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Die in Montsou gefallenen Schüsse wurden in einem furchtbaren Widerhall bis Paris gehört. Seit vier Tagen waren alle regierungsfeindlichen Zeitungen entrüstet und brachten haarsträubende Schilderungen: fünfundzwanzig Verwundete, vierzehn Tote, darunter zwei Kinder und drei Frauen; außerdem waren Gefangene gemacht. Levaque war eine Art Held geworden; man erzählte sich, daß er dem Untersuchungsrichter eine Antwort von wahrhaft antiker Würde gegeben habe. Das Kaiserreich, von diesen wenigen Kugeln schwer getroffen, hüllte sich in das Schweigen der Allmacht und war sich des Ernstes der ihm zugefügten Schädigung nicht bewußt. Es war einfach ein bedauerlicher Zusammenstoß; eine Sache, die sich weit unten im schwarzen Lande verlief, fern von dem Pariser Pflaster, wo die öffentliche Meinung gemacht wurde. Man werde es bald vergessen. Die Gesellschaft erhielt auf halbamtlichen Wege die Weisung, die Geschichte zu unterdrücken und ein Ende zu machen mit diesem Streik, dessen ärgerlich lange Dauer eine soziale Gefahr zu werden drohe.
Man sah denn auch schon am Mittwoch morgen drei Verwaltungsräte in Montsou eintreffen. Das Städtchen, das in schwerem Mißbehagen bis jetzt nicht gewagt hatte, seine Genugtuung über das Gemetzel zu zeigen, atmete auf und genoß die Freude, endlich gerettet zu sein. Das Wetter war schön geworden; es herrschte heller Sonnenschein, dessen Wärme – obgleich man erst im Februar war – die Spitzen des Flieders grün färbte. Im Fabrikhofe waren alle Fensterläden geöffnet; neues Leben schien in das weite Gebäude einzuziehen. Es kamen von dort sehr gute Nachrichten; es hieß, die Herren seien sehr betrübt über die Katastrophe und gekommen, den verirrten Arbeitern ihre väterlichen Arme zu öffnen. Jetzt, nachdem der Streich geführt war und zwar stärker, als sie gewollt, widmeten sie sich mit voller Hingebung dem Rettungswerke und trafen – allerdings etwas spät – ganz vortreffliche Maßnahmen. Vor allem entließen sie die belgischen Arbeiter und machten großen Lärm von diesem ihren Leuten bewilligten Zugeständnisse. Dann ließen sie die militärische Besatzung der Gruben aufheben, die übrigens von den zu Boden geschmetterten Bergleuten nicht mehr bedroht waren. Sie setzten es auch durch, daß Stillschweigen beobachtet wurde wegen der vom Hügel der Voreuxgrube verschwundenen Schildwache. Man hatte die ganze Gegend durchsucht, ohne die Leiche oder das Gewehr zu finden; man entschloß sich, den Soldaten als fahnenflüchtig zu betrachten, wenngleich man ein Verbrechen vermutete. Sie bemühten sich, die Ereignisse in jeder Hinsicht milder darzustellen; denn sie hatten angst vor dem kommenden Tag und hielten es für gefährlich einzugestehen, mit welcher unwiderstehlichen Wildheit die Menge hausen würde, wenn sie einmal gegen das morsche Gebälk der alten Welt losgelassen wäre. Dieses Versöhnungswerk hinderte sie übrigens nicht, reine Verwaltungsgeschäfte abzuwickeln; man hatte Herrn Deneulin wieder im Fabrikhofe erscheinen sehen, wo er eine Begegnung mit Herrn Hennebeau hatte. Die Verhandlungen wegen Ankaufes der Vandamegrube wurden wiederaufgenommen, und man versicherte, daß Deneulin das Angebot der Verwaltungsräte annehme.
Ganz besonders brachten die Gegend in Aufregung große, gelbe Anschlagzettel, welche die Verwaltung in Menge an die Mauern schlagen ließ. Man las darauf in sehr großer Schrift die folgenden wenigen Zeilen:
»Arbeiter von Montsou!
