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Um vier Uhr begann die Anfahrt. Dansaert in Person hatte sich im Zimmer des Kontrollbeamten eingefunden, schrieb jeden Arbeiter ein, der sich meldete, und ließ ihm die Grubenlampe reichen. Er nahm alle an ohne Bemerkung und hielt so das in den Anschlagzetteln gegebene Versprechen. Nur als er Etienne und Katharina am Schalter bemerkte, fuhr er auf, ward sehr rot und öffnete den Mund, um diese beiden abzuweisen. Doch er begnügte sich, mit höhnischer Miene zu triumphieren. Ei, ei, selbst der Starke unter den Starken lag am Boden! Die Gesellschaft hatte denn doch auch ihr Gutes; der furchtbare Bezwinger von Montsou kam wieder zu ihr, um Brot von ihr zu verlangen. Etienne nahm stillschweigend seine Lampe und ging mit der Schlepperin zur Einfahrt.
Hier erst, im Aufnahmesaale, fürchtete Katharina die bösen Reden der Kameraden. Kaum eingetreten, erkannte sie Chaval mitten in einer Gruppe von etwa zwanzig Bergleuten, die warteten, bis eine Schale frei werde. Er kam mit wütender Miene auf sie zu, doch hielt der Anblick Etiennes ihn zurück. Er tat, als wolle er sie verhöhnen, wobei er geringschätzig die Achseln zuckte. Schon gut; er mache sich nichts aus der Sache, wenn der andere den noch warmen Platz eingenommen habe. Er selbst sei dadurch eine schöne Last losgeworden. Es gehe den Herrn an, wenn er die Überreste liebe. Während er diese Mißachtung zur Schau trug, zitterte er vor Eifersucht, und seine Augen flammten. Die Kameraden rührten sich nicht, sondern standen stumm mit gesenkten Augen da; sie begnügten sich, die Neuangekommenen von der Seite anzublicken; dann schauten sie traurig, aber ohne Groll wieder nach der Schachtmündung mit der Lampe an der Hand, zitternd in dem dünnen Leinenkittel bei dem fortwährenden Luftzuge des großen Saales.
Endlich setzte sich die Schale in ihren Ankern fest, und man rief ihnen zu einzusteigen. Etienne und Katharina drängten sich in einen Karren, wo schon Pierron mit zwei Häuern Platz genommen hatte. Nebenan im andern Karren sagte Chaval laut zu Mouque, es sei nicht recht, daß die Direktion nicht die Gelegenheit benutze, die Gruben von den Schnapphähnen zu befreien, welche sie beschmutzten. Doch der Stallknecht, der sich wieder in sein Hundeleben gefügt hatte, grollte nicht mehr wegen des Todes seiner Kinder und antwortete mit einer Gebärde der Versöhnung.
Die Schale hakte sich los, man versank in der Dunkelheit. Niemand sprach. Plötzlich – man hatte etwa zwei Drittel der Fahrt gemacht – gab es ein furchtbares Streifen. Die Eisenbestandteile krachten, die Männer wurden aufeinander geschleudert.
»Donner Gottes!« brummte Etienne, »wollen sie uns plattdrücken lassen? Bei dieser verdammten Verzimmerung werden wir einmal alle die Knochen hier lassen. Und sie sagen noch, daß sie sie hätten ausbessern lassen.«
Indes war die Schale durch das Hindernis hindurchgekommen. Sie fuhr jetzt unter einem so heftigen Sturzregen hinab, daß die Arbeiter geängstigt diesen rauschenden Strom hörten. Es mußten wieder neue Risse in der Verdämmung entstanden sein.
Pierron, der schon seit einigen Tagen arbeitete, wurde befragt; aber er wollte seine Furcht nicht zeigen, weil man sie als einen Angriff auf die Direktion hätte deuten können. Er sagte also:
»Es besteht keine Gefahr! Das ist immer so. Sicher hat man nicht Zeit gehabt, die Risse zu verstopfen.«
Über ihren Häuptern brauste der Strom; sie kamen in einer wahrhaftigen Wasserhose auf dem Grunde des Schachtes an. Kein Aufseher war auf den Gedanken gekommen, durch den Leiternschacht aufzusteigen und sich von der Sachlage zu überzeugen. Die Pumpe werde genügen, sagten sie; die nächste Nacht würden die Zimmerleute kommen, um die Risse zu untersuchen. Die Neueinrichtung der Arbeit in den Galerien gab genug zu tun. Der Ingenieur hatte entschieden, daß, ehe die Häuer zu den Schlägen zurückkehrten, in den ersten fünf Tagen gewisse unaufschiebliche Befestigungsarbeiten durchzuführen seien. Auf allen Seiten drohten Einstürze; die Gänge hatten dermaßen gelitten, daß die Verzimmerung in der Länge von hunderten von Metern ausgebessert werden mußte. Man bildete daher Gruppen von je zehn Männern, jede Gruppe unter Führung eines Aufsehers und geleitete sie nach jenen Stellen, die am meisten Schaden gelitten hatten. Als der Abstieg beendigt war, zählte man, daß dreihundertzweiundzwanzig Arbeiter angefahren waren, ungefähr die Hälfte von jener Zahl, die arbeitete, wenn die Grube voll ausgebeutet wurde.
