Butterschnitte zu essen, bis die Kinder kommen würden. So verbrachte er den Vormittag, ohne recht zu wissen womit; er besserte den Bottich aus, der das Wasser durchließ, und klebte ein Bild des kaiserlichen Prinzen, das man den Kleinen geschenkt hatte, an die Kuckucksuhr. Mittlerweile kamen auch die anderen einzeln herunter; der Vater Bonnemort hatte einen Stuhl vor die Tür gestellt, um sich an die Sonne zu setzen; die Mutter und Alzire hatten sich beide in der Küche zu schaffen gemacht. Katharina erschien mit Leonore und Heinrich, die sie soeben angekleidet hatte; es schlug schon elf Uhr, und der Geruch des Kaninchens, das mit Kartoffeln gebraten wurde, erfüllte das ganze Haus, als endlich Zacharias und Johannes als letzte herunterkamen, gähnend, mit vom Schlafe trüben Augen.
Das ganze Dorf war auf den Beinen, erfüllt von der Festesfreude und das Mittagessen beschleunigend, damit man sobald wie möglich nach Montsou abkommen könne. Scharen von Kindern trieben sich auf den Straßen herum; Männer in Hemdärmeln ergingen sich mit der Gemächlichkeit, die man sich an Ruhetagen gönnen durfte. Türen und Fenster standen bei dem schönen Wetter weit offen und gestatteten einen Einblick in die lange Zeile von Wohnstuben, wo die Familien in geräuschvollem Leben sich tummelten. Von einem Ende der Häuserreihe bis zum andern roch es nach Kaninchen; dieser Duft der wohlbestellten Küchen verdrängte heute den eingenisteten Geruch von geschmorten Zwiebeln.
Schlag zwölf Uhr aßen die Maheu zu Mittag. Sie machten wenig Lärm inmitten des Geräusches der Nachbarn, wo die Weiber miteinander plauderten, sich verschiedene Gegenstände des Hausrates liehen und wiedergaben, wo es ein ewiges Fragen und Antworten gab, wo die Kinder angerufen oder mit einem Klaps auf den Hintern heimgejagt wurden. Sie lebten übrigens seit drei Wochen auf gespanntem Fuße mit der Familie Levaque; die Ursache war die Angelegenheit der Heirat zwischen Zacharias und Philomene. Die Männer verkehrten wohl miteinander; die Frauen aber taten, als kennten sie einander nicht. Diese Entzweiung hatte die Beziehungen zu Frau Pierron noch enger gestaltet. Heute hatte Frau Pierron die Sorge für ihren Mann und für Lydia ihrer Schwiegermutter überlassen und war am frühen Morgen nach Marchiennes gegangen, um den Tag bei einer Base zuzubringen. Darüber ward viel Spaß getrieben, denn man kannte die Base: sie hatte einen Schnurrbart und war Oberaufseher im Voreuxschachte. Frau Maheu erklärte, es sei nicht anständig, an einem solchen Festtage seine Familie im Stiche zu lassen.
Außer dem Kaninchen, das die Familie Maheu seit einem Monat im Schuppen gemästet hatte, gab es heute noch eine Fleischbrühe und Rindfleisch zu Tische. Der Halbmonatslohn war gestern fällig geworden. Seit Menschengedenken hatte man nicht so herrlich gespeist. Selbst am letzten Barbarafeste, der großen Feier der Bergleute, die immer ein dreitägiges Nichtstun mit sich bringt, war das Kaninchen nicht so fett und zart gewesen. Die zehn Paar Kinnladen – angefangen bei der kleinen Estelle, deren Zähne schon zum Vorschein kamen, bis zum alten Bonnemort, der die seinen schon zu verlieren begann – arbeiteten denn auch mit einem solchen Eifer, daß selbst die Knochen verschwanden. Das Fleisch war gut, aber sie verdauten es schwer, weil sie nur selten welches aßen. Alles wurde weggeputzt; es blieb nichts übrig als ein Stück Rindfleisch für den Abend; sollte man Hunger haben, werde man Butterbrot dazu essen.
Johannes verschwand zuerst. Bebert erwartete ihn hinter der Schule. Sie schlichen da lange herum, bis es ihnen gelang, Lydia mitzulocken, welche die Brulé zu Hause behalten wollte. Als sie die Flucht des Kindes gewahr wurde, heulte sie und fuchtelte mit den mageren Armen, während Pierron, dieses Getöses überdrüssig, ruhig spazierenging mit der Miene eines Gatten, der sich ohne Gewissensbisse der Unterhaltung hingibt, weil er weiß, daß auch seine Frau ihr Vergnügen hat.