Wir wollen nicht, daß die Verirrungen, deren traurige Folgen ihr in den jüngsten Tagen gesehen habt, die gutgesinnten und vernünftigen Arbeiter ihrer Existenzmittel berauben. Wir werden am Montagmorgen alle Gruben wieder eröffnen, und wenn die Arbeit wiederaufgenommen ist, werden wir sorgfältig und wohlwollend prüfen, wie die Lage verbessert werden kann. Wir werden alles tun, was recht und möglich ist.«
An einem einzigen Vormittag zogen zehntausend Bergleute an diesen Anschlagzetteln vorüber. Kein einziger sprach ein Wort; viele schüttelten die Köpfe; andere gingen mit schleppenden Schritten weiter, ohne daß eine Falte in ihrem unbeweglichen Gesicht gezuckt hätte.
Bisher hatte das Dorf der Zweihundertundvierzig hartnäckig in seinem trotzigen Widerstande ausgeharrt. Es schien, als habe das Blut der Kameraden, das den Schmutz der Grube gerötet, den übrigen den dahinführenden Weg verrammelt. Kaum zehn Mann waren angefahren. Pierron und einige Verräter seines Schlages, deren Ein- und Ausfahrt man mit trotziger Miene, aber ohne eine Bewegung und ohne eine Drohung mit ansah. Der Anschlagzettel an der Kirchenmauer wurde mit dumpfem Mißtrauen aufgenommen. In ihm war nichts von den zurückgestellten Arbeitsbüchern erwähnt; weigerte sich die Gesellschaft etwa, sie zurückzunehmen? Die Furcht vor der Vergeltung, die brüderliche Auflehnung gegen Entlassung der zumeist bloßgestellten Kameraden bestärkte sie alle in ihrer Hartnäckigkeit. Die Sache sei verdächtig, sagten sie; man müsse sehen, was daraus werden solle, und werde anfahren, wenn die Herren sich offen erklären. Eine drückende Stille lag auf den niedrigen Häusern; der Hunger war nichts mehr; alle konnten sterben, seitdem der gewaltsame Tod über die Dächer hinweggefahren.
Das Haus der Maheu besonders lag finster und stumm in seiner düsteren Trauer. Seitdem die Maheu ihren Mann zu Grabe getragen, hatte sie den Mund nicht mehr geöffnet. Nach dem Kampfe hatte sie geschehen lassen, daß Etienne die halb tote, über und über mit Schmutz bedeckte Katharina in das Elternhaus zurückführte; als sie sie vor dem jungen Manne entkleidete, um sie zu Bett zu bringen, glaubte sie einen Augenblick, daß auch ihre Tochter mit einer Kugel im Leibe zurückgekehrt sei, denn am Hemde zeigten sich große Blutflecke. Aber sie begriff alsbald: es war der Strom der Reife, der unter den Erschütterungen dieses furchtbaren Tages endlich hervorbrach. Wieder ein Glücksfall, diese Wunde! Ein schönes Geschenk, Kinder machen zu können, die später von den Gendarmen ermordet werden sollten. Sie sprach kein Wort zu Katharina, noch auch zu Etienne. Dieser schlief bei Johannes auf die Gefahr hin verhaftet zu werden, von einem solchen Widerstreben gegen den Gedanken an eine Rückkehr nach der Réquillartgrube erfaßt, daß er das Gefängnis vorzog; ein Schauder schüttelte ihn, das Entsetzen vor der Nacht nach so vielen Morden, die uneingestandene Furcht vor dem kleinen Soldaten, der dort unter den Felsen schlief. In dem Kummer über seine Niederlage erschien ihm übrigens das Gefängnis wie ein Zufluchtsort; doch man behelligte ihn nicht, und er brachte seine Stunden trostlos hin; er wußte nicht, wie er seinen Körper ermüden solle. Zuweilen betrachtete die Maheu beide, ihn und ihre Tochter, mit einer grollenden Miene, die zu fragen schien, was sie in ihrem Hause suchten.
Jetzt schnarchten wieder alle in einem Haufen; der Vater Bonnemort hatte das frühere Bett der beiden Kleinen, die jetzt bei Katharina schliefen, weil die arme Alzire nicht mehr ihren Höcker der großen Schwester in die Seiten stieß. Erst wenn sie schlafen ging, fühlte die Mutter so recht die Leere des Hauses an der Kälte des Bettes, das ihr zu breit geworden. Vergebens nahm sie Estelle zu sich, um die Lücke auszufüllen; es war kein Ersatz für ihren Mann. Stundenlang weinte sie still für sich hin. Dann nahmen die Tage wieder ihren Lauf wie ehedem; man hatte noch immer kein Brot und auch keine Aussicht, auf einmal hinzuwerden; rechts und links ward allerlei Zeug aufgelesen, das den Bejammernswerten den Dienst erwies, ihr Leben zu verlängern. Nichts hatte sich in ihrem Leben geändert; nur ihr Mann war nicht mehr da.
