Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten
Christoph Martin Wieland

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4. Kapitel

Gerichtliche Verhandlung. Relation des Beisitzers Miltias. Urtel, und was daraus erfolgt.

Inzwischen war der Gerichtstag herbeigekommen, an dem dieser seltsame Handel durch Urtel und Recht entschieden werden sollte. Die Sykophanten hatten in Sachen geschlossen, und die Akten waren einem Referenten, namens Miltias, übergeben worden, gegen dessen Unparteilichkeit die Mißgönner des Zahnarztes verschiednes einzuwenden hatten. Denn es war nicht zu leugnen, daß er mit dem Sykophanten Physignatus sehr vertraut umging; und überdies wurde ganz laut davon gesprochen, daß die Dame StruthionWir wissen wohl daß dies nicht à la Grecque gesprochen ist; aber die Dame Struthion ist wie Frau Damon in unsern Komödien: und was liegt dem Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eigenen Namen geheißen haben mag? , die für eine von den hübschen Weibern in ihrer Klasse galt, ihm die gerechte Sache ihres Mannes zu verschiedenen Malen in eigner Person empfohlen habe. Allein da diese Einwendungen auf keinem rechtsbeständigen Grunde beruhten, und der Turnus nun einmal an diesem Miltias war, so blieb es bei der Ordnung.