Als zweiter brach Vater Bonnemort auf; dann entschloß sich auch Maheu, ins Freie zu gehen, nachdem er seine Frau gefragt, ob sie nachkommen werde. Nein, sie konnte nicht; es sei eine rechte Last mit den kleinen Kindern; vielleicht werde sie sich es noch überlegen, man werde sich schon wiederfinden. Als er draußen war, zögerte er eine Weile, dann trat er bei den Nachbarn ein, um zu sehen, ob Levaque bereit sei. Hier fand er Zacharias, der auf Philomene wartete. Die Levaque begann sogleich die ewige Klage wegen der Hochzeit; man halte sie zum besten, schrie sie, und sie werde sich noch ein letztes Mal mit der Maheu auseinandersetzen. Sei das ein Leben, die vaterlosen Kinder der Tochter bei sich zu haben, während diese sich mit dem Liebhaber herumwälze! Inzwischen hatte Philomene ruhig ihre Haube aufgesetzt, und Zacharias führte sie hinweg, indem er erklärte, er sei bereit zu heiraten, wenn seine Mutter einwillige. Levaque war übrigens schon fort; Maheu wies die Nachbarin an seine Frau und beeilte sich gleichfalls fortzukommen. Bouteloup, der mit beiden Ellbogen auf dem Tische ein Stück Käse verzehrte, lehnte hartnäckig einen ihm angebotenen Schoppen Bier ab. Er bleibe zu Hause, wie es sich für einen guten Ehemann gezieme.
Allmählich leerte sich das Dorf; die Männer gingen fort, einer nach dem andern. Die Mädchen spähten auf den Türschwellen nach ihren Liebsten aus und schlugen an ihrem Arm in einer andern Richtung den Weg nach Montsou ein. Als Katharina ihren Vater um die Ecke der Kirche biegen sah, beeilte sie sich, Chaval einzuholen, der sie gleichfalls nach Montsou führte. Als die Mutter mit ihren Kleinen allein geblieben war, hatte sie nicht die Kraft, sich von ihrem Stuhl zu erheben; sie goß sich ein zweites Glas Kaffee ein, das sie in kleinen Schlucken leerte. Im Dorfe waren nur mehr die Weiber zu Hause, die sich gegenseitig einluden und den letzten Rest des Kaffees an den noch warmen, fettigen Mittagstischen tranken.
Maheu vermutete, daß Levaque bei Rasseneur sein müsse, und begab sich langsamen Schrittes dahin. In der Tat fand er Levaque mit mehreren Kameraden bei einer Kegelpartie in dem hinter dem Wirtshause gelegenen schmalen Gärtchen. Vater Bonnemort und der alte Mouque standen dabei und folgten dem Lauf der Kugel, dermaßen vertieft, daß sie vergaßen, sich mit dem Ellbogen anzustoßen. Die Sonne sandte senkrecht ihre heißen Strahlen nieder; nur längs der Schenke war ein schmaler Streif Schatten. Auch Etienne war da, trank an einem Tische seinen Schoppen und war verdrossen, daß Suwarin ihn eben verlassen hatte, um nach seiner Stube hinaufzugehen. Fast jeden Sonntag schloß der Maschinist sich ein, um zu schreiten oder zu lesen.
»Spielst du mit?« fragte Levaque Maheu.
Dieser lehnte ab; ihm sei zu heiß, und er vergehe schier vor Durst.
»Rasseneur, einen Schoppen!« rief Etienne.
Zu Maheu gewendet, fügte er hinzu:
»Den zahle ich.«
Jetzt duzten sich alle untereinander. Rasseneur beeilte sich nicht, man mußte ihn dreimal rufen; schließlich brachte Frau Rasseneur ein warmes Bier. Der junge Mann hatte die Stimme gedämpft, um sich über das Haus zu beklagen; es seien brave, wohlgesinnte Leute, aber das Bier sei schlecht und die Suppen abscheulich! Er wäre schon zehnmal weggegangen, wenn er den weiten Weg nach Montsou nicht scheute. Er würde früher oder später bei einer Familie im Dorfe Unterkunft suchen.
»Gewiß, in einer Familie bist du besser versorgt«, sagte Maheu in seiner bedächtigen Art.
Doch jetzt erklang lautes Geschrei: Levaque hatte alle neun geschoben. Mouque und Bonnemort schauten unverwandt zu Boden; inmitten des allgemeinen Tumultes verharrten sie in ihrem stummen Beifall. Die Freude über den glücklichen Wurf äußerte sich in allerlei Scherzen, besonders als die Spieler das heitere Gesicht der Mouquette jenseits der Hecke erblickten. Seit einer Stunde lungerte sie hier herum; bei dem lauten Gelächter wagte sie sich näher heran.