Am Nachmittag des fünften Tages verließ Etienne, gequält durch den Anblick dieses stillen Weibes, die Wohnstube und ging mit langsamen Schritten die gepflasterte Straße des Dorfes hinab. Die Untätigkeit, die ihn bedrückte, drängte ihn zu unaufhörlichen Spaziergängen, bei denen er, immer von dem nämlichen Gedanken heimgesucht, mit hängenden Armen und gesenktem Kopfe dahinschritt. Er mochte so seit einer halben Stunde auf der Straße fortgegangen sein, als ein erhöhtes Unbehagen ihn merken ließ, daß die Kameraden vor die Haustüren traten und ihm nachsahen. Das Wenige, was ihm von seiner Volkstümlichkeit noch geblieben, war mit den Schüssen verflogen; er konnte nicht mehr durch die Straße gehen, ohne haßerfüllten Blicken zu begegnen. Wenn er das Haupt erhob, sah er Männer in drohender Haltung auf der Schwelle der Haustüren; die Weiber schoben die kleinen Vorhänge von den Fenstern weg, um hinauszuschauen; und bei dieser stummen Anklage, bei dem unterdrückten Zorn, der aus diesen großen, durch Hunger und Tränen erweiterten Augen funkelte, verlor er seine Fassung und die Sicherheit seines Ganges. Die stummen Vorwürfe wuchsen hinter ihm immer mehr an. Angesichts dieses ganzen Dorfes, das auf die Straße herauskam, um ihm sein Elend ins Gesicht zu schreien, ward er von einer solchen Furcht erfaßt, daß er zusammenfuhr und den Rückweg antrat.
Doch die Szene, die ihn erwartete, verstörte ihn vollends. Der alte Bonnemort saß neben dem kalten Kamin, auf seinem Sessel festgenagelt, seitdem zwei Nachbarn am Tage des Gemetzels ihn neben seinem zersplitterten Stabe, wie einen vom Blitz gefällten alten Baum, auf der Erde liegend gefunden hatten. Während Leonore und Heinrich, um ihren Hunger zu täuschen, mit betäubendem Geräusch eine alte Schüssel auskratzten, in der am vorhergehenden Tage Kohl gekocht worden, drohte die Maheu, die aufrecht vor dem Tische stand, auf den sie Estelle gelegt hatte, ihrer Tochter Katharina mit der Faust.
»Sag' das noch einmal!« schrie sie.
Katharina hatte ihre Absicht ausgesprochen, nach der Voreuxgrube zurückzukehren. Der Gedanke, ihr Brot nicht zu erwerben, bei ihrer Mutter nur geduldet zu werden wie ein lästiges, unnützes Tier, ward ihr mit jedem Tage unerträglicher. Hätte sie nicht einen bösen Streich von seiten Chavals gefürchtet, sie wäre schon am Dienstag angefahren.
»Was willst du? Man kann nicht müßig leben«, stammelte sie. »Wir haben dann wenigstens Brot.«
Die Maheu unterbrach sie.
»Höre, ich erwürge den ersten von euch, der zur Arbeit zurückkehrt ... Es wäre zu stark, den Vater zu töten und dann die Kinder auszubeuten! Es ist genug; lieber will ich euch alle zwischen vier Brettern hinaustragen sehen, wie den, der schon von hinnen ist.«
Nach ihrem langen Stillschweigen machte sich jetzt ihr Zorn in einer Flut von Worten Luft. Was Katharina bringen könnte, würde ihr wenig nützen: kaum dreißig Sous, zu denen noch zwanzig Sous hinzukämen, wenn die Vorgesetzten für den Banditen Johannes irgendeine Arbeit fänden. Fünfzig Sous und sieben Mäuler zu stopfen! Die kleinen Kinder waren nur dazu gut, Suppe zu fressen. Beim Großvater müsse bei seinem Fall etwas im Gehirn gerissen sein, denn er scheine ganz schwachsinnig; oder es habe ihn der Schlag gerührt, als er die Soldaten auf die Kameraden schießen sah.