Chaval gehörte zu der Gruppe, der Etienne und Katharina zugeteilt waren; es war keineswegs zufällig geschehen. Er hatte sich anfänglich hinter die Kameraden versteckt und dann den Aufseher genötigt, ihn dieser Gruppe zuzuteilen. Sie begab sich an das Ende der Nordgalerie, etwa drei Kilometer weit, um dort einen Einsturz wegzuräumen, der den Eingang eines Stollens verlegte. Man machte sich mit Spitzhacke und Schaufel an die Wegräumung, während Katharina mit zwei Schlepperjungen den Schutt zur schiefen Ebene abführte. Es wurde wenig gesprochen; der Aufseher verließ die Arbeiter keinen Augenblick. Indessen waren die beiden Verehrer der Schlepperin bald auf dem Punkte, sich gegenseitig Hiebe zu verabreichen. Der frühere Liebhaber brummte zwar, er wolle von dieser Gassendirne nichts wissen; nichtsdestoweniger beschäftigte er sich mit ihr und stieß sie heimlich, so daß der neue Beschützer ihm mit einem Tanze drohen mußte, wenn er sie nicht in Ruhe lasse. Sie verschlangen sich mit den Augen; man mußte sie trennen.
Gegen acht Uhr kam Dansaert, um die Arbeit zu besichtigen. Er schien sehr übler Laune zu sein und zankte mit dem Aufseher: nichts gehe in Ordnung, die Hölzer müßten von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden, und das sei keine Arbeit. Dann ging er und kündigte an, daß er mit dem Ingenieur wiederkommen werde. Er erwartet Negrel seit dem Morgen und begriff nicht, wo derselbe bleibe.
Wieder verfloß eine Stunde. Der Aufseher hatte mit der Wegräumung des Schuttes innehalten lassen und verwendete alle seine Leute dazu, die Decke zu stützen. Auch die Schlepperin und die zwei Stößerjungen rollten die Karren nicht mehr, sondern halfen die Balken herbeischleppen. In dieser Tiefe der Galerie war diese Arbeitergruppe gleichsam auf Vorposten, verloren an diesem äußersten Ende der Grube, ohne Verbindung mit den übrigen Werkplätzen. Drei- oder viermal wandten die Arbeiter die Köpfe, weil sie ferne Geräusche, ein tolles Rennen hörten. Was war's? Es schien, als leerten sich die Gänge, als beeilten sich die Kameraden hinaufzukammen. Doch der Lärm verlor sich wieder in tiefer Stille; sie fuhren fort, Hölzer aufzurichten, betäubt durch die schallenden Hammerschläge. Endlich ging man wieder an die Forträumung des Schuttes, und die Abfuhr begann von neuem.
Katharina kam gleich von der ersten Fahrt ganz erschreckt zurück und erzählte, daß niemand mehr bei der schiefen Bahn sei.
»Ich habe gerufen, niemand hat geantwortet. Alle haben Reißaus genommen.«
Die Bestürzung war eine solche, daß die zehn Männer ihre Werkzeuge wegwarfen, um zu laufen. Der Gedanke, daß sie so tief in der Grube, so fern von der Auffahrt verlassen seien, raubte ihnen schier den Verstand. Sie hatten nur ihre Lampe behalten; sie liefen hintereinander dahin, die Männer, die Kinder, die Schlepperin; und selbst der Aufseher verlor den Kopf und stieß Rufe aus, immer mehr erschreckt durch diese Stille und Verlassenheit der endlosen Galerien. Weshalb begegnete man keiner Seele? Welcher Unfall mochte die Kameraden so hinweggefegt haben? Ihr Entsetzen ward noch gesteigert durch die Ungewißheit der Gefahr, durch die Drohung, die sie fühlten, ohne sie zu kennen.
Als sie endlich der Auffahrt sich näherten, verlegte ein Strom ihnen den Weg. Das Wasser reichte ihnen bis zu den Knien; sie konnten nicht mehr laufen und durchschritten mühsam das Wasser, mit der Gewißheit, daß eine Minute Verzögerung den Tod bedeute.
»Donner Gottes! Die Verzimmerung muß geborsten sein!« schrie Etienne. »Ich sagte es ja, daß wir alle die Knochen hier lassen werden!«
Pierron hatte seit der Einfahrt mit Unruhe gesehen, wie die aus dem Schachte niederprasselnde Flut immer höher stieg. Während er mit noch zwei anderen die Karren zur Beförderung einhängte, blickte er empor und schwere Tropfen fielen ihm ins Gesicht, und die Ohren summten von dem Getöse dort oben. Was ihn noch mehr erzittern ließ, war die Wahrnehmung, daß die Senkgrube unter ihm, das zehn Meter tiefe Loch sich füllte; schon quoll das Wasser zwischen den Eisenplatten des Fußbodens hervor. Dies war ein Beweis, daß die Pumpe nicht mehr genügte, um das Grubenwasser auszuschöpfen; er hörte ordentlich, wie sie ermüdete, wie ihr der Atem ausging. Da benachrichtigte er Dansaert, der wütende Flüche ausstieß und erklärte, man müsse den Ingenieur erwarten. Zweimal erneuerte Pierron seine Warnungen, ohne bei Dansaert etwas anderes als ein verzweifeltes Achselzucken zu erreichen. Das Wasser stieg, was konnte er dagegen tun?
Jetzt erschien Mouque mit dem Pferde Bataille, um es zur Arbeit zu führen. Er mußte das Tier mit beiden Händen festhalten, denn der alte, schläfrige Gaul bäumte sich plötzlich, streckte den Kopf nach dem Schachte aus und ließ ein todesängstliches Wiehern vernehmen.