»Wie, du bist allein?« schrie Levaque. »Und deine Liebhaber?«
»Meine Liebhaber habe ich zum Teufel geschickt; ich suche jetzt einen«, antwortete sie mit frechem Gelächter.
Alle boten sich an, redeten ihr in derben Worten zu.
Doch sie schüttelte den Kopf, lachte immer stärker und zierte sich. Ihr Vater stand dabei, unbekümmert um die ganze Szene, und ohne die Blicke von den umgeworfenen Kegeln wegzuwenden.
»Geh', geh'« fuhr Levaque fort, einen Blick auf Etienne werfend, »man weiß wohl, nach wem du angelst, mein Kind ... Du mußt ihm Gewalt antun.«
Das erheiterte Etienne. In der Tat verfolgte ihn die Schlepperin. Er weigerte sich; die Sache machte ihm Spaß, aber er hatte kein Verlangen nach ihr. Einige Minuten blieb sie noch hinter der Hecke stehen und blickte mit ihren großen Augen ihn starr an; dann entfernte sie sich langsam mit plötzlich verdüstertem Antlitz, gleichsam niedergedrückt durch die sengende Hitze.
Etienne wandte sich wieder Maheu zu und fuhr fort, ihm halblaut die Notwendigkeit der Gründung einer Aushilfskasse für die Bergleute von Montsou auseinanderzusetzen.
»Die Gesellschaft erklärt, daß sie uns volle Freiheit lasse; wir haben also nichts zu fürchten, wiederholte er. Wir haben nichts als ihre Ruhegehälter, und diese bemißt sie nach ihrem Belieben, da sie keine Pensionsabzüge macht. Wir sind demnach von ihrem guten Willen abhängig; so empfiehlt die Vorsicht, einen Verein zu gegenseitiger Unterstützung zu gründen, auf die wir im Falle eines dringenden Bedarfes wenigstens sicher rechnen können.«
Er führte die Einzelheiten aus, erläuterte die Organisation, versprach, alle Mühe auf sich zu nehmen.
»Ich bin dabei,« sagte Maheu endlich überzeugt; »suche die anderen zu bestimmen.«
Levaque hatte gewonnen; man ließ das Kegelspiel und wandte sich dem Bier zu. Allein Maheu weigerte sich, einen zweiten Schoppen zu trinken; man werde später sehen, sagte er, der Tag sei noch nicht zu Ende. Er hatte eben an Pierron gedacht. Wo konnte Pierron sein? Ohne Zweifel in Lenfants Schenke. Er überredete Etienne und Levaque, und alle drei brachen nach Montsou auf, gerade in dem Augenblicke, da eine neue Partie die Kegelbahn in Besitz nahm.
Unterwegs mußte man in Casimirs Weinstube und später im Wirtshause »Zum Fortschritt« Halt machen. Kameraden riefen sie durch die offenen Türen; es war nicht möglich, nein zu sagen. Jedesmal einen Schoppen, und wenn sie aus Höflichkeit ebenfalls einen zahlten, dann waren es zwei. Sie blieben zehn Minuten, tauschten einige Worte aus, dann gingen sie weiter und kehrten gelegentlich wieder ein ganz nüchtern, das Bier kennend, mit dem sie sich füllen konnten ohne andern Nachteil, als daß man es bald wieder auspissen mußte, hell wie Quellwasser. In der Schenke Lenfants fanden sie Pierron, der seinen zweiten Schoppen trank und, um mit ihnen anzustoßen, auch einen dritten nicht zurückwies. Sie waren jetzt ihrer vier und brachen auf, um zu sehen, ob Zacharias nicht in Tisons Schenke sei. Die Wirtsstube war leer; sie verlangten einen Schoppen, um eine Weile auf ihn zu warten. Dann dachten sie an die Schenke Saint-Eloi, nahmen daselbst von dem Aufseher Richomne einen Rundschoppen an und schlenderten dann von Schenke zu Schenke ohne Vorwand, bloß um sich zu ergehen.
»Auf zum »Vulkan«!« rief plötzlich Levaque, der allmählich lustig geworden.
Die anderen lachten und zögerten eine Weile; dann begleiteten sie den Kameraden inmitten der immer mehr anwachsenden festlichen Menge. Im Hintergrunde des schmalen, langen Saales des »Vulkans« war eine Brettererhöhung errichtet, auf der fünf Bänkelsängerinnen, der Abhub der öffentlichen Dirnen von Lille, in schamlosester Weise entblößt und mit ungeheuerlichen Gebärden ihre Zoten zum besten gaben. Wenn ein Gast eine wollte, zahlte er zehn Sous und führte sie hinter die Estrade. Es waren Schlepper, Handlanger, sogar Karrenjungen mit vierzehn Jahren da, die ganze Jugend der Kohlengruben, mehr Wachholderbranntwein als Bier trinkend. Auch einige alte Bergleute beteiligten sich an diesem Treiben, solche, die zu Hause ein unflätiges Eheleben führten.