»Nicht wahr, Alter, sie haben euch vollends heruntergebracht? Es nützt euch nichts, daß ihr noch starke Fäuste habt; ihr seid ›fertig‹.«
Bonnemort schaute sie mit seinen erloschenen Augen an, ohne zu verstehen. Er verharrte so stundenlang mit starren Blicken; er hatte nur noch soviel Verstand, in eine mit Sand gefüllte Platte zu speien, die man der Reinlichkeit halber neben ihr hingestellt hatte.
»Sie haben auch seine Pension nicht geregelt,« fuhr sie fort; »ich bin überzeugt, sie werden wegen unseres Verhaltens ihm seine Altersversorgung vorenthalten. Nein, es ist zuviel mit diesen Unglücksmenschen! ...«
»Aber,« fiel Katharina ein, »sie versprechen doch auf dem Anschlagzettel ...«
»Laß mich in Frieden mit dem Anschlagzettel ... Das ist wieder nur ein Köder, um uns zu fangen und aufzufressen. Sie können jetzt die guten Leute spielen, nachdem sie uns die Haut durchlöchert haben.«
»Aber wo gehen wir dann hin, Mutter? Man wird uns sicher nicht im Dorfe behalten...«
Die Maheu machte eine ungewisse, furchtbare Gebärde. Wohin sie gehen würden? Sie wußte es nicht und dachte auch nicht daran, denn es raubte ihr den Verstand. Sie würden anderswohin, irgendwohin gehen. Da der Lärm mit der Schüssel zu arg wurde, fiel sie über die Kleinen her und prügelte sie. Estelle, die schon auf allen Vieren kroch, fiel jetzt, und ihr Geschrei vermehrte noch den Lärm. Die Mutter schrie sie an, um sie still zu machen. Welch ein Glück wäre es gewesen, wenn die Kleine sich zu Tode gefallen hätte! Sie sprach von Alzire und wünschte den anderen Kindern dasselbe Schicksal. Dann plötzlich brach sie in Schluchzen aus und weinte – den Kopf an die Wand gelehnt – lange für sich hin.
Etienne stand mitten in der Stube; er hatte nicht den Mut sich einzumengen. Er galt im Hause nichts mehr; selbst die Kinder wichen mißtrauisch vor ihm zurück. Aber die Tränen dieses unglücklichen Weibes bedrückten ihm das Herz.
»Mut, Mut!« sagte er tröstend. »Wir werden suchen, wieder in Ordnung zu kommen.«
Sie schien ihn nicht zu hören und fuhr in ihrer leisen Klage fort.
»Ist's denn möglich? Vor diesen Schreckensgeschichten ging es noch. Man aß sein trockenes Brot, aber man war doch beisammen... Was ist denn geschehen?... Was haben wir getan, daß so schweres Leid über uns gekommen ist? Daß die einen unter der Erde liegen und die anderen nichts sehnlicher wünschen, als ebenfalls dahin zu kommen?... Man spannte uns wie Pferde vor die Arbeit; es war keine gerechte Teilung, daß wir die Stockstreiche empfingen, das Vermögen der Reichen vermehren halfen ohne Hoffnung, jemals etwas Gutes zu genießen. Man hat keine Lust zu leben, wenn man keine Hoffnung mehr hat. Ja, es konnte so nicht länger dauern; man mußte ein wenig Luft schöpfen... Und doch, wenn man gewußt hätte! Ist es möglich, daß man so unglücklich werden kann, weil man die Gerechtigkeit gewollt hat!«
Seufzer schwellten ihr die Kehle, ihre Stimme erstarb in einer unendlichen Trauer.
»Immer sind Schlauköpfe da, die einem versprechen, daß noch alles in Ordnung kommen kann, wenn man sich nur die Mühe gibt... Man setzt sich allerlei Dinge in den Kopf und leidet soviel durch das, was ist, daß man nach dem verlangt, was nicht ist. Ich träumte schon wie ein Tier; ich sah ein Leben der Freundschaft mit aller Welt; ich schwebte in der Luft zu den Wolken empor. Da stürzt man in den Dreck und zerbricht sich die Knochen. Das Elend kam, mehr als man wollte, und Flintenschüsse dazu...
