Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten
Christoph Martin Wieland

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15. Kapitel

Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte. Nachtrag des Sykophanten Physignatus. Verlegenheit der Richter.

Diese kurze und unerwartete Rede brachte auf einige Augenblicke ein tiefes Stillschweigen hervor. Der Sykophant Physignatus schien zwar große Lust zu haben, sich über die Stelle, die ihn persönlich betroffen hatte, mit Hitze vernehmen zu lassen. Allein, da er die Niedergeschlagenheit bemerkte, die der Inhalt der letzten Periode seines Gegners unter dem gemeinen Volk hervorgebracht zu haben schien: so begnügte er sich, gegen die ehrenrührige Stelle vom Ohrenabschneiden und andre Anzüglichkeiten sich quaevis competentia vorzubehalten, zuckte die Achseln, und schwieg.

Das Licht, in welches der Sykophant Polyphonus den wahren Statum controversiae gestellt hatte, tat einen so guten Effekt, daß unter den sämtlichen Vierhundertmännern kaum ihrer zwanzig übrig blieben, die, nach Abderitischer Gewohnheit, nicht versicherten, daß sie die Sache gleich vom Anfang an eben so angesehen; und es wurde in ziemlich lebhaften Ausdrücken gegen diejenigen gesprochen, welche Schuld daran hätten, daß eine so simple Sache zu solchen Weitläuftigkeiten getrieben worden sei. Die meisten schienen darauf anzutragen: Daß dem Erzpriester nicht nur die für seinen Angehörigen verlangte Entschädigung und Genugtuung zugesprochen, sondern auch eine Kommission aus dem großen Rat niedergesetzt werden sollte, um nach der Schärfe zu untersuchen, wer die ersten Anstifter und Verhetzer dieses Handels eigentlich gewesen seien.

Dieser Antrag brachte den Zunftmeister und diejenigen, die ihre Partei mit ihm gegen allen Erfolg zum voraus genommen hatten, auf einmal wieder in Harnisch. Der Sykophant Physignatus, der dadurch wieder Mut bekam, verlangte von dem Nomophylax noch einmal zum Gehör gelassen zu werden, weil er auf die Rede seines Gegenteils etwas neues vorzubringen habe; und da ihm dieses den Rechten nach nicht versagt werden konnte, so ließ er sich folgendermaßen vernehmen.

«Wenn das gerechte Vertrauen zu einem so ehrwürdigen Gericht, wie das gegenwärtige, den verhaßten Namen einer bestechenden Schmeichelei, womit mein Gegenteil solches zu belegen sich nicht gescheut hat, verdient, so muß ich mich darein ergeben, einen Vorwurf auf mir sitzen zu lassen den ich nicht vermeiden kann; und ich glaube allenfalls durch eine allzu hohe Meinung von euch, Großmögende Herren, weniger zu sündigen, als mein Gegner durch die Einbildung, eure Gerechtigkeit und Einsicht in einer so groben Schlinge zu fangen, als diejenige ist die er euch gelegt hat. Der Schein von gesunder Vernunft, womit er seine plumpe Vorstellungsart der Sache überstrichen, und ein Ton, den er seinem Klienten abgeborgt zu haben scheint, können höchstens eine augenblickliche Überraschung wirken: aber daß sie die Weisheit des obersten Rats von Abdera ganz umzuwerfen vermögend sein könnten, wäre an mir Lästerung zu fürchten, und war Unsinn an ihm zu hoffen.