Als die Gesellschaft sich an einem der kleinen Tische niedergelassen hatte, machte sich Etienne an Levaque, um ihm seinen Plan einer Aushilfskasse zu erklären. Er war in seiner Propaganda eifrig wie alle Neubekehrten, die sich einer Aufgabe widmen.
»Jedes Mitglied könnte monatlich zwanzig Sous bezahlen«, wiederholte er. »Durch Ansammlung dieser Beiträge wird man in vier, fünf Jahren ein Kapital zusammenbringen, und wenn man Geld hat, ist man stark, was immer kommen mag, nicht wahr? Nun, was sagst du dazu?«
»Ich sage nicht nein«, antwortete Levaque zerstreut. »Wir werden darüber reden.«
Auf der Estrade war eine dicke Blonde erschienen, die ihn reizte; er erklärte denn auch, daß er bleiben wolle, als Maheu und Pierron, nachdem sie ihren Schoppen getrunken, aufbrachen, ohne das zweite Lied abzuwarten.
Etienne, der mit ihnen wegging, traf draußen die Mouquette, die ihnen zu folgen schien. Sie schaute ihn noch immer mit ihren großen, starren Augen an und lachte gutmütig, als wollte sie sagen: »Willst du?« Der junge Mann nahm die Sache spaßig und zuckte mit den Achseln. Da machte sie eine zornige Gebärde und verlor sich in der Menge.
»Wo ist Chaval?« fragte Pierron.
»Ja, wo ist Chaval?« wiederholte Maheu. »Suchen wir ihn bei Piquette.«
Bei Piquettes Schenke angekommen, wurden sie schon an der Tür durch einen Raufhandel aufgehalten. Zacharias schwang drohend die Faust gegen einen wallonischen Nagelschmied, einen ruhig dreinschauenden, stämmigen Menschen; Chaval stand mit den Händen in den Taschen dabei und schaute zu.
»Da ist Chaval«, sagte Maheu ruhig. »Er ist bei Katharina.«
Seit fünf geschlagenen Stunden trieb sich die Schlepperin mit ihrem Galan im Marktgewühle herum. In der Straße von Montsou, einer breiten Straße mit niedrigen, buntgetünchten Häusern, wimmelte das Volk im hellen Sonnenschein wie ein Ameisenzug in der kahlen Ebene. Der ewige schwarze Schmutz war getrocknet; ein schwarzer Staub flog auf und schwebte dahin wie eine Gewitterwolke. Die Schenken zu beiden Seiten der Straße waren mit Menschen überfüllt und mußten ihre Tische bis auf das Straßenpflaster hinaus verlängern, wo eine Doppelreihe von Verkaufsbuden stand mit Spiegeln und Halstüchern für die Mädchen, Messern und Mützen für die Burschen, die Süßigkeiten und Lebkuchen ungerechnet. Vor der Kirche war ein Bolzenschießstand, dem Fabrikhofe gegenüber ein Kugelspiel. An der Ecke der Joisellestraße drängten sich die Leute um einen eingeplankten Platz, wo zwei große, rote Hähne, mit eisernen Sporen bewehrt, einen blutigen Kampf ausfochten. Bei Maigrat ward auf dem Billard um Schürzen und Hosen gespielt. Von Zeit zu Zeit trat tiefe Stille ein; die Menge soff und füllte sich den Magen; ein stummes Übermaß von Bier und gebratenen Kartoffeln breitete sich in der drückenden Hitze aus, welche durch die im Freien aufgestellten Öfen noch gesteigert wurde.
Chaval kaufte Katharina einen Spiegel für neunzehn Sous und ein Busentuch für drei Franken. Bei jedem Rundgange trafen sie Mouquet und Bonnemort, die ebenfalls zu dem Feste gekommen waren und mit ihren schweren Beinen nachdenklich Seite an Seite dahinschritten. Eine andere Begegnung rief ihren Unwillen hervor. Sie sahen Johannes, der Lydia und Bebert zuredete, Schnapsfläschchen von einer fliegenden Schenke zu stehlen, die am Rande eines leeren Platzes errichtet war. Katharina konnte nur ihren Bruder züchtigen, denn die Kleine lief mit einer Flasche davon. Diese verdammten Rangen werden im Bagno endigen.