Miltias trug die Geschichte des Streits so unbefangen, und beides, sowohl Zweifels- als Entscheidungsgründe, so ausführlich vor, daß die Zuhörer lange nicht merkten wo er eigentlich hinaus wolle. Er leugnete nicht, daß beide Parteien vieles für und wider sich hätten. Auf der einen Seite scheine nichts klärer, sagte er, als daß derjenige, der den Esel, als das Principale, gemietet, auch das Accessorium, des Esels Schatten, stillschweigend mit einbedungen habe; oder, (falls man auch keinen solchen stillschweigenden Vertrag zugeben wollte) daß der Schatten seinem Körper von selbst folge, und also demjenigen, der die Nutznießung des Esels an sich gebracht, auch der beliebige Gebrauch seines Schattens ohne weitere Beschwerde zustehe; um so mehr, als dem Esel selbst dadurch an seinem Sein und Wesen nicht das mindeste benommen werde. Hingegen scheine auf der andern Seite nicht weniger einleuchtend: Daß, wiewohl der Schatten weder als ein wesentlicher noch außerwesentlicher Teil des Esels anzusehen sei, folglich von dem Abmieter des letztern keineswegs vermutet werden könne, daß er jenen zugleich mit diesem stillschweigend habe mieten wollen, gleichwohl, da besagter Schatten schlechterdings nicht für sich selbst ohne besagten Esel bestehen könne, und ein Eselsschatten im Grunde nichts andres als ein Schattenesel sei, der Eigentümer des leibhaften Esels mit gutem Fug auch als Eigentümer des von jenem ausgehenden Schattenesels betrachtet, folglich keineswegs angehalten werden könne, letztern unentgeltlich an den Abmieter des erstern zu überlassen. Überdies, und wenn man auch zugeben wollte, daß der Schatten ein Accessorium des mehr erörterten Esels sei, so könne doch dem Abmieter dadurch noch kein Recht an denselben zuwachsen; indem er durch den Mietkontrakt nicht jeden Gebrauch desselben, sondern nur denjenigen, ohne welchen die Absicht des Kontrakts, nämlich seine vorhabende Reise, unmöglich erzielt werden könne, an sich gebracht habe. Allein, da sich unter den Gesetzen der Stadt Abdera keines finde, worin der vorliegende Fall klar und deutlich enthalten sei, und das Urteil also lediglich aus der Natur der Sache gezogen werden müsse: so komme es hauptsächlich auf einen Punkt an, der von den beiderseitigen Sykophanten aus der Acht gelassen, oder wenigstens nur obenhin berührt worden, nämlich auf die Frage: Ob dasjenige, was man Schatten nenne, unter die gemeinen Dinge, an welche jedermann gleiches Recht hat, oder unter die eigentümlichen, zu welchen einzelne Personen ein ausschließendes Recht haben oder erwerben können, zu zählen sei? Da nun, in Ermangelung eines positiven Gesetzes, die Übereinstimmung und allgemeine Gewohnheit des menschlichen Geschlechts, als ein wahres Orakel der Natur selbst, billig die Kraft eines positiven Gesetzes habe; vermöge dieser allgemeinen Gewohnheit aber die Schatten der Dinge (auch derjenigen, die nicht nur einzelnen Personen, sondern ganzen Gemeinheiten, ja den unsterblichen Göttern selbst eigentümlich zugehören) bisher aller Orten einem jeden, wer er auch sei, frei, ungehindert und unentgeltlich zur Benutzung überlassen worden: so erhelle daraus, daß, ex Consensu et Consuetudine Generis Humani, besagte Schatten, eben so wie freie Luft, Wind und Wetter, fließendes Wasser, Tag und Nacht, Mondschein, Dämmerung, und dergleichen mehr, unter die gemeinen Dinge zu rechnen seien, deren Genuß jedem offen stehe, und auf welche – insofern etwa besagter Genuß, unter gewissen Umständen, etwas Ausschließendes bei sich führe – der erste, der sich ihrer bemächtige, ein momentanes Besitzrecht erhalten habe. – Diesen Satz (zu dessen Bestätigung der scharfsinnige Miltias eine Menge Induktionen vorbrachte, die wir unsern Lesern erlassen wollen) – diesen Satz zum Grunde gelegt, könne er also nicht anders als dahin stimmen: daß der Schatten aller Esel in Thracien, folglich auch derjenige, der zu vorliegendem Rechtshandel unmittelbaren Anlaß gegeben, eben so wenig einen Teil des Eigentums einer einzelnen Person ausmachen könne, als der Schatten des Berges Athos oder des Stadtturms von Abdera; folglich mehr besagter Schatten weder geerbt, noch gekauft, noch inter vivos oder mortis causa geschenkt, noch vermietet, noch auf irgend eine andre Art zum Gegenstand eines bürgerlichen Kontrakts gemacht werden könne; und daß also aus diesen und andern angeführten Gründen, in Sachen des Eseltreibers Anthrax, Klägers, an einem, entgegen und wider den Zahnarzt Struthion, Beklagten, am andern Teil, pcto. des von Beklagten zu Klägers angeblicher Gefährde und Schaden angemaßten Eselsschattens (salvis tamen melioribus) zu Recht zu erkennen sei: Daß Beklagter sich des besagten Schattens zu seinem Gebrauch und Nutzen zu bedienen wohl befugt gewesen; Kläger aber, Einwendens ungeachtet, nicht nur mit seiner unbefugten Forderung abzuweisen, sondern auch in alle Kosten, wie nicht weniger zum Ersatz alles dem Beklagten verursachten Verlusts und Schadens, nach vorgängiger gerichtlicher Ermäßigung, zu verurteilen sei.

V. R. W.

Wir überlassen es dem geneigten und rechtserfahrnen Leser, über dieses (zwar nur auszugsweise) mitgeteilte Gutachten des scharfsinnigen Miltias nach Belieben seine Betrachtungen anzustellen. Und da wir in dieser Sache uns keines Urteils anzumaßen, sondern bloß die Stelle eines unparteiischen Geschichtschreibers zu vertreten entschlossen sind: so begnügen wir uns zu berichten, daß es seit undenklichen Zeiten Observanz bei dem Stadtgerichte zu Abdera war, das gutächtliche Urteil des Referenten, wie es auch beschaffen sein mochte, jedesmal entweder einhellig, oder doch mit einer großen Mehrheit der Stimmen zu bestätigen. Wenigstens hatte man seit mehr als hundert Jahren kein Beispiel vom Gegenteil gesehen. Es konnte auch, nach Gestalt der Sachen, nicht wohl anders sein. Denn während der Relation, welche gemeiniglich sehr lange dauerte, pflegten die Herren Beisitzer eher alles andre zu tun, als auf die Rationes dubitandi et decidendi des Referenten acht zu geben. Die meisten standen auf, guckten zum Fenster hinaus, oder gingen weg, um in einem Nebenzimmer Kuchen oder kleine Bratwürste zu frühstücken, oder machten einen fliegenden Besuch bei einer guten Freundin; und die wenigen, welche sitzen blieben und einigen Teil an der Sache zu nehmen schienen, hatten alle Augenblicke etwas mit ihrem Nachbarn zu flüstern, oder schliefen wohl gar über dem Zuhören ein. Kurz, es waltete eine Art von stillschweigendem Kompromiß auf den Referenten vor, und es geschah bloß um der Form willen, daß einige Minuten, eh er zur wirklichen Konklusion kam, sich jedermann wieder auf seinem Platz einfand, um mit gehöriger Feierlichkeit das abgefaßte Urtel bekräftigen zu helfen.