»Was gibt's denn, Philosoph? Was ängstigt dich? ... Ach, weil es regnet? Komm, das geht dich nichts an.«
Das Tier zitterte am ganzen Körper; er mußte es mit Gewalt zur Abfuhr zerren.
Fast in demselben Augenblicke, eben als Mouque und Bataille in der Tiefe einer Galerie verschwunden waren, gab es ein Krachen in der Luft, gefolgt von dem andauernden Geräusch eines Falles. Ein Balken der Verdämmung hatte sich losgemacht und fiel hundertachtzig Meter tief herab, während des Falles wiederholt an die Wände aufschlagend. Pierron und die anderen Verlader konnten noch rechtzeitig zur Seite springen, der schwere Eichenpfosten zertrümmerte nur einen leeren Karren. Zu gleicher Zeit gab es einen Wassersturz; es schoß dicht hervor, wie bei einem durchbrochenen Damm. Dansaert wollte hinauf, um zu schauen; aber er sprach noch, als ein zweiter Balken herunterstürzte. In seinem Schrecken zögerte er angesichts der drohenden Katastrophe nicht länger und gab das Signal zur Auffahrt; gleichzeitig sandte er die Aufseher nach allen Richtungen aus, um die Leute auf den Werkplätzen zu benachrichtigen.
Jetzt folgte ein furchtbares Hasten und Drängen. Aus allen Galerien kamen Züge von Arbeitern im Eilschritt an und stürzten sich auf die Aufzugsschalen. Man rang auf Tod und Leben, um früher hinaufgeschafft zu werden. Einige, die auf den Einfall gekommen waren, durch den Leiternschaft aufzusteigen, kamen mit dem Rufe zurück, der Weg sei dort schon versperrt. Nach jeder Auffahrt einer Schale gab es neues Entsetzen: diese konnte noch hinauf; wer weiß, ob auch die nächste noch hinaufkam durch alle die Hindernisse, die den Schacht verlegten? Der Zusammenbruch oben schien fortzudauern; man hörte eine ganze Reihe von dumpfen Schlägen; es waren die gespaltenen Hölzer, die unter dem andauernden und wachsenden Rauschen der Wässer platzten. Eine Schale wurde bald außer Gebrauch gesetzt; sie glitt nicht mehr zwischen den Leitpfosten, ohne Zweifel war sie gebrochen. Die andere streifte dermaßen an die Wände, daß ein Reißen der Kabel zu befürchten war. Aber es waren noch etwa hundert Leute hinaufzuschaffen, und alle röchelten in Todesangst und klammerten sich aneinander, vom Wasser durchtränkt, mit Blut bedeckt. Zwei wurden von herabstürzenden Balken erschlagen; ein dritter, der sich an die Schale geklammert hatte, fiel aus einer Höhe von fünfzig Metern herunter und verschwand in der Senkgrube.
Dansaert bemühte sich indessen, Ordnung zu schaffen. Mit einer Spitzhacke bewaffnet, drohte er, dem ersten, der nicht gehorche, den Schädel einzuschlagen. Er wollte sie nach der Reihe aufstellen und rief, die Verlader würden zuletzt ausfahren, nachdem sie die Kameraden verladen hätten. Doch man hörte nicht auf ihn. Er hatte Pierron, der bleich und feige dastand, gewaltsam hindern müssen, mit den ersten auszufahren. Bei jedem Aufstieg mußte er ihn mit Hieben zurückjagen. Allein er selbst klapperte mit den Zähnen; noch eine Minute, und er war verschlungen; dort oben war alles geplatzt und geborsten, ein wilder Strom ergoß sich herab, dazwischen erfolgte ein mörderischer Sturz von Balken. Einige Arbeiter liefen eben noch herbei, als er wahnsinnig vor Furcht, in einen Karren sprang, wohin Pierron ihm folgte. Die Schale stieg auf.
In diesem Augenblicke erschien die Gruppe Etiennes und Chavals beim Aufzug. Sie sahen die Schale verschwinden und stürzten hinzu; doch sie mußten zurückweichen, denn es stürzte der letzte Rest der Verzimmerung herab und verrammelte den Schacht. Die Schale konnte nicht mehr herniedersteigen. Katharina schluchzte, Chaval stieß fürchterliche Flüche aus. Es waren noch etwa zwanzig Arbeiter da; sollten diese Schweine von Vorgesetzten sie hier verlassen wollen? Vater Mouque, der das Pferd Bataille – ohne Hast – wieder zurückgeführt hatte, hielt das Tier am Halfter; beide, der Alte und der Gaul, waren verblüfft angesichts des rasch steigenden Wassers. Es reichte den Leuten jetzt bis zu den Schenkeln. Etienne stand mit zusammengepreßten Zähnen da und hob Katharina in seinen Armen empor. Die Zwanzig heulten und schauten hartnäckig und blöd nach dem Schachte, diesem einstürzenden Loche, das einen Strom spie und aus dem ihnen keine Hilfe kommen konnte.
Als Dansaert an das Tageslicht gelangte, sah er Negrel herbeieilen. Verhängnisvollerweise hatte ihn heute, als er das Bett verließ, Frau Hennebeau damit aufgehalten, daß sie mit ihm Preiskataloge durchblätterte, um ihre Auswahl für die Hochzeitsgeschenke zu treffen. Es war schon zehn Uhr.