Vor der Schenke »Zum Geköpften« kam Chaval auf den Einfall, seine Geliebte hineinzuführen, um einem Finkenkonzert beizuwohnen, welches seit acht Tagen angekündigt war. Fünfzehn Nagelschmiede aus den Fabriken von Marchiennes hatten der Aufforderung Folge geleistet und waren erschienen, jeder mit einem Dutzend Vogelbauer. Diese kleinen verdunkelten Käfige, in denen die Vögel sich ganz ruhig verhielten, hingen an einem Pfahlzaun im Hofe der Schenke. Es handelte sich darum festzustellen, welcher der Finken innerhalb einer Stunde am häufigsten seinen Schlag wiederholen werde. Jeder Nagelschmied stand mit einer Schiefertafel bei seinen Käfigen und verzeichnete die Rufe seiner Tiere, dabei seine Nachbarn überwachend und von diesen selbst überwacht. Die Finken hatten zu singen begonnen, die einen tiefer, die anderen heller, anfänglich alle schüchtern, nur selten einen Schlag wagend, dann einander anregend, den Rhythmus beschleunigend und schließlich von einem so wütenden Wetteifer fortgerissen, daß einige tot niederfielen. Die Nagelschmiede feuerten sie lebhaft an, riefen ihnen in ihrer wallonischen Sprache zu, noch ein Stückchen und noch ein Stückchen zu singen, während die Zuschauer – ungefähr hundert Personen – in lautloser, leidenschaftlicher Spannung verharrten inmitten dieser höllischen Musik von hundertachtzig Finken, die in einem greulichen Durcheinander den nämlichen Schlag wiederholten. Als der Sieg entschieden war, nahm der Sieger ganz glücklich den ersten Preis, eine blecherne Kaffeemaschine, in Empfang.
Katharina und Chaval waren schon da, als Zacharias und Philomene eintraten. Man reichte sich die Hände und blieb beisammen. Allein plötzlich geriet Zacharias in Zorn, weil er einen Nagelschmied, der mit den Kameraden aus Neugierde hergekommen war, dabei überraschte, wie er seine Schwester in die Schenkel kneipte. Sie war sehr rot geworden, ließ ihn aber gewähren, weil sie bei dem Gedanken an die Schlägerei erbebte, die es geben müsse, wenn alle diese Nagelschmiede sich auf Chaval stürzten, falls dieser seine Liebste verteidige. Wohl hatte sie den Mann hart an ihrem Leibe gefühlt, aber sie schwieg aus Vorsicht. Ihr Galan lachte übrigens nur über den Zwischenfall; alle vier gingen fort, und die Sache schien beigelegt. Doch kaum waren sie bei Piquette eingetreten, um da einen Schoppen zu trinken, als der Nagelschmied wieder auftauchte, unbekümmert um sie und ihnen herausfordernd ins Gesicht blasend. Zacharias, in seinen brüderlichen Gefühlen verletzt, hatte sich auf den Unverschämten geworfen.
»Schweinekerl, das ist meine Schwester! ...« rief er. »Wart', ich werde dich Respekt lehren!«
Man trennte die beiden Männer, während Chaval ganz ruhig wiederholte:
»Laß ihn laufen; das geht mich an ... Ich sage dir ja, ich pfeife auf ihn!«
Jetzt traf Maheu mit seiner Gesellschaft ein und beruhigte Katharina und Philomene, die schon in Tränen gebadet waren. Die Leute ringsumher waren wieder lustig, der Nagelschmied war verschwunden. Chaval, der bei Piquette zu Hause war, zahlte Bier, um den Verdruß hinunterzuschwemmen. Etienne mußte mit Katharina anstoßen! Alle tranken zusammen, der Vater, die Tochter und ihr Liebhaber, der Sohn und seine Geliebte, und sagten höflich: »Auf das Wohl der Gesellschaft!« Dann bestand Pierron darauf, einen Rundschoppen zu zahlen. Es herrschte das beste Einvernehmen, als Zacharias beim Anblicke seines Kameraden Mouquet sich wieder des Nagelschmiedes erinnerte. Er rief Mouquet, sie wollten mit dem Wallonen abrechnen.
»Ich will den Kerl schinden! ...« rief er. »Chaval, nimm Philomene und Katharina in deinen Schutz; ich komme gleich wieder.«
Jetzt war an Maheu die Reihe, Bier zu zahlen. Wenn der Junge seine Schwester rächen wolle, gebe er damit nur ein gutes Beispiel, meinte der Vater. Philomene war ihrerseits beruhigt, seitdem sie Mouquet gesehen. Die beiden Kerle gehen sicherlich zum »Vulkan«, sagte sie.