So war es bisher immer, auch bei ziemlich wichtigen Händeln, gehalten worden. Allein dem Prozeß über des Esels Schatten widerfuhr die unerhörte Ehre, daß das ganze Gericht beisammen blieb, und (drei bis vier Beisitzer ausgenommen, welche dem Zahnarzt ihre Stimme schon versprochen hatten, und ihr Recht, in der Session zu schlafen, nicht vergeben wollten) jedermann mit aller Aufmerksamkeit zuhörte, die eines so wundervollen Prozesses würdig war; und als die Stimmen gesammelt wurden, fand sich, daß das Urtel nur mit einem Mehr von zwölf gegen acht bekräftigt wurde.

Sogleich nach geschehener Publikation ermangelte Polyphonus, der klägerische Sykophant, nicht, seine Stimme zu erheben, und gegen das Urtel, als ungerecht, parteiisch und mit unheilbaren Nullitäten behaftet, an den großen Rat von Abdera zu appellieren. Da nun der Prozeß über eine Sache geführt wurde, die der Kläger selbst nicht höher als zwei Drachmen geschätzt hatte, und dieses (auch mit Einschluß aller billig mäßigen Kosten und Schäden) noch lange nicht Summa appellabilis war: so erhob sich hierüber ein großer Lärm im Gerichte. Die Minorität erklärte sich, daß es hier gar nicht auf die Summe, sondern auf eine allgemeine Rechtsfrage ankomme, die das Eigentum betreffe und noch durch kein Gesetz in Abdera bestimmt sei, folglich, vermöge der Natur der Sache, vor den Gesetzgeber selbst gebracht werden müsse, als welchem allein es zukomme, in zweifelhaften Fällen dieser Art den Ausspruch zu tun.

Wie es zugegangen, daß der Referent, bei aller seiner Zuneigung zur Sache des Beklagten, nicht daran gedacht, daß die Gönner des Gegenteils sich dieses Vorwandes bedienen würden die Sache vor den großen Rat zu spielen – davon wissen wir keinen andern Grund anzugeben, als daß er ein Abderit war, und, nach der allgemeinen alt hergebrachten Gewohnheit seiner Landsleute, jedes Ding nur von Einer Seite, und auch da nur ziemlich obenhin, anzusehen pflegte. Doch kann vielleicht noch zu seiner Entschuldigung dienen, daß er einen Teil der letzten Nacht bei einem großen Gastmahle zugebracht, und, als er nach Hause gekommen, der Dame Struthion noch eine ziemlich lange Audienz hatte geben müssen, und also vermutlich – nicht ausgeschlafen hatte. Genug, nach langem Streiten und Lärmen erklärte sich endlich der Stadtrichter Philippides: daß er, bewandten Umständen nach, nicht umhin könne, die Frage, ob die von Klägern eingewandte Appellation Statt finde? vor den Senat zu bringen.

Hiermit stand er auf; das Gericht ging ziemlich tumultuarisch aus einander; und beide Parteien eilten, sich mit ihren Freunden, Gönnern und Sykophanten zu beraten, was nun weiter in der Sache anzufangen sei.


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