Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten
Christoph Martin Wieland

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5. Kapitel

Unerwartete Auflösung des Knotens, mit einigen neuen Beispielen von Abderitischem Witz.

Demokrit war in der Laune, sich mit seinen Abderiten und den Abderiten mit sich Kurzweile zu machen. Zu weise, ihnen irgend eine von ihren National- oder Individual-Unarten übel zu nehmen, konnt er es sehr wohl leiden, daß sie ihn für einen überklugen Mann ansahen, der seinen Abderitischen Mutterwitz auf seiner langen Wanderschaft verdünstet hätte, und nun zu nichts gut wäre, als ihnen mit seinen Einfällen und Grillen etwas zu lachen zu geben. Er fuhr also, nachdem sich das Gelächter über den witzigen Einfall des dicken Ratsherrn endlich gelegt hatte, mit seinem gewöhnlichen Phlegma fort, wo ihn der kleine jovialische Mann unterbrochen hatte:

«Sagt ich nicht, wenn die Griechische Häßlichkeit in Äthiopien Schönheit sei, so könnte wohl sein daß beide Teile recht hätten?»

«Ja, ja, das sagten Sie, und ein Mann steht für sein Wort.»

«Wenn ich es gesagt habe, so muß ichs wohl behaupten; das versteht sich, Herr Antistrepsiades.»

«Wenn Sie können.»

«Bin ich etwann nicht auch ein Abderit? Und zudem brauch ich hier nur die Hälfte meines Satzes zu beweisen, um das Ganze bewiesen zu haben: denn daß die Griechen recht haben, darf nicht erst bewiesen werden; dies ist eine Sache, die in allen Griechischen Köpfen schon längst ausgemacht ist. Aber daß die Äthiopier auch recht haben, da liegt die Schwierigkeit! – Wenn ich mit Sophismen fechten, oder mich begnügen wollte meine Gegner stumm zu machen, ohne sie zu überzeugen, so würd ich, als Anwalt der Äthiopischen Venus, die ganze Streitfrage dem innern Gefühl zu entscheiden überlassen. Warum, würd ich sagen, nennen die Menschen diese oder jene Figur, diese oder jene Farbe, schön? – Weil sie ihnen gefällt. – Gut; aber warum gefällt sie ihnen? – Weil sie ihnen angenehm ist. – Und warum ist sie ihnen angenehm? – O mein Herr, würde ich sagen, Sie müssen endlich aufhören zu fragen, oder – ich höre auf zu antworten. Ein Ding ist uns angenehm, weil es – einen Eindruck auf uns macht der uns angenehm ist. Ich fordre alle Ihre Grübler heraus, einen bessern Grund anzugeben. Nun würd es lächerlich sein, einem Menschen abstreiten zu wollen, daß ihm angenehm sei was ihm angenehm ist; oder ihm zu beweisen, er habe unrecht sich wohlgefallen zu lassen, was einen wohlgefallenden Eindruck auf ihn macht. Wenn also die Figur einer Gulleru seinen Augen wohl tut, so gefällt sie ihm, und wenn sie ihm gefällt, so nennt er sie schön, oder es müßte gar kein solches Wort in seiner Sprache sein.»

«Und wenn – und wenn ein Wahnwitziger Pferdeäpfel für Pfirschen äße?» sagte Antistrepsiades.

«Pferdeäpfel für Pfirschen! – Gut gesagt, bei meiner Ehre! gut gesagt», rief der Ratsherr. «Knacken Sie das auf, Herr Demokrit!»

«Fi, Fi, doch, Demokrit», lispelte die schöne Myris, indem sie die Hand vor die Nase hielt; «wer wird auch von Pferdeäpfeln reden? Schonen Sie wenigstens unsrer Nasen!»

Jedermann sieht, daß sich die schöne Myris mit diesem Verweise an den witzigen Antistrepsiades hätte wenden sollen, der die Pferdeäpfel zuerst aufgetragen hatte, und an den Ratsherrn, der Demokriten gar zumutete sie aufzuknacken. Aber es war nun einmal darauf abgesehen, den gereisten Mann lächerlich zu machen. Der Instinkt vertrat bei den sämtlichen Anwesenden hierin die Stelle einer Verabredung, und Myris konnte diese schöne Gelegenheit zu einem Stich, der die Lacher auf ihre Seite brachte, unmöglich entwischen lassen. Denn gerade der Umstand, daß Demokrit, der ohnehin an den Äpfeln des Antistrepsiades genug zu schlucken hatte, noch oben drein einen Verweis deswegen erhielt, kam den Abderiten und Abderitinnen so lustig vor, daß sie alle zugleich zu lachen anfingen, und sich völlig so gebärdeten, als ob der Philosoph nun aufs Haupt geschlagen sei und gar nicht wieder aufstehen könne.

Zu viel ist zu viel. Der gute Demokrit hatte zwar in zwanzig Jahren viel erwandert: aber seitdem er aus Abdera gegangen war, war ihm kein zweites Abdera aufgestoßen; und nun, da er wieder drin war, zweifelte er zuweilen auf einen oder zwei Augenblicke, ob er irgendwo sei? Wie war es möglich, mit solchen Leuten fertig zu werden?