Auf dem Tanzboden »Zur Gemütlichkeit« beschloß man den Festtag. Diesen Tanzboden hielt die Witwe Désir, eine dicke Mutter von fünfzig Jahren, rund wie ein Faß, aber so frisch und wohl erhalten, daß sie noch sechs Liebhaber hatte, einen für jeden Tag der Woche, sagte sie, und alle sechs für den Sonntag. Sie nannte alle Grubenarbeiter ihre Kinder, von Rührung übermannt bei dem Gedanken an das Meer von Bier, das sie seit dreißig Jahren ihnen ausschenkte. Sie rühmte sich auch, daß keine einzige Schlepperin schwanger werde, ohne vorher bei ihr das Tanzen gelernt zu haben. Die Wirtschaft »Zur Gemütlichkeit« bestand aus zwei Sälen: aus der Trinkstube, wo das Schankpult und die Tische standen, und aus dem Tanzsaal, in den man aus der Trinkstube durch eine weite Bogenöffnung gelangte. Der Tanzsaal war ein großer Raum, nur in der Mitte gedielt und ringsherum mit Ziegeln ausgelegt. Den Zierat gaben zwei Gewinde von papiernen Blumen ab, die an der Saaldecke von einem Ende zum andern sich zogen und in der Mitte sich kreuzend, durch einen Kranz ebensolcher Blumen zusammengehalten wurden. An den Wänden hingen vergoldete Wappenschilder, welche die Namen von Heiligen trugen: den heiligen Eloi, Schutzpatron der Eisenarbeiter; den heiligen Krispin, Schutzpatron der Schuster; die heilige Barbara, Schutzpatronin der Bergleute, kurz, den ganzen Kalender der Gewerbe. Die Saaldecke war so niedrig, daß die drei Musiker auf ihrer Tribüne, die nicht größer als eine Predigerkanzel war, mit dem Kopf anstießen. Die Beleuchtung besorgten vier Petroleumlampen, die am Abend in den vier Winkeln des Saales aufgehängt wurden.
An diesem Sonntag begann der Tanz schon um fünf Uhr nachmittags bei hellem Tageslichte. Aber erst gegen sieben Uhr füllten sich die Säle. Draußen hatte sich ein heftiger Wind erhoben; es wirbelte schwarze Staubwolken auf, die alle Leute blendeten und sich knisternd in die offenen Bratöfen legten. Maheu, Etienne und Pierron waren ebenfalls gekommen, um Chaval aufzusuchen, der mit Katharina tanzte, während Philomene allein geblieben war und ihnen zusah. Weder Levaque noch Zacharias war sichtbar geworden. Da es im Saale an Sitzbänken fehlte, ließ sich Katharina nach jedem Tanze am Tische ihres Vaters nieder. Man rief auch Philomene, allein sie wollte lieber stehen. Der Tag ging zur Rüste; man sah im Saale nur mehr Hüften und Brüste in einem Wirrsal von Armen sich bewegen. Mit hellem Jubel wurden die vier Lampen empfangen; plötzlich ward alles erhellt, die roten Gesichter, die an der Haut klebenden wirren Haare, die fliegenden Röcke, die den scharfen Geruch der schwitzenden Paare verbreiteten. Maheu zeigte Etienne die Mouquette, die dick und fett wie eine Schweineseite am Arme eines langen, mageren Handlangers walzte; sie hatte doch endlich einen Mann gefunden und sich mit ihm getröstet.
Endlich um acht Uhr erschien Frau Maheu mit Estelle an der Brust und gefolgt von den Kleinen, von Alzire, Heinrich und Leonore. Sie suchte ihren Mann geradeswegs hier auf, weil sie sicher war, ihn hier zu treffen. Man beschloß, später zur Nacht zu essen, niemand hatte Hunger; alle hatten den Magen mit Kaffee überschwemmt und mit Bier überladen. Es kamen noch andere Frauen, und es gab ein Geflüster, als man hinter der Maheu die Levaque eintreten sah, gefolgt von Bouteloup, der Philomenes Kinder, Achilles und Desirée, an der Hand führte. Die beiden Nachbarinnen schienen ihren Frieden gemacht zu haben; die eine drehte sich herum, um mit der anderen zu reden. Unterwegs hatte es eine große Auseinandersetzung zwischen ihnen gegeben; die Maheu hatte sich endlich darein ergeben, daß Zacharias heirate; allerdings war sie trostlos, den Erwerb ihres Ältesten einzubüßen; doch mußte sie einsehen, daß es ungerecht sei, ihn noch länger zurückzuhalten. Sie suchte denn, eine gute Miene zu machen, obgleich ihr Herz von Sorge erfüllt war, weil sie, die Hauswirtin, sich fragen mußte, wie sie fernerhin das Auslangen finden sollten, da doch, ein Hauptteil ihres Einkommens wegfallen werde.
