Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten
Christoph Martin Wieland

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8. Kapitel

Vorläufige Nachricht von dem Abderitischen Schauspielwesen. Demokrit wird genötigt, seine Meinung davon zu sagen.

Die Abderiten wußten sich sehr viel mit ihrem Theater. Ihre Schauspieler waren gemeine Bürger von Abdera, die entweder von ihrem Handwerke nicht leben konnten, oder zu faul waren eines zu lernen. Sie hatten keinen gelehrten Begriff von der Kunst, aber eine desto größere Meinung von ihrer eignen Geschicklichkeit; und wirklich konnt es ihnen an Anlage nicht fehlen, da die Abderiten überhaupt geborne Gaukler, Spaßmacher und Pantomimen waren, an denen immer jedes Glied ihres Leibes mit reden half, so wenig auch das, was sie sagten, zu bedeuten haben mochte.

Sie besaßen auch einen eignen Schauspieldichter, Hyperbolus genannt, der (wenn man ihnen glaubte) ihre Schaubühne so weit gebracht hatte, daß sie der Athenischen wenig nachgab. Er war im Komischen so stark als im Tragischen, und machte überdies die possierlichsten SatyrenspieleGriechische Possenspiele, die mit der Opera buffa der Welschen einige Ähnlichkeit hatten, und wovon uns der Kyklops des Euripides, das einzige übrig gebliebene Stück dieser Art, einen Begriff gibt. von der Welt, worin er seine eignen Tragödien so schnakisch parodierte, daß man sich, wie die Abderiten sagten, darüber bucklig lachen mußte. Ihrem Urteile nach vereinigte er in seiner Tragödie den hohen Schwung und die mächtige Einbildungskraft des Äschylus mit der Beredsamkeit und dem Pathos des Euripides, so wie in seinen Lustspielen des Aristophanes Laune und mutwilligen Witz mit dem feinen Geschmack und der Eleganz des Agathon. Die Behendigkeit, womit er von seinen Werken entbunden wurde, war das Talent, worauf er sich am meisten zugute tat. Er lieferte jeden Monat seine Tragödie, mit einem kleinen Possenspielchen zur Zugabe. «Meine beste Komödie», sprach er, «hat mir nicht mehr als vierzehn Tage gekostet; und gleichwohl spielt sie ihre vier bis fünf Stunden wohl gezählt.»

Da sei uns der Himmel gnädig! dachte Demokrit.

Nun drangen die Abderiten immer von allen Seiten in ihn, seine Meinung von ihrem Theater zu sagen; und so ungern er sich mit ihnen über ihren Geschmack in Wortwechsel einließ, so konnt er doch auch nicht von sich erhalten, ihnen zu schmeicheln, wenn sie ihm sein Urteil mit gesamter Hand abnötigten.

«Wie gefällt Ihnen diese neue Tragödie?»

«Das Süjet ist glücklich gewählt. Was müßte der Autor auch sein, der einen solchen Stoff ganz zugrunde richten sollte?»

«Fanden Sie sie nicht sehr rührend?»

«Ein Stück könnte in einigen Stellen sehr rührend und doch ein sehr elendes Stück sein», sagte Demokrit. «Ich kenne einen Bildhauer von Sicyon, der die Wut hat, lauter Liebesgöttinnen zu schnitzen. Diese sehen überhaupt sehr gemeinen Dirnen gleich; aber sie haben alle die schönsten Beine von der Welt. Das ganze Geheimnis von der Sache ist, daß der Mann seine Frau zum Modelle nimmt, die, zum Glück für seine Venusbilder, wenigstens sehr schöne Beine vorzuweisen hat. So kann dem schlechtesten Dichter zuweilen eine rührende Stelle gelingen, wenn es sich gerade zutrifft, daß er verliebt ist, oder einen Freund verlor, oder daß ihm sonst ein Zufall zustieß, der sein Herz in eine Fassung setzte, die es ihm leicht machte, sich an den Platz der Person, die er reden lassen sollte, zu stellen.»

«Sie finden also die Hekuba unsers Dichters nicht vortrefflich?»