Etienne hörte dieses Wehklagen mit an, und jede Träne ging ihm an das Gewissen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, um Frau Maheu zu beruhigen, die ganz gebrochen war durch ihren furchtbaren Sturz aus der Höhe des Ideals. Sie war mitten in die Stube getreten, schaute ihm ins Gesicht und rief in einer letzten Aufwallung irrer Wut:
»Und was ist's mit dir? Redest du auch davon, zur Grube zurückzukehren, nachdem du uns alle ins Unglück gebracht hast?... Ich will dir keinen Vorwurf machen, aber an deiner Stelle wäre ich schon tot vor Kummer darüber, soviel Elend über die Kameraden gebracht zu haben.
Er wollte antworten; doch begnügte er sich, mit verzweifelter Miene die Achseln zu zucken. Wozu sollte er ihr Erklärungen geben, die sie in ihrem Schmerze nicht verstehen würde? Weil ihn das Leid zu sehr bedrückte, ging er wieder fort und nahm seine ziellose Wanderung wieder auf.
Das Dorf schien noch immer ihn zu erwarten, die Männer auf den Türschwellen, die Weiber an den Fenstern. Sobald er erschien, ging ein Gemurmel durch die Menge, die immer mehr anwuchs. Das Gerede der Klatschbasen schwoll seit vier Tagen an und brach jetzt in einer allgemeinen Verwünschung los. Fäuste wurden nach ihm ausgestreckt; Mütter zeigten ihn ihren Söhnen mit wütender Gebärde; die Alten spien aus, wenn sie ihn erblickten. Es war der Umschwung nach der Niederlage, die verhängnisvolle Kehrseite der Volkstümlichkeit; ein Abscheu, verschärft durch alle Leiden, die man nutzlos zu ertragen hatte. Er sollte den Hunger und den Tod entgelten.
Zacharias, der eben mit Philomene ankam, stieß Etienne an, als dieser aus dem Hause heraustrat. Er grinste höhnisch und rief in boshaftem Tone:
»Schau, wie fett er wird! Die Haut der anderen scheint ihn zu mästen!«
Schon erschien die Levaque, von Bouteloup begleitet, auf der Schwelle ihrer Haustür. Sie sprach von Bebert, ihrem Knaben, den eine Kugel niedergestreckt hatte.
»Ja, es gibt Feiglinge, welche die Kinder niedermetzeln lassen!« schrie sie. »Mag er das meine aus der Erde holen, wenn er es mir wiedergeben will!«
Sie hatte ihren Mann vergessen, der eingesperrt war; im Haushalte trat keine Stockung ein, denn Bouteloup war da. Doch jetzt erinnerte sie sich und fuhr mit schriller Stimme fort:
»Die Schurken sieht man lustwandeln, während die rechtschaffenen Leute im Kühlen sitzen.«
Als Etienne ihr ausweichen wollte, begegnete er Frau Pierron, welche durch die Gärten herbeieilte. Diese hatte den Tod Ihrer Mutter wie eine Erlösung begrüßt, denn die Heftigkeit der Alten hatte dem Ehepaar viel Verdruß verursacht; sie weinte auch nicht um die Tochter ihres Mannes, die Gassendirne Lydia; sie war vielmehr ordentlich froh, diese los zu sein. All dies hinderte sie aber nicht, es jetzt mit den Nachbarinnen zu halten; es war eine Gelegenheit, sich auszusöhnen.
»Und meine Mutter? Sprich! Und das Kind! Man hat dich gesehen, wie du dich hinter ihnen verstecktest, als sie statt deiner die Kugeln empfingen!«
Was sollte er tun? Die Pierron und die anderen erdrosseln, es mit dem ganzen Dorfe aufnehmen? Einer? Augenblick hatte er Lust dazu. Das Blut stieg ihm zu Kopfe; er behandele seine Kameraden als Tiere. Es verdroß ihn, sie dermaßen dumm zu sehen, daß sie wegen der Tatsachen sich an ihn hielten. War es nicht blöd? Ein Abscheu ergriff ihn, als er sich ohnmächtig sah, sie von neuem zu bändigen, und er begnügte sich, die Schritte zu beschleunigen, als sei er taub gegen alle Verwünschungen. Doch sein Gang ward bald zur Flucht; aus jedem Hause flogen ihm Beschimpfungen zu, man war wütend hinter ihm her; ein ganzes Volk verfluchte ihn mit immer mächtiger anschwellender Stimme in seinem überströmenden Hasse. Er war der Ausbeuter, der Mörder, die einzige Ursache alles Unglücks. Bleich und seiner Sinne nicht mehr mächtig rannte er aus dem Dorfe, die heulende Bande hinter ihm her. Auf der Straße ließen viele von ihm ab, einige jedoch waren hartnäckig und hielten aus; da, vor der Schenke »zum wohlfeilen Trunk« stieß er auf eine andere Gruppe, die aus dem Voreuxschachte kam.