»Was gibt's?« rief er von weitem.
»Die Grube ist verloren«, rief der Oberaufseher.
Er berichtete stammelnd die Katastrophe, während der Ingenieur ungläubig die Achseln zuckte. Ist es möglich, daß eine Verdämmung so aus Rand und Band gerät? Man übertrieb sicherlich; er wollte sich überzeugen.
»Es ist doch niemand in der Grube geblieben?«
Dansaert geriet in Verwirrung. Nein, niemand. Er hoffe es wenigstens. Es sei immerhin möglich, daß einzelne Arbeiter sich verspätet hätten.
»Herrgott! Warum sind Sie dann heraufgekommen? Verläßt man so die Leute?«
Sogleich erteilte er den Befehl, daß man die Lampen zähle. Man hatte am Morgen dreihundertzweiundzwanzig verteilt und fand nur zweihundertfünfundfünfzig wieder; allein mehrere Arbeiter gestanden, daß die ihre unten geblieben und in dem Schrecken, in dem Gedränge ihnen aus der Hand gefallen sei. Man versuchte mit einem Namensaufruf vorzugehen, aber es war unmöglich, eine genaue Ziffer festzustellen; einzelne Bergleute waren davongelaufen, andere hörten ihre Namen nicht mehr. Man konnte sich über die Zahl der abgängigen Kameraden nicht einigen; es waren ihrer vielleicht zwanzig, vielleicht vierzig. Eines war für den Ingenieur gewiß: es waren noch Leute in der Grube; man hörte ihr Geheul durch das Geräusch des Wassersturzes, und das eingestürzte Gebälk hindurch, wenn man am Eingange des Schachtes hinabhorchte.
Die erste Sorge Negrels war, Herrn Hennebeau holen zu lassen und die Grube schließen zu wollen. Aber es war schon zu spät; die Bergleute, die –- wie von dem Krachen der Verzimmerung verfolgt- – nach dem Dorfe der Zweihundertvierzig gerannt waren, hatten schon die Familien in Schrecken gejagt; ganze Scharen von Weibern, Greisen und Kindern liefen schreiend und jammernd herbei. Man mußte sie zurückdrängen; eine Reihe von Aufsehern wurde beauftragt, sie zurückzuhalten, damit sie die Rettungsarbeiten nicht stören. Viele der Arbeiter, die heraufgeholt worden, blieben da, ganz blöde, ohne daran zu denken, ihre Kleider zu wechseln, durch einen Bann des Entsetzens festgehalten vor diesem furchtbaren Loche, in dem sie fast geblieben wären. Die Weiber umstanden sie flehend und fragten nach den Namen. War der unten? Und der? Und jener? Aber sie wußten nicht; sie stammelten nur und machten sinnlose Gebärden, als wollten sie damit ein immer wiederkehrendes, furchtbares Bild verscheuchen. Die Menge wuchs schnell an; auf den Straßen stieg ein furchtbares Gejammer auf. Oben, auf dem Abbauhügel, in der Hütte des alten Bonnemort, saß Suwarin auf der Erde. Er hatte sich nicht entfernt; er wartete und schaute.
»Die Namen! Die Namen!« riefen die Weiber mit tränenerstickter Stimme.
Negrel erschien einen Augenblick und rief:
»Sobald wir die Namen wissen, werden wir sie bekanntgeben! Noch ist nichts verloren; alle werden gerettet ... Ich fahre ein.«
Die Menge wartete nun in stummer Angst. In der Tat schickte sich der Ingenieur mit ruhigem Mute zur Einfahrt an. Er hatte die Schale loshaken lassen und den Befehl gegeben, statt derselben eine Tonne an das Seil zu hängen; und da er vermutete, daß das Wasser seine Lampe auslöschen werde, befahl er, daß unterhalb der Tonne eine zweite angebracht werde, welche durch die Tonne geschützt sei. Bleich und zitternd halfen mehrere Aufseher bei diesen Vorbereitungen.
»Dansaert, Sie werden mit mir einfahren«, gebot Negrel kurz.
Als er alle so mutlos sah, als er sah, wie der Oberaufseher entsetzt wankte, schob er ihn mit einer verächtlichen Gebärde zur Seite.
»Nein, Sie wären mir nur im Wege... ich will lieber allein sein.«
Schon stand er in dem engen Kübel, der am Ende des Seiles schwankte. Mit der einen Hand die Lampe haltend, mit der ändern die Signalleine ergreifend, rief er dem Maschinisten zu:
»Langsam!«
Die Fördermaschine setzte sich in Bewegung; Negrel verschwand in dem Abgrunde, aus dem noch immer das Geheul der Unglücklichen herauftönte.