«Ich finde, daß der Mann vielleicht sein Bestes getan hat. Aber die vielen, bald dem Äschylus, bald dem Sophokles, bald dem Euripides, ausgerupften Federn, womit er seine Blöße zu decken sucht, und die ihm vielleicht in den Augen mancher Zuhörer, denen jene Dichter nicht so gegenwärtig sind als mir, Ehre machen, schaden ihm in den meinigen. Eine Krähe, wie sie von Gott erschaffen ist, dünkt mich so noch immer schöner, als wenn sie sich mit Pfauen- und Fasanenfedern ausputzt. Überhaupt fordre ich von dem Verfasser eines Trauerspiels mit gleichem Rechte, daß er mir für meinen Beifall ein vortreffliches Trauerspiel, als von meinem Schuster, daß er mir für mein Geld ein Paar gute Stiefeln liefere; und wiewohl ich gern gestehe, daß es schwerer ist ein gutes Trauerspiel als gute Stiefeln zu machen, so bin ich darum nicht weniger berechtiget, von jedem Trauerspiele zu verlangen, daß es alle Eigenschaften habe die zu einem guten Trauerspiel, als von einem Stiefel, daß er alles habe was zu einem guten Stiefel gehört.»

«Und was gehört denn, Ihrer Meinung nach, zu einem wohlgestiefelten Trauerspiele?» – fragte ein junger Abderitischer Patricius, herzlich über den guten Einfall lachend, der ihm, seiner Meinung nach, entfahren war.

Demokrit unterhielt sich über diesen Gegenstand mit einem kleinen Kreise von Personen die ihm zuzuhören schienen, und fuhr, ohne auf die Frage des witzigen jungen Herrn achtzuhaben, fort. «Die wahren Regeln der Kunstwerke», sprach er, «können nie willkürlich sein. Ich fordre nichts von einem Trauerspiele, als was Sophokles von den seinigen fordert; und dies ist weder mehr noch weniger, als die Natur und Absicht der Sache mit sich bringt. Einen einfachen, wohl durchdachten Plan, worin der Dichter alles voraus gesehen, alles vorbereitet, alles natürlich zusammen gefügt, alles auf Einen Punkt geführt hat; worin jeder Teil ein unentbehrliches Glied, und das Ganze ein wohl organisierter, schöner, frei und edel sich bewegender Körper ist! Keine langweilige Exposition, keine Episoden, keine Szenen zum Ausfüllen, keine Reden deren Ende man mit Ungeduld herbei gähnt, keine Handlungen die nicht zum Hauptzwecke arbeiten! Interessante, aus der Natur genommene Charaktere, veredelt, aber so, daß man die Menschheit in ihnen nie verkenne; keine übermenschliche Tugenden, keine Ungeheuer von Bosheit! Personen, die immer ihren eigenen Individual-Begriffen und Empfindungen gemäß reden und handeln; immer so, daß man fühlt, nach allen ihren vorhergehenden und gegenwärtigen Umständen und Bestimmungen müssen sie im gegebenen Falle so reden, so handeln, oder aufhören zu sein was sie sind.

Ich fordre, daß der Dichter nicht nur die menschliche Natur kenne, insofern sie das Modell aller seiner Nachbildungen ist; ich fordre, daß er auch auf die Zuschauer Rücksicht nehme, und genau wisse durch welche Wege man sich ihres Herzens Meister macht; daß er jeden starken Schlag, den er auf solches tun will, unvermerkt vorbereite; daß er wisse wenn es genug ist, und, eh er uns durch einerlei Eindrücke ermüdet, oder einen Affekt bis zu dem Grade, wo er peinigend zu werden anfängt, in uns erregt, dem Herzen kleine Ruhepunkte zur Erholung gönne, und die Regungen, die er uns mitteilt, ohne Nachteil der Hauptwirkung zu vermannigfaltigen wisse.

Ich fordre von ihm eine schöne und ohne Ängstlichkeit mit äußerstem Fleiße polierte Sprache; einen immer warmen kräftigen Ausdruck, einfach und erhaben, ohne jemals zu schwellen noch zu sinken, stark und nervig, ohne rauh und steif zu werden, glänzend, ohne zu blenden; wahre Heldensprache, die immer der lebende Ausdruck einer großen Seele und unmittelbar vom gegenwärtigen Gefühl eingegeben ist, nie zu viel nie zu wenig sagt, und, gleich einem dem Körper angegoßnen Gewand, immer den eigentümlichen Geist des Redenden durchscheinen läßt.