»Setze dich dorthin, Nachbarin«, sagte sie und zeigte auf einen Tisch neben dem, an welchem Maheu mit Etienne und Pierron trank.
»Ist mein Mann nicht bei euch?« fragte die Levaque.
Die Kameraden sagten ihr, daß er wiederkommen werde. Man rückte enger zusammen, Bouteloup mit den Kindern nahm ebenfalls Platz, und man saß so gedrängt, daß die beiden Tische gleichsam nur einen ausmachten. Man bestellte Bier. Als Philomene ihre Mutter und ihre Kinder eintreffen sah, kam auch sie näher. Sie nahm einen Sessel und schien froh zu hören, daß man sie endlich verheirate. Als man Zacharias suchte, antwortete sie mit ihrer weichen Stimme:
»Ich erwarte ihn; er ist nicht weit.«
Maheu hatte mit seiner Frau einen Blick ausgetauscht. Wie, sie willigte ein? Er ward ernst und rauchte schweigsam seine Pfeife. Auch ihn erfaßte die Sorge wegen des morgenden Tages angesichts der Undankbarkeit der Kinder, die eines nach dem anderen heirateten und ihre Eltern in Elend zurückließen.
Man tanzte noch immer; der Schluß einer Quadrille hüllte den Saal in einen rötlichen Staub; die Mauern krachten; eine Pickelflöte ließ schrille Pfiffe vernehmen wie eine notleidende Lokomotive; wenn die Tänzer stille standen, rauchten sie wie Pferde.
»Erinnerst du dich,« sagte die Levaque und beugte sich zum Ohre der Maheu, »daß du davon sprachst, Katharina erwürgen zu wollen, wenn sie die ›Dummheit‹ begehen werde?«
Chaval führte eben Katharina an den Familientisch zurück; hinter dem Vater stehend, tranken sie den Rest ihres Bieres.
»Mein Gott, man sagt es nur so ...« entgegnete die Maheu kleinlaut. »Mich beruhigt, daß sie kein Kind bekommt; dessen bin ich sicher. Wenn die auch einen Balg kriegte und ich genötigt wäre, sie zu verheiraten: was sollten wir dann essen?«
Die Pickelflöte pfiff jetzt einen Polka. Während der betäubende Lärm des Tanzes wieder anging, teilte Maheu seiner Frau mit leiser Stimme einen Gedanken mit: Warum sollten sie nicht einen Mieter nehmen, Etienne zum Beispiel, der eine Pension suchte? Sie würden Platz haben, weil Zacharias sie bald verlasse; das Geld, das sie in dieser Weise auf der einen Seite verlieren, würden sie auf der anderen Seite zum Teil wieder hereinbekommen. Das Gesicht der Maheu hellte sich auf: gewiß, es sei eine gute Idee, und man müsse die Sache abmachen, meinte sie. Wieder einmal schien sie vor dem Hunger gerettet; ihre gute Laune kehrte so rasch wieder, daß sie Bier für die Gesellschaft bestellte.
Mittlerweile bemühte sich Etienne, Pierron zu gewinnen, dem er seinen Plan einer Unterstützungskasse auseinandersetzte. »Wir reden dann ganz anders mit der Gesellschaft; wir finden so die ersten Mittel des Widerstandes ... Bist du dabei?«
Pierron hatte die Blicke gesenkt und war bleich geworden.
»Ich will darüber nachdenken«, stammelte er. »Eine gute Aufführung ist die beste Unterstützungskasse.«
Maheu bemächtigte sich jetzt Etiennes und machte ihm rundheraus als rechtschaffener Mann den Vorschlag, ihn als Mieter in sein Haus zu nehmen. Der junge Mann ging auf den Vorschlag sofort ein, denn er wünschte lebhaft, im Dorfe zu wohnen, mehr unter den Kameraden zu leben. Man schloß in wenigen Worten das Geschäft ab; die Maheu erklärte, man wolle nur die Heirat der Kinder abwarten.
Endlich kam auch Zacharias mit Mouquet und Levaque. Alle drei brachten die Gerüche des »Vulkan« mit, einen Atem von Wachholderbranntwein, einen scharfen Moschusgeruch von unsauberen Dirnen. Sie waren sehr betrunken, schienen zufrieden mit sich selbst und stießen einander zum Spaß mit den Ellbogen. Als Zacharias erfuhr, daß man ihn endlich verheiraten wolle, lachte er so stark, daß es ihn schier erstickte. Philomene erklärte, sie sehe ihn lieber lachen als weinen. Da kein Sessel mehr frei war, überließ Bouteloup die Hälfte des seinen Levaque; dieser ließ plötzlich, gerührt durch den Anblick der versammelten Familie, noch einmal Bier auffahren.