In der Höhe war alles in Ordnung; er stellte fest, daß die obere Verzimmerung sich in gutem Zustande befinde. Im Schachte hin- und hergeschaukelt drehte er sich nach allen Seiten und beleuchtete die Wände; das Sickerwasser zwischen den Rissen war so spärlich, daß seine Lampe nicht darunter litt. Aber, als er in einer Tiefe von dreihundert Metern bei der unteren Verholzung ankam, erlosch sie, wie er es vorhergesehen; ein Wasserstrahl hatte den Kübel gefüllt. Und jetzt sah er nur mehr bei dem Scheine der an dem Kübel hängenden Lampe, die ihm in der Finsternis vorausging. Angesichts des furchtbaren Unglücks erbleichte und erschauerte der sonst so kühne Mann. Nur einige Stücke Holz waren geblieben, die übrigen waren mit ihren Rahmen hinabgestürzt; dahinter gab es riesige Höhlen, der feine, gelbe Flugsand ergoß sich in bedeutenden Massen, während die Wasser des unterirdischen Meeres –- dieses Meeres mit seinen der Oberwelt unbekannten Stürmen und Schiffbrüchen –- in breiten Strömen, wie aus einer Schleuse, hinabstürzten. Er stieg noch tiefer hinab, verloren inmitten dieser sich noch immer erweiternden Höhlen, gepeitscht und im Kreise gedreht durch den Wassersturz, so schlecht beleuchtet durch das einem roten Stern gleichende Lampenlicht, daß unter ihm hinabglitt, daß er in der Ferne, im Spiel der großen, beweglichen Schatten Straßen und Wegkreuzungen einer zerstörten Stadt wahrzunehmen glaubte. Da war keine menschliche Arbeit mehr möglich. Er bewahrte nur noch eine Hoffnung: die gefährdeten Menschen da unten retten zu können. Je tiefer er hinabstieg, desto lauter hörte er das Geheul anwachsen. Er mußte haltmachen, ein unübersteigliches Hindernis verrammelte den Schacht, eine Anhäufung von gebrochenen Pfosten und Brettern, die geborstenen Holzwände des Schachtes, wirr durcheinandergemengt mit Resten der Pumpleitung. Als er beklommenen Herzens dieses grauenhafte Wirrsal lange betrachtete, verstummte mit einem Male das Geheul da unten. Ohne Zweifel waren die Unglücklichen vor dem reißend anwachsenden Wasser in die Galerien geflohen, wenn das Wasser ihnen nicht schon in den Mund gedrungen war.
Er mußte sich entschließen, das Signal zur Auffahrt zu geben. Dann ließ er wieder haltmachen. Er befand sich unter dem betäubenden Eindruck dieses plötzlichen Unglücks, dessen Ursache er nicht begreifen konnte. Er wollte sich Aufklärung verschaffen und untersuchte die wenigen Stücke der Verzimmerung, die noch hielten. Zu seiner Überraschung fand er Risse und Einschnitte, die sich in bestimmten Zwischenräumen wiederholten. Da sein Lämpchen in der riesigen Nässe zu erlöschen drohte, tastete er mit den Fingern und erkannte genau die Spuren der Säge und des Bohrers, ein niederträchtiges Zerstörungswerk. Augenscheinlich war diese Katastrophe mit Absicht herbeigeführt worden. Er war wie versteinert; da krachten die Hölzer, der letzte Rest stürzte samt den Rahmen hinab und drohte ihn selbst mitzureißen. Da war sein Mut zu Ende. Seine Haare sträubten sich, wenn er an den Menschen dachte, der dies verübt; er erschauerte in der grauenhaften Furcht vor dem Bösen, als ob der Mensch mit seiner unheimlichen Gewalt noch da sei, in dem finstern Schlunde, um seine ungeheuerliche Missetat zu vollenden. Er schrie auf und riß mit wütender Hand an der Signalleine. Es war übrigens hohe Zeit, denn er sah hundert Meter höher, daß auch die obere Verzimmerung in Bewegung geraten war, die Fugen öffneten sich, das geteerte Werg fiel heraus, das Wasser brach hervor. Es war nur mehr die Frage einer Stunde, daß die ganze Verzimmerung des Schachtes in Trümmer ging.
Oben ward Negrel von dem auf das äußerste beängstigten Herrn Hennebeau erwartet.
»Nun, was ist's?« fragte er.
Doch der Ingenieur blieb stumm, seine Kräfte drohten ihn zu verlassen.
»Es ist nicht möglich!... Man hat dergleichen nie gesehen! Hast du untersucht?«
Er nickte ja und warf dabei mißtrauische Blicke nach allen Seiten. Er wollte in Gegenwart der Aufseher, die zuhörten, keine Erklärungen geben und führte den Oheim zehn Meter weit beiseite. Dies schien ihm noch nicht fern genug, und er wich noch mehr zurück. Dann erzählte er ihm sehr leise, ins Ohr geflüstert, den Anschlag, wie die Planken durchbohrt und durchsägt, die Grube abgeschlachtet worden, daß sie in den letzten Zügen lag. Der Direktor war bleich geworden und dämpfte gleichfalls die Stimme in dem instinktiven Bedürfnisse, mit dem von großen Ausschweifungen und großen Verbrechen nur in aller Stille gesprochen wird. Es war nicht nötig, vor den zehntausend Arbeitern von Montsou Furcht zu zeigen; man werde später sehen, was zu tun sei. Sie fuhren fort zu flüstern, niedergeschmettert von dem Gedanken, daß ein Mensch den Mut gefunden habe da hinabzusteigen, wo er sozusagen in der Luft hing, und zwanzigmal sein Leben zu wagen, um dieses furchtbare Werk zu verrichten. Sie begriffen nicht diese Tollkühnheit in der Zerstörung; sie wollten an das Offenkundige nicht glauben, wie man an den Schilderungen zweifelt, die von berühmten Ausfällen aus belagerten Städten erzählen oder von der Flucht von Gefangenen, die durch ein dreißig Meter hoch gelegenes Fenster entkommen sind.