Der alte Mouque und Chaval waren da. Seit dem Tode seiner Tochter Mouquette und seines Sohnes Mouquet hatte der Alte seinen Stallwärterdienst fortgesetzt, ohne ein Wort des Bedauerns oder der Klage hören zu lassen. Doch als er Etienne bemerkte, ward er von einem Wutanfall geschüttelt, die Tränen stürzten aus seinen Augen und eine Flut von gröblichen Schimpfreden aus seinem schwarzen, blutigen Mund.
»Schwein! Saukerl! Halunke!... Wart! Du sollst mir meine armen Kinder entgelten! Du mußt ihnen nach!«
Er hob einen Ziegel auf, zerbrach ihn und schleuderte die beiden Stücke nach Etienne.
»Ja, ja, wir wollen ihn kriegen!« rief Chaval höhnisch, voll Freude über diese Rache. »Jeder kommt an die Reihe... Nun klebst du an der Mauer, schmutziger Lumpenkerl!«
Auch er stürzte sich mit Steinwürfen auf Etienne. Ein wildes Geschrei erhob sich; alle ergriffen Ziegel, zerbrachen sie und schleuderten sie nach ihm, um ihn »auszuweiden«, wie sie die Soldaten hatten ausweiden wollen. Er hatte den Kopf verloren und floh nicht mehr; er hielt ihnen stand und suchte sie mit Worten zu beschwichtigen. Seine früheren Reden, die ehemals mit so warmem Beifall aufgenommen waren, drängten sich ihm wieder auf die Lippen. Er wiederholte die Worte, mit denen er sie betäubt hatte zu jener Zeit, als er sie in seiner Gewalt hatte wie eine getreue Herde; allein seine Macht war tot, nur Steine waren die Antwort. Da traf ihn ein Wurf am linken Arm; er wich zurück, die Gefahr war groß, er war an die Mauer des Wirtshauses gedrängt worden.
Seit einer Weile stand Rasseneur auf der Schwelle.
»Komm herein!« sagte er einfach.
Etienne zögerte; es bedrückte ihn der Gedanke, hier Zuflucht zu suchen.
»Komm herein; ich will mit den Leuten reden.«
Er entschloß sich und verbarg sich im Hintergrunde des Saales, während der Schankwirt mit seinen breiten Schultern den Eingang verstellte.
»Höret, meine Freunde, nehmet doch Vernunft an!... Ihr wißt wohl, daß ich euch niemals getäuscht habe. Ich war stets für die Ruhe; hättet ihr mir Gehör gegeben, ihr wäret heute gewiß nicht dort, wo ihr seid.«
Die Schultern und den Leib wiegend, sprach er lange in diesem Tone; seine leichte Beredsamkeit sprudelte wohltuend und besänftigend hervor wie warmes Wasser. Sein ehemaliger Erfolg stellte sich voll und ganz wieder ein; er gewann seine Volkstümlichkeit wieder ohne Anstrengung ganz natürlich, als hätten die Kameraden nicht einen Monat früher ihn verhöhnt und einen Feigling geschimpft. Einzelne Stimmen gaben ihm recht. Sehr gut! Man halte zu ihm, hieß es. So müsse man reden. Alle klatschten ihm Beifall.
Etienne im Saale fühlte seine Kräfte schwinden und sein Herz mit Bitternis sich füllen. Er erinnerte sich, was Rasseneur im Walde ihm vorausgesagt, wie er ihm mit dem Undank der Menge gedroht hatte. Welch' blöde Roheit! welch' schmähliches Vergessen der geleisteten Dienste! Es war eine blinde Macht, die fortwährend sich selbst verzehrte. Unter seinem Zorn über diese Unvernünftigen, die so ihre Sache verdarben, barg sich die Verzweiflung über den eigenen Sturz, über das traurige Ende seines ehrgeizigen Strebens. Wie? War es schon aus? Er erinnerte sich, daß unter den Buchen des Waldes von Vandame dreitausend Herzen unter der Macht seiner Worte höher geschlagen hatten. An jenem Tage hatte er seine Volkstümlichkeit in beiden Händen; dieses Volk gehörte ihm; er fühlte sich als sein Herr. Wahnsinnige Träume hatten ihn damals betäubt; Montsou lag zu seinen Füßen; er sah sich als Abgeordneten in Paris, die Spießbürger mit einer Rede zu Boden schmetternd, der erste Arbeiter auf der Parlamentstribüne. Jetzt war's aus! Er erwachte als ein Erbärmlicher und Verachteter; sein Volk schickte ihn mit Steinwürfen heim.