»Man vergnügt sich doch nicht alle Tage, was?!« schrie er.
Sie blieben bis zehn Uhr da. Es kamen noch immer Weiber hinzu, um ihre Männer heimzuführen; den Weibern folgten Scharen von Kindern; und die Mütter taten sich keinen Zwang mehr an, holten ihre Brüste hervor – Brüste so lang und blond wie Hafersäckchen – und badeten ihre pausbäckigen Kleinen in Milch; die Kinder aber, mit Bier gefüllt, krochen unter den Tischen herum und entleerten sich da ohne Scham. Die Bierflut stieg immer höher; die Fässer der Witwe Désir wurden leer und die Bäuche voll; das Bier floß von überall, aus der Nase, aus den Augen und von anderwärts. Die Leute schwollen dermaßen an, wie sie in einem Haufen beisammen saßen, daß jeder mit einer Schulter oder einem Knie an den Nachbar stieß, und alle waren lustig und guter Dinge, weil sie sich so eng beisammen fühlten. Die Mäuler standen in unaufhörlichem Gelächter bis an die Ohren offen. Es war heiß wie in einem Backofen; man ward schier gesotten und machte es sich bequem; die entblößten Glieder erhielten in dem Tabaksqualm einen Goldschimmer; die einzige Unbehaglichkeit war, daß man sich zuweilen stören mußte; von Zeit zu Zeit erhob sich ein Mädchen, ging in den Hof, hockte neben dem Brunnen nieder, hob die Röcke auf und kam dann wieder zurück. Die Tänzer unter den Gewinden von Buntpapier sahen einander nicht mehr, so sehr schwitzten sie; das ermutigte die Kohlenburschen, die Schlepperinnen umzuwerfen, wenn man im Gewühl des Tanzes zufällig zusammenstieß. Wenn eine solche Dirne hinfiel und ein Mann auf sie, dann deckte die Pickelflöte den Fall mit ihrem überlauten Quieken, und sie wurden von den stampfenden Füßen fortgewälzt, als wenn der ganze Ballsaal über sie eingestürzt sei.
Jemand sagte im Vorübergehen Pierron, daß seine Tochter Lydia vor der Tür quer auf dem Straßenpflaster liegend schlafe. Sie hatte ihren Teil aus der gestohlenen Schnapsflasche getrunken und war jetzt berauscht; er mußte sie an seinem Halse heimtragen, während Johannes und Bebert, die noch fester auf den Beinen waren und die Sache sehr drollig fanden, ihm von ferne folgten. Es war das Zeichen zum Aufbruch; ganze Familien verließen die Schenke »zur Gemütlichkeit«; auch die Familien Maheu und Levaque entschlossen sich, nach dem Dorfe heimzukehren. In diesem Augenblicke verließen auch Vater Bonnemort und der alte Mouque Montsou bedächtigen Schrittes, in ihre Erinnerungen still versunken. So kehrten denn alle zusammen heim; man durchschritt noch einmal das Marktgewühl mit seinen Bratöfen, in denen die Kartoffeln erstarrten, seinen Schenken, wo der Inhalt der letzten Schoppen bis auf die Straße hinausrann. Noch immer drohte das Gewitter; die Lustigkeit stieg höher und höher, als man die letzten beleuchteten Häuser des Dorfes hinter sich hatte und sich in der finsteren Landstraße verlor. Ein heißer Hauch strich über das reife Getreide hin; in jener Nacht sind viele Kinder gemacht worden. In regellosen Scharen langte man im Arbeiterdorfe an. Weder die Levaque noch die Maheu hatten eine rechte Eßlust zum Nachtmahl; sie schliefen schon, während sie den vom Mittagessen gebliebenen Rest vom Rindfleisch aßen.
Etienne hatte Chaval weggeführt, um bei Rasseneur noch eins zu trinken.
»Ich bin dabei«, sagte Chaval. als der junge Mann ihm die Angelegenheit der Unterstützungskasse erklärt hatte. »Schlag ein, du bist ein wackerer Junge.«
Etiennes Augen flammten jetzt in einem beginnenden Rausche auf.
»Ja, wir wollen einig sein«, rief er. »Gerechtigkeit über alles; dafür gebe ich den Wein und die Weiber hin. Eine Sache ist's, die mir das Herz warm macht: der Gedanke, daß wir die Spießbürger alsbald hinwegfegen werden.«