Als Herr Hennebeau sich den Aufsehern näherte, ward sein Gesicht von einem nervösen Zucken gefurcht. Er machte eine verzweifelte Gebärde und gab den Befehl, daß sofort die Grube geräumt werde. Es war ein trauriger Leichenzug, ein stummes Verlassen mit rückwärts gerichteten Blicken nach diesen großen, leeren Ziegelbauten, die noch aufrecht standen, aber unrettbar verloren waren.
Als der Direktor und der Ingenieur als die Letzten vom Aufnahmesaale herunterkamen, empfing sie die Menge mit ihrem hartnäckig wiederholten Rufe:
»Die Namen! Die Namen! Sagt die Namen!«
Jetzt war auch Frau Maheu unter den Weibern. Sie erinnerte sich des Geräusches, das sie in der Nacht gehört; ihre Tochter und ihr Mieter mußten zusammen weggegangen sein; sie befinden sich gewiß in der Grube. Nachdem sie ausgerufen hatte, es geschehe ihnen recht, wenn sie unten blieben, die Herzlosen, die Feiglinge, war sie herbeigeeilt; zitternd vor Angst stand sie in der ersten Reihe. Sie wagte übrigens nicht mehr zu zweifeln; der Streit um die Namen, den es ringsumher gab, belehrte sie, daß Katharina unten war und Etienne gleichfalls. Ein Kamerad hatte sie gesehen. Aber hinsichtlich der übrigen war man nicht einig. Dieser nicht, jener ja; Chaval sei unten, meinte der eine, während ein Schlepperjunge schwor, mit ihm ausgefahren zu sein. Die Levaque und die Pierron hatten sich, obgleich keiner der übrigen in Gefahr war, unter die übrigen gemengt und schrien am lautesten. Zacharias, der als einer der ersten ausgefahren war, küßte weinend sein Weib und seine Mutter, wenngleich er sonst gern den gegen alles gleichmütigen Menschen spielte. Neben seiner Mutter bleibend, teilte er ihre Angst, bekundete eine ganz ungewohnte Liebe für die Schwester und wollte nicht glauben, daß diese noch unten sei, solange die Vorgesetzten dies nicht in amtlicher Form bestätigt hätten.
»Die Namen! Die Namen! Um Gottes willen, sagt uns die Namen!«
So waren zwei Stunden verflossen. Im ersten Schrecken hatte niemand an den andern Schacht gedacht, an den alten Schacht von Réquillart. Herr Hennebeau verkündete eben, daß man das Rettungswerk von jener Seite versuchen werde, daß fünf Arbeiter sich aus der ersäuften Grube gerettet hatten, indem sie die morschen Leitern des alten Schachtes erstiegen. Man nannte den Vater Mouque; dies überraschte jedermann; man hatte nicht geglaubt, daß er unten sei. Doch die Mitteilungen der Geretteten vermehrten noch den Jammer: fünfzehn Kameraden hätten ihnen nicht folgen können; sie hätten sich verirrt, seien durch Verschüttungen abgeschnitten; es sei nicht möglich, ihnen zu Hilfe zu kommen, denn es ständen zehn Meter Wasser im Réquillartschachte. Man kannte jetzt alle Namen, und die Luft widerhallte von dem Jammergeheul.
»Heißt sie doch schweigen!« wiederholte Negrel wütend. »Sie sollen auf eine Entfernung von hundert Metern zurückweichen. Denn es ist hier Gefahr. Drängt sie zurück!«
Man mußte sich dieser armen Leute erwehren; sie bildeten sich noch andere Unglücksfälle ein; man jagte sie davon, um Tote vor ihnen zu verbergen. Die Aufseher mußten ihnen erklären, daß der Schacht die Grube verschlingen werde. Dieser Gedanke ergriff sie in dem Maße, daß sie stumm blieben; sie ließen sich schließlich Schritt für Schritt zurückdrängen, aber man mußte die Wachen verdoppeln, die sie zurückhielten; denn sie kamen unwillkürlich immer wieder, gleichsam angezogen durch die Grube. Etwa tausend Personen drängten sich auf der Straße; man lief aus allen Arbeiterdörfern herbei, selbst aus Montsou. Der Mann auf dem Hügel aber – der blonde Mann mit dein Mädchengesichte – rauchte Zigaretten, um sich die Zeit zu vertreiben und wandte die hellen Augen nicht von der Grube.
Jetzt begann das Harren. Es war Mittag; niemand hatte gegessen, und dennoch entfernte sich niemand. Am nebeligen, schmutzig-grauen Himmel zogen langsam rostfarbene Wolken dahin. Hinter der Hecke der Rasseneurschen Schenke ließ ein großer Hund, den der lebendige Hauch der Menge reizte, ein unaufhörliches, wütendes Gebell vernehmen. Und diese Menge hatte sich allmählich über die anstoßenden Felder verbreitet und – in einer Entfernung von etwa hundert Metern – einen Kreis um die Grube geschlossen. Mitten in dem eingeschlossenen, großen Raume erhoben sich die Gebäude der Voreuxgrube. Keine Seele und kein Geräusch, wie in der Wüste; Fenster und Türen blieben offen und gestatteten eine Einsicht in die verlassenen inneren Räume. Eine rote Katze, die man dort vergessen hatte, witterte ohne Zweifel die Gefahr dieser Einsamkeit, sprang von einer Treppe herab und verschwand. Die Kesselfeuer waren ohne Zweifel eben erst ausgegangen, denn der aus roten Ziegeln erbaute hohe Schlot sandte leichte Rauchwölkchen zu dem düsteren Himmel empor, während der Wetterhahn des Schachtturmes im Winde krächzte und ein schrilles Kreischen vernehmen ließ, die einzige trübselige Stimme in diesen dem Tode geweihten, weitläufigen Bauten.