Rasseneurs Stimme erhob sich von neuem.
»Die Gewalt hat niemals zu einem Erfolg geführt; man kann die Welt nicht in einem Tage ändern. Die euch versprochen haben, alles mit einem Schlage zu ändern, sind Spaßvögel oder Schurken.«
»Bravo! Bravo!« schrie die Menge.
Wer war also der Schuldige? Diese Frage, die Etienne sich vorlegte, drückte ihn vollends nieder. Dieses Unglück, unter dem er selbst blutete; das Elend der einen, das Erwürgen der anderen, das Darben dieser Weiber und Kinder: war all dies wirklich seine Schuld? Eines Abends vor den Katastrophen tauchte dieses trübselige Bild vor ihm auf. Doch schon richtete eine Kraft ihn auf; er fühlte sich mit den Kameraden fortgerissen. Übrigens hatte er sie niemals geleitet; vielmehr waren sie es, die ihn führten, die ihn nötigten, Dinge zu tun, die er ohne das ungestüme Drängen dieser Menge nicht getan haben würde. Bei jeder neuen Gewalttat hatte er unter dem verblüffenden Eindruck der Ereignisse gestanden, denn er hatte keines vorausgesehen, noch auch gewollt. Konnte er beispielsweise darauf gefaßt sein, daß seine Kameraden im Dorfe ihn eines Tages steinigen würden? Die Tollhäusler logen, wenn sie behaupteten, daß er ihnen ein Schlaraffenleben versprochen habe, In diesem Gerichte, das er über sich selbst hielt, hinter den Vernunftgründen, mit denen er seine Gewissensbisse bekämpfte, barg sich die dumpfe Besorgnis, sich nicht auf der Höhe seiner Aufgabe gezeigt zu haben, jener Zweifel des Halbwissenden, der ihn stets peinigte. Er fühlte, daß er mit seinem Mut zu Ende sei; er war nicht mehr einig mit seinen Kameraden; er hatte Furcht vor ihnen, vor dieser ungeheuren, blinden, unwiderstehlichen Volksmasse, die wie eine Naturgewalt daherzog, alles hinwegfegend, alle Regeln und Anschauungen zuschanden machend. Ein Widerwille hatte ihn allgemach von diesem Volke losgelöst, das Unbehagen seines verfeinerten Geschmacks, das langsame Emporstreben seines ganzen Wesens zu einer höheren Gesellschaftsklasse.
In diesem Augenblicke verlor sich Rasseneurs Stimme in dem begeisterten Geschrei der Menge.
»Hoch Rasseneur! Es gibt keinen zweiten mehr! Bravo! Bravo!«
Der Schankwirt schloß die Tür, während die Menge draußen sich zerstreute. Die beiden Männer betrachteten einander stillschweigend und zuckten die Achseln. Schließlich tranken sie zusammen einen Schoppen.
Am nämlichen Tage wurde ein großes Festmahl in der Piolaine veranstaltet. Man feierte die Verlobung von Negrel und Cäcilie. Die Grégoire hatten am vorhergehenden Tage den Fußboden des Speisezimmers frisch wichsen und die Möbel des Salons abstauben lassen. Melanie herrschte in der Küche, überwachte die Braten, rührte die Tunken, deren Geruch bis zum Dachboden emporstieg. Man hatte entschieden, daß der Kutscher Franz bei der Bedienung der Tafel Honorinen helfen solle; die Gärtnerin solle das Tafelgeschirr reinigen, der Gärtner den ankommenden Gästen das Gittertor öffnen. Niemals hatte ein solcher Aufwand von Prunk dieses patriarchalische und ernste Haus aus dem Alltagsgeleise gebracht.