«Nun, Vetter?» – sagte der Ratsherr, «kannst du die Pferdeäpfel des Antistrepsiades nicht hinunter kriegen? Ha, ha, ha!»

Dieser Einfall war zu Abderitisch, um die Zärtlichkeit der sämtlichen gebogenen, stumpfen, viereckigen und spitzigen Nasen in der Gesellschaft nicht zu überwältigen.

Die Damen kicherten ein zirpendes Hi, hi, hi, in das dumpfe donnernde Ha, ha, ha, der Mannspersonen.

«Sie haben gewonnen», rief Demokrit; «und zum Zeichen daß ich mein Gewehr mit guter Art strecke, sollen Sie sehen, ob ich die Ehre verdiene Ihr Landsmann und Vetter zu sein.» Und nun fing er an, mit einer Geschicklichkeit worin ihm kein Abderit gleich kam, von der untersten Note, stufenweise crescendo, bis zum Unisono mit dem Hi, hi, hi, der schönen Abderitinnen, ein Gelächter aufzuschlagen, dergleichen, so lange Abdera auf Thracischem Boden stand, nie erhört worden war.

Anfangs machten die Damen Miene als ob sie Widerstand tun wollten; aber es war keine Möglichkeit gegen das verzweifelte Crescendo auszuhalten. Sie wurden endlich davon wie von einem reißenden Strom ergriffen; und da die Gewalt der Ansteckung noch dazu schlug, so kam es bald so weit, daß die Sache ernsthaft wurde. Die Frauenzimmer baten mit weinenden Augen um Barmherzigkeit. Aber Demokrit hatte keine Ohren, und das Gelächter nahm überhand. Endlich ließ er sich, wie es schien, bewegen, ihnen einen Stillstand zu bewilligen; allein in der Tat bloß, damit sie die Peinigung, die er ihnen zugedacht hatte, desto länger aushalten könnten. Denn kaum waren sie wieder ein wenig zu Atem gekommen, so fing er die nämliche Tonleiter, eine Terze höher, noch einmal zu durchlachen an, aber mit so vielen eingemischten Trillern und Rouladen, daß sogar die runzligen Beisitzer des Höllengerichts, Minos, Äakus und Rhadamanthus, in ihrem höllenrichterlichen Ornat, aus der Fassung dadurch gekommen wären.

Zum Unglück hatten zwei oder drei von unsern Schönen nicht daran gedacht, ihre Personen gegen alle mögliche Folgen einer so heftigen Leibesübung in Sicherheit zu setzen. Scham und Natur kämpften auf Leben und Tod in den armen Mädchen. Vergebens flehten sie den unerbittlichen Demokrit mit Mund und Augen um Gnade an; vergebens forderten sie ihre vom Lachen gänzlich erschlafften Sehnen zu einer letzten Anstrengung auf. Die tyrannische Natur siegte, und in einem Augenblick sahe man den Saal, wo sich die Gesellschaft befand, u**** W***** g****.

Der Schrecken über eine so unversehene Naturerscheinung (die desto wunderbarer war, da das allgemeine Auffahren und Erstaunen der schönen Abderitinnen zu beweisen schien, daß es eine Wirkung ohne Ursache sei) unterbrach die Lacher auf etliche Augenblicke, um sogleich mit verdoppelter Gewalt wieder los zu drücken. Natürlicher Weise gaben sich die erleichterten Schönen alle Mühe, den besondern Anteil, den sie an dieser Begebenheit hatten, durch Grimassen von Erstaunen und Ekel zu verbergen, und den Verdacht auf ihre schuldlosen Nachbarinnen fallen zu machen, welche durch unzeitige, aber unfreiwillige Schamröte den unverdienten Argwohn mehr als zu viel bestärkten. Der lächerliche Zank, der sich darüber unter ihnen erhob; Demokrit und Antistrepsiades, die sich boshafter Weise ins Mittel schlugen, und durch ironische Trostgründe den Zorn derjenigen, die sich unschuldig wußten, noch mehr aufreizten; und mitten unter ihnen allen der kleine dicke Ratsherr, der unter berstendem Gelächter einmal über das andere ausrief, daß er nicht die Hälfte von Thracien um diesen Abend nehmen wollte: alles dies zusammen machte eine Szene, die des Griffels eines Hogarth würdig gewesen wäre, wenn es damals schon einen Hogarth gegeben hätte.

Wir können nicht sagen, wie lange sie gedauert haben mag: denn es ist eine von den Tugenden der Abderiten, daß sie nicht aufhören können. Aber Demokrit, bei dem alles seine Zeit hatte, glaubte, daß eine Komödie, die kein Ende nimmt, die langweiligste unter allen Kurzweilen sei; – eine Wahrheit, von welcher wir (im Vorbeigehn gesagt) alle unsre Dramenschreiber und Schauspielvorsteher überzeugen zu können wünschen möchten – er packte also alle die schönen Sachen, die er zur Rechtfertigung der Äthiopischen Venus hätte sagen können, wofern er es mit vernünftigen Geschöpfen zu tun gehabt hätte, ganz gelassen zusammen, wünschte den Abderiten und Abderitinnen – was sie nicht hatten, und ging nach Hause, nicht ohne Verwunderung über die gute Gesellschaft, die man anzutreffen Gefahr lief, wenn man – einen Ratsherrn von Abdera besuchte.


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