Um zwei Uhr hatte sich noch nichts gerührt. Herr Hennebeau, Negrel und andere Ingenieure, die herbeigeeilt waren, bildeten vor der Menge eine besondere Gruppe von schwarzen Röcken und Hüten. Auch sie wollten sich nicht entfernen; ihre Beine waren von der Müdigkeit wie gebrochen; sie fieberten und waren krank, weil sie machtlos einem solchen Unglück beiwohnen mußten; sie tauschten nur wenige Worte im Flüstertone aus, als stünden sie am Bette eines Sterbenden. Die obere Verdämmung mußte vollends zusammengebrochen sein; man hörte plötzliche, laute, abgerissene Geräusche, wie wenn Gegenstände in die Tiefe stürzen; dann trat wieder tiefe Stille ein. Die Wunde ward immer größer; der Einsturz, der unten begonnen hatte, rückte höher, näherte sich der Oberfläche. Eine nervöse Ungeduld hatte sich Negrels bemächtigt; er wollte sehen und wagte sich vor in der erschreckenden Leere, als ihn mehrere an den Schultern faßten. Wozu denn? Er konnte nichts verhindern. Ein alter Bergmann täuschte indessen die Wachsamkeit der Aufseher und lief zur Baracke; doch kehrte er sogleich ruhig zurück, er hatte nur seine Holzschuhe geholt.
Es schlug drei Uhr. Nichts regte sich. Ein Platzregen hatte die Menge durchnäßt, ohne daß sie zurückwich. Rasseneurs Hund bellte jetzt wieder. Um drei Uhr zwanzig Minuten erschütterte ein erster Stoß die Erde. Der Voreux erzitterte dabei, stand aber noch fest und aufrecht. Sogleich folgte ein zweiter Stoß, und ein langgedehnter Schrei entrang sich den offenen Mündern: der Sichtungsschuppen hatte zweimal geschwankt und war dann mit ungeheurem Krachen eingestürzt. Unter dem ungeheuren Druck brachen die Balken und rieben sich so gewaltig aneinander, daß ganze Funkengarben aufstoben. Von diesem Augenblicke an hörte die Erde nicht mehr auf zu zittern; Stöße folgten aufeinander, unterirdische Einstürze, begleitet von dem dumpfen Grollen eines feuerspeienden Vulkans. Der Hund in der Ferne bellte nicht mehr, sondern stieß ein klagendes Geheul aus, wie um die Schwankungen der Erde anzukündigen, die er kommen fühlte; und die Weiber und Kinder, all das Volk, das da schaute, konnte einen Jammerschrei nicht zurückhalten bei jedem Ruck, der sie hob. In weniger denn zehn Minuten war das Schieferdach des Schachtturmes eingestürzt; der Aufnahmesaal und der Maschinenraum zeigten Risse, die sich zu großen Breschen erweiterten. Dann verstummten die Geräusche, der Einsturz machte Halt, und es trat wieder tiefe Stille ein.
Etwa eine Stunde lang wurde der Voreux in dieser Weise in Stücke gerissen, wie von einem Barbarenheer bombardiert. Man schrie nicht mehr; der erweiterte Kreis von Zuschauern betrachtete die Geschehnisse. Unter den zuhauf liegenden Balken des Sichtungswerkes sah man zertrümmerte Karren und verbogene Trichter. Aber ganz besonders im Aufnahmesaale häuften sich die Trümmer mitten in einem Regen von Ziegeln, unter Mauerteilen, die in ganzen Stücken niedersanken und in Schutt zerfielen. Das eiserne Gebälk, welches die Spornräder trug, hatte sich geneigt und war halb eingesunken; eine Förderschale blieb daran hängen; oben baumelte das Ende einer abgerissenen Kette; außerdem gab es ein ganzes Durcheinander von Karren, gußeisernen Platten und Leitern. Durch einen seltsamen Zufall war die Lampenkammer verschont geblieben und zeigte links die hellen Reihen ihrer kleinen Lampen. Im Hintergrunde des jetzt offen liegenden Maschinenraumes sah man die Maschine fest auf ihrem gemauerten Unterbau ruhen; die kupfernen Bestandteile schimmerten; die großen, stählernen Glieder hatten das Aussehen von unverwüstlichen Muskeln; die ungeheure in der Luft eingebogene Treibstange glich dem mächtigen Knie eines Riesen, der in seiner gewaltigen Stärke ruhig da liegt.
Nachdem eine Stunde ohne neuerliche Erschütterung verflossen war, schöpfte Herr Hennebeau wieder Hoffnung. Die Bewegung des Erdreiches mußte jetzt zu Ende sein, man werde wenigstens die Maschinen und den Rest der Gebäude retten können. Aber er verbot noch immer jede Annäherung; er wollte noch eine halbe Stunde warten. Das Warten aber wurde unerträglich; die Hoffnung verdoppelte die Angst; alle Herzen schlugen stürmischer. Ein rasch anwachsendes Gewölk am Horizonte beschleunigte die Dämmerung; ein düsterer Abend breitete sich über die Trümmer, welche der Sturm der Erde ausgestreut. Seit sieben Stunden standen die Leute da, ohne sich zu rühren und ohne zu essen.