Alles ging trefflich von statten. Frau Hennebeau zeigte sich überaus liebenswürdig gegen Cäcilie und lächelte Negrel zu, als der Notar von Montsou die Gesellschaft freundlich einlud, auf das Wohl des Brautpaares zu trinken. Auch Herr Hennebeau war sehr liebenswürdig. Seine lachende Miene fiel den Gästen auf; man erzählte sich, daß er bei der Bergwerksverwaltung wieder in Gunst stehe und demnächst Offizier der Ehrenlegion werden solle zum Lohne für die tatkräftige Art, wie er den Streik niedergeschlagen hatte. Man vermied es, von den letzten Ereignissen zu sprechen; aber es lag ein siegreicher Ton in der allgemeinen Freude, das Festmahl gestaltete sich zu einer öffentlichen Siegesfeier. Endlich war man befreit; man konnte wieder in Ruhe essen und schlafen. Doch fiel eine versteckte Anspielung auf die Toten, deren Blut der Boden im Werkshofe von Voreux noch nicht völlig eingesogen hatte; es war eine notwendige Lehre; und alle wurden von Rührung ergriffen, als die Grégoire hinzufügten, daß jetzt jedermann die Pflicht habe, die Arbeiterdörfer aufzusuchen und die Wunden zu verbinden. Sie hatten ihre wohlwollende Ruhe wiedergewonnen und entschuldigten die wackeren Bergleute, als sie diese wieder einfahren sahen, um das gute Beispiel einer hundertjährigen Ergebung zu liefern. Die Notabeln von Montsou, die nicht mehr für Leben und Vermögen zitterten, gaben zu, daß die Lohnfrage eingehend studiert werden müsse. Beim Braten war die Siegesfreude vollständig, als Herr Hennebeau einen Brief des Bischofs verlas, in dem dieser die Versetzung des Abbé Ranvier ankündigte. Die ganze Spießbürgerschaft der Provinz besprach leidenschaftlich die Geschichte dieses Priesters, der die Soldaten Mörder nannte. Als der Nachtisch kam, versicherte der Notar ganz entschieden, daß er ein Freidenker sei.
Deneulin war mit seinen beiden Töchtern da. Er bemühte sich, inmitten des allgemeinen Frohsinns den Kummer über seinen Ruin zu verbergen. Am Morgen hatte er den Vertrag über den Verkauf seines Unternehmens auf Vandame an die Gesellschaft von Montsou unterschrieben. An die Wand gedrückt und erwürgt, hatte er sich den Bedingungen des Verwaltungsrates gefügt, ihnen endlich die Beute, auf die sie so lange gelauert hatten, für einen Betrag überlassen, der kaum hinreichte, seine Gläubiger zu befriedigen. Er hatte sogar im letzten Augenblick wie einen Glücksfall ihr Anerbieten angenommen, als Abteilungsingenieur in ihre Dienste zu treten; er entschloß sich, als bezahlter Beamter jenes Bergwerk zu überwachen, in dem sein Vermögen begraben lag. Es war das Totengeläute für die kleinen persönlichen Unternehmungen, das baldige Verschwinden der Besitzer, die nacheinander von dem stets hungerigen Ungeheuer Kapital aufgefressen, in der steigenden Flut der großen Gesellschaften ertränkt wurden. Er allein zahlte die Kosten des Streiks; er fühlte wohl, daß man auf sein Unglück trank, indem man auf die Rosette der Ehrenlegion des Herrn Hennebeau trank, und schöpfte nur ein wenig Trost aus dem frohen Mut seiner Töchter, die reizend waren in ihren aufgefrischten Toiletten und über ihren Ruin nur lachten wie hübsche Mädchen mit burschenmäßigen Manieren, die sich aus dem Gelde nichts machten.
Als man in den Salon hinüberging, um dort den Kaffee zu nehmen, führte Herr Grégoire seinen Vetter beiseite und beglückwünschte ihn zu seinem mutigen Entschlüsse.
»Was willst du? Dein einziger Fehler war der, daß du deinen Anteil an Montsou, eine Million, in Vandame riskiertest. Du hast dich furchtbar geplagt, und das Geld ist in dieser Hundearbeit aufgegangen, während das meine ruhig im Schranke geblieben ist und mich schön ernährt, ohne daß ich eine Hand zu rühren brauche, wie es noch die Kinder meiner Enkelkinder nähren wird.«