Wie? Polyphonus, anstatt die gerechte Sache seines Klienten zu behaupten, wie er vor dem ehrwürdigen Stadtgerichte und bisher immer hartnäckig getan hat, gesteht nun auf einmal selbst ein, daß der Eseltreiber unrecht und unsinnig daran getan habe, seine gegen den Zahnarzt Struthion erhobne Klage auf sein vermeintes Eigentumsrecht an den Eselsschatten zu gründen; er bekennt öffentlich, daß der Kläger eine unbefugte, ungegründete, frivole Klage erhoben habe; und er untersteht sich von Recht an Schadloshaltung zu schwatzen, und in dem trotzigen Ton eines Eseltreibers Genugtuung zu fordern? Was für eine neue unerhörte Art von Rechtsgelehrsamkeit, wenn der unrecht habende Teil damit durchkäme, daß er am Ende, wenn er sich nicht mehr anders zu helfen wüßte, selbst gestände, er habe unrecht, und mit fünfundzwanzig Prügeln, die er sich dafür geben ließe, und die ein Kerl wie Anthrax schon auf seinen Buckel nehmen kann, sich noch ein Recht an Entschädigung und Genugtuung erwerben könnte! Gesetzt auch, des Eseltreibers Fehler bestände bloß darin, daß er nicht die rechte Aktion instituiert hätte: was geht das den unschuldigen Gegenteil oder den Richter an? Jener muß sich mit seiner Verantwortung nach der Klage richten; und dieser urteilt über die Sache, nicht wie sie vielleicht in einem andern Licht und unter einem andern Gesichtspunkt erscheinen könnte, sondern wie sie ihm vorgetragen worden. Ich verspreche mir also im Namen meines Klienten, daß, der gegenteiligen Luftstreiche ungeachtet, die vorliegende Sache nicht nach dem neuen und allen bisherigen Verhandlungen zuwider laufenden Schwunge, den ihr Polyphonus zu geben gesucht, sondern nach Beschaffenheit der Klage und des Beweises abgeurteilt werde. Die Rede ist in gegenwärtigem Rechtsstreite nicht von Zeitverlust und Deterioration des Esels, sondern von des Esels Schatten. Kläger behauptete, daß sein Eigentumsrecht an den Esel sich auch auf dessen Schatten erstrecke, und hat es nicht bewiesen. Beklagter behauptete, daß er so viel Recht an des Esels Schatten habe als der Eigentümer, oder, was allenfalls daran abgehen könnte, hab er durch den Mietkontrakt erworben; und er hat seine Behauptung bewiesen.

Ich stehe also hier, Großmögende Herren, und verlange einen richterlichen Spruch über das, was bisher den Gegenstand des Streits ausgemacht hat. Um dessentwillen allein ist gegenwärtiges höchstes Gericht niedergesetzt worden! Dies allein macht jetzt die Sache aus, worüber es zu erkennen hat! Und ich unterstehe michs vor diesem ganzen mich hörenden Volke zu sagen: Entweder ist kein Recht in Abdera mehr, oder meine Forderung ist gesetzmäßig, und die Rechte eines jeden Bürgers sind darunter befangen, daß meinem Klienten das seinige zugesprochen werde!»

Der Sykophant schwieg, die Richter stutzten, das Volk fing von neuem an zu murmeln und unruhig zu werden, und die Schatten reckten ihre Köpfe wieder empor.

«Nun», sagte der Nomophylax, indem er sich an Polyphonus wandte, «was hat der klägerische Anwalt hierauf beizubringen?»

«Hochgeachter Herr Oberrichter», erwiderte Polyphonus, «nichts – als alles von Wort zu Wort, was ich schon gesagt habe. Der Prozeß über des Esels Schatten ist ein so böser Handel, daß er nicht bald genug ausgemacht werden kann. Der Kläger hat dabei gefehlt, der Beklagte hat gefehlt, die Anwälte haben gefehlt, der Richter der ersten Instanz hat gefehlt, ganz Abdera hat gefehlt! Man sollte denken, ein böser Wind habe uns alle angeblasen, und es sei nicht so ganz richtig mit uns gewesen als wohl zu wünschen wäre. Käm es schlechterdings darauf an, uns noch länger zu prostituieren: so sollte mirs wohl auch nicht an Atem fehlen, für das Recht meines Klienten an seines Esels Schatten eine Rede zu halten, die von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang reichen sollte. Aber, wie gesagt, wenn die Komödie die wir gespielt haben, so lange sie bloß Komödie blieb, noch zu entschuldigen ist: so wär es doch, dünkt mich, auf keine Weise recht, sie vor einem so ehrwürdigen Gerichte, wie der hohe Rat von Abdera ist, länger fortzuspielen. Wenigstens habe ich keinen Auftrag dazu, und überlasse euch also, Großmögende Herren, unter nochmaliger Wiederholung alles dessen, was ich im Namen des erlauchten und hochwürdigen Erzpriesters zu Recht gefordert habe, den Handel nun abzuurteln und auszumachen – wie es euch die Götter eingeben werden.»

Die Richter befanden sich in großer Verlegenheit, und es ist schwer zu sagen, was für ein Mittel sie endlich ergriffen haben würden, um mit Ehren aus der Sache zu kommen; wenn der Zufall, der zu allen Zeiten der große Schutzgott aller Abderiten gewesen ist, sich ihrer nicht angenommen, und diesem feinen bürgerlichen Drama eine Entwicklung gegeben hätte, deren sich einen Augenblick vorher kein Mensch versah noch versehen konnte.


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