Ich fordre, daß derjenige, der sich unterwindet Helden reden zu lassen, selbst eine große Seele habe; und indem er durch die Allgewalt der Begeisterung in seinen Helden verwandelt worden ist, alles, was er ihm in den Mund legt, in seinem eignen Herzen finde. Ich fordre –»

«O Herr Demokrit», – riefen die Abderiten, die sich nicht länger zu halten wußten – «Sie können, da Sie nun einmal im Fordern sind, alles fordern was Ihnen beliebt. In Abdera läßt man sich mit wenigerm abfinden. Wir sind zufrieden, wenn uns ein Dichter rührt. Der Mann, der uns lachen oder weinen macht, ist in unsern Augen ein göttlicher Mann, mag er es doch anfangen wie er selbst will. Dies ist seine Sache, nicht die unsrige! Hyperbolus gefällt uns, rührt uns, macht uns Spaß; und gesetzt auch, daß er uns mitunter gähnen machte, so bleibt er doch immer ein großer Dichter! Brauchen wir eines weitern Beweises?»

«Die Schwarzen an der Goldküste», sagte Demokrit, «tanzen mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaf-Fells und etlicher Bleche, die sie gegen einander schlagen. Gebt ihnen noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben sie in Elysium zu sein. Wieviel Witz brauchte eure Amme, um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen zu rühren? Das albernste Märchen, in einem kläglichen Tone hergeleiert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus, daß die Musik der Schwarzen vortrefflich, oder ein Ammenmärchen gleich ein herrliches Werk ist?»

«Sie sind sehr höflich, Demokrit!»

«Um Vergebung! Ich bin so unhöflich, jedes Ding bei seinem Namen zu nennen; und so eigensinnig, daß ich nie gestehen werde, alles sei schön und vortrefflich was man so zu nennen beliebt.»

«Aber das Gefühl eines ganzen Volkes wird doch mehr gelten, als der Eigendünkel eines Einzigen?»

«Eigendünkel? Das ist es eben, was ich aus den Künsten der Musen verbannt sehen möchte. Unter allen den Forderungen, wovon die Abderiten ihren Günstling Hyperbolus so gütig los zählen, ist keine einzige, die nicht auf die strengste Gerechtigkeit gegründet wäre. Aber das Gefühl eines ganzen Volkes, wenn es kein gelehrtes Gefühl ist, kann und muß in unzähligen Fällen betrüglich sein.»

«Wie, zum Henker! (rief ein Abderit, der mit seinem Gefühl sehr wohl zufrieden schien) Sie werden uns am Ende wohl gar noch unsre fünf Sinne streitig machen!»

«Das verhüte der Himmel!» antwortete Demokrit. «Wenn Sie so bescheiden sind keine weitere Ansprüche zu machen als auf fünf Sinne, so wär es die größte Ungerechtigkeit, Sie im ruhigen Besitze derselben stören zu wollen. Fünf Sinne sind allerdings, zumal wenn man alle fünf zusammen nimmt, vollgültige Richter in allen Dingen, wo es darauf ankommt, zu entscheiden, was weiß oder schwarz, glatt oder rauh, weich oder hart, widerlich oder angenehm, bitter oder süß ist. Ein Mann, der nie weiter geht, als ihn seine fünf Sinne führen, geht immer sicher; und in der Tat, wenn Ihr Hyperbolus dafür sorgen wird, daß in seinen Schauspielen jeder Sinn ergetzt und keiner beleidiget werde, so stehe ich ihm für die gute Aufnahme, und wenn sie noch zehnmal schlechter wären als sie sind.»

Wäre Demokrit zu Abdera weiter nichts gewesen, als was Diogenes zu Korinth war, so möchte ihm die Freiheit seiner Zunge vielleicht einige Ungelegenheit zugezogen haben. Denn so gern die Abderiten über wichtige Dinge spaßten, so wenig konnten sie ertragen, wenn man sich über ihre Puppen und Steckenpferde lustig machte. Aber Demokrit war aus dem besten Hause in Abdera, und, was noch mehr zu bedeuten hat, er war reich. Dieser doppelte Umstand machte, daß man ihm nachsah, was man einem Philosophen in zerrißnem Mantel schwerlich zugut gehalten hätte. «Sie sind auch ein unerträglicher Mensch, Demokrit!» schnarrten die schönen Abderitinnen, und – ertrugen ihn doch.

Der Poet Hyperbolus machte noch am nämlichen Abend ein entsetzliches Sinngedicht auf den Philosophen. Des folgenden Morgens lief es an allen Putztischen herum, und in der dritten Nacht ward es in allen Gassen von Abdera gesungen; denn Demokrit hatte eine Melodie dazu gesetzt.


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