Plötzlich wurden die Ingenieure, als sie sich vorsichtig näher wagten, durch eine letzte Erschütterung der Erde in die Flucht gejagt. Unterirdische Schläge wurden hörbar; eine ungeheure Artillerie beschoß den Abgrund. Auf der Oberfläche stürzten die letzten noch stehenden Gebäude zusammen. Zuerst wurden die Trümmer des Sichtungsschuppens und des Aufnahmesaales wie von einem Wirbelwinde davongetragen. Dann barst das Kesselhaus und verschwand. Jetzt kam die Reihe an den viereckigen Turm, in dem die Schöpfpumpe ächzte; er fiel nach vorn zu Boden wie ein Mensch, den eine Kanonenkugel niedergeworfen. Und dann bot sich ein fürchterlicher Anblick: man sah die Maschine, die zerrissen, mit ausgereckten Gliedern auf ihrem Unterbau ruhte, gegen den Tod ankämpfen: sie setzte sich in Bewegung, streckte ihre Treibstange –- ihr Riesenknie –- aus, wie um sich zu erheben; doch sie mußte sterben, sie ward zermalmt und verschlungen. Nur der dreißig Meter hohe Schlot stand noch aufrecht, wenngleich geschüttelt wie ein Mast im Sturme. Man glaubte schon, er werde sich zerbröckeln und als Staubwolke auffliegen, als er plötzlich mit einem Ruck gänzlich versank, von der Erde eingesogen, geschmolzen wie eine Riesenkerze; nichts ragte aus der Erde hervor, nicht einmal die Spitze des Blitzableiters. Es war aus; das böse Ungetüm, das in der Grube hockte und sich mit Menschenfleisch nährte, ließ nicht mehr seinen lauten, langen Atem hören. Der Voreuxschacht war vollständig im Abgrunde versunken.
Heulend floh die Menge. Die Weiber flüchteten mit den Händen vor den Augen. Der Schrecken jagte die Männer wie ein Häuflein welker Blätter. Man wollte nicht schreien und schrie dennoch auf mit geschwellter Kehle und fuchtelnden Armen angesichts des ungeheuren Loches, das sich aufgetan hatte. Dieser Krater – dem eines erloschenen Vulkans gleich – hatte eine Tiefe von fünfzehn Metern und dehnte sich von der Straße bis zum Kanal aus, mindestens vierzig Meter breit. Der ganze Werkshof war den Gebäuden nachgefolgt: die riesigen Gerüste, die Brücken mit ihren Schienen, ein vollständiger Zug, drei Waggons, den Holzvorrat ungerechnet, ein ganzer Wald von geschnittenen Stangen – verschlungen, als wären es Strohhalme. Am Grunde dieses Loches sah man nur ein Wirrsal von Balken, Ziegeln, Eisen, Mörtel, greuliche Reste, aufgehäuft, durcheinandergeworfen, beschmutzt in dieser Tollwut der Katastrophe. Und das Loch rundete sich noch weiter aus; von den Rändern gingen Risse aus, verlängerten sich quer durch die Felder. Ein solcher Spalt reichte bis zur Schenke Rasseneurs, deren Stirnwand geborsten war. Sollte etwa das ganze Dorf zugrunde gehen? Wie weit mußte man fliehen, um sicher zu sein an diesem Schreckensabend, unter diesem bleischweren Gewölk, das ebenfalls die Welt erdrücken zu wollen schien?
Doch Negrel stieß jetzt einen Schmerzensschrei aus und Herr Hennebeau, über dessen Antlitz die hellen Zähren liefen, wich noch weiter zurück. Das Unglück war noch nicht vollständig; einer der Kanaldämme brach, und der Kanal ergoß sich plötzlich als schäumende Masse in einen der Risse. Er verschwand daselbst, stürzte hinein wie ein Wasserfall in ein tiefes Tal. Die Grube soff den Fluß; die Flut ersäufte die Galerien auf Jahre hinaus. Bald füllte sich der Krater; wo früher der Voreux gewesen, war jetzt ein See schmutzigen Wassers, jenen Seen gleichend, unter denen die verwunschenen Städte schlafen. Eine Stille des Entsetzens war eingetreten; man hörte nichts mehr als den Sturz dieses Wassers, das in den Eingeweiden der Erde brauste.
Jetzt erhob sich Suwarin auf dem Hügel, der gleichfalls gewankt hatte. Er hatte Frau Maheu und Zacharias erkannt, die schluchzend vor diesem Einsturze standen, der so schwer auf die Köpfe der Unglücklichen drückte, die unten dem Tode geweiht waren. Er warf seine letzte Zigarette weg und entfernte sich – ohne einen Blick nach rückwärts – in der finsteren Nacht. Sein Schatten wurde immer kleiner und verlor sich schließlich in der Finsternis. Er ging fort, weit, weit, ins Unbekannte. Er ging mit ruhiger Miene ans Werk der Vernichtung; überallhin, wo es Dynamit gab, um die Städte und die Menschen in die Luft zu sprengen. Wenn das sterbende Bürgertum bei jedem seiner Schritte den Boden wanken fühlt, ist es sein Werk!