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Das Altertum der Stadt Abdera in Thracien verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr gleichgültig sein, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester des berüchtigten Diomedes, Königs der Bistonischen Thracier, – welcher ein so großer Liebhaber von Pferden war, und deren so viele hielt, daß er und sein Land endlich von seinen Pferden aufgefressen wurdePaläphatus in seinem Buche von Unglaublichen Dingen erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert habe, und ihnen endlich selbst von Herkules zur Speise vorgeworfen worden sei. , – oder von Abderus, einem Stallmeister dieses Königs, oder von einem andern Abderus, der ein Liebling des Herkules gewesen sein soll, empfangen habe.
Abdera war, einige Jahrhunderte nach ihrer ersten Gründung, vor Alter wieder zusammen gefallen: als Timesius von Klazomene, um die Zeit der einunddreißigsten Olympiade, es unternahm, sie wieder aufzubauen. Die wilden Thracier, welche keine Städte in ihrer Nachbarschaft aufkommen lassen wollten, ließen ihm nicht Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Sie trieben ihn wieder fort, und Abdera blieb unbewohnt und unvollendet, bis (ungefähr um das Ende der neunundfunfzigsten Olympiade) die Einwohner der Ionischen Stadt Teos – weil sie keine Lust hatten, sich dem Eroberer Cyrus zu unterwerfen – zu Schiffe gingen, nach Thracien segelten, und, da sie in einer der fruchtbarsten Gegenden desselben dieses Abdera schon gebauet fanden, sich dessen als einer verlassenen und niemanden zugehörigen Sache bemächtigten, auch sich darin gegen die Thracischen Barbaren so gut behaupteten, daß sie und ihre Nachkommen von nun an Abderiten hießen, und einen kleinen Freistaat ausmachten, der (wie die meisten Griechischen Städte) ein zweideutiges Mittelding von Demokratie und Aristokratie war, und regiert wurde – wie kleine und große Republiken von jeher regiert worden sind.
«Wozu (rufen unsre Leser) diese Deduktion des Ursprungs und der Schicksale der Stadt Abdera in Thracien? Was kümmert uns Abdera? Was liegt uns daran, zu wissen oder nicht zu wissen, wann, wie, wo, warum, von wem, und zu was Ende eine Stadt, welche längst nicht mehr in der Welt ist, erbaut worden sein mag?»
Geduld! günstige Leser, Geduld, bis wir, eh ich weiter forterzähle, über unsre Bedingungen einig sind. Verhüte der Himmel, daß man euch zumuten sollte die Abderiten zu lesen, wenn ihr gerade was nötigeres zu tun oder was besseres zu lesen habt! – «Ich muß auf eine Predigt studieren. – Ich habe Kranke zu besuchen. – Ich hab ein Gutachten, einen Bescheid, eine Läuterung, einen untertänigsten Bericht zu machen. – Ich muß rezensieren. – Mir fehlen noch sechzehn Bogen an den vier Alphabeten, die ich meinem Verleger binnen acht Tagen liefern muß. – Ich hab ein Joch Ochsen gekauft. – Ich hab ein Weib genommen.» – In Gottes Namen! Studiert, besucht, referiert, rezensiert, übersetzt, kauft und freiet! – Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehen sie uns halb, bald gar nicht, bald (was noch schlimmer ist) unrecht. Wer mit Vergnügen und Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts andres zu tun noch zu denken haben. Und wenn ihr euch in diesem Falle befindet: warum solltet ihr nicht zwei oder drei Minuten daran wenden wollen, etwas zu wissen, was einem Salmasius, einem Bayle, – und, um aufrichtig zu sein, mir selbst (weil mir nicht zu rechter Zeit einfiel, den Artikel Abdera im Bayle nachzuschlagen) eben so viele Stunden gekostet hat? Würdet ihr mir doch geduldig zugehört haben, wenn ich euch die Historie vom König in Böhmenland, der sieben Schlösser hatte, zu erzählen angefangen hätte.
Die Abderiten also hätten (dem zufolge, was bereits von ihnen gemeldet worden ist) ein so feines, lebhaftes, witziges und kluges Völkchen sein sollen, als jemals eines unter der Sonne gelebt hat.
«Und warum dies?»
Diese Frage wird uns vermutlich nicht von den gelehrten unter unsern Lesern gemacht. Aber, wer wollte auch Bücher schreiben, wenn alle Leser so gelehrt wären als der Autor? Die Frage warum dies? ist allemal eine sehr vernünftige Frage. Sie verdient, wo die Rede von menschlichen Dingen ist (mit den göttlichen ists ein anderes), allemal eine Antwort; und wehe dem, der verlegen oder beschämt oder ungehalten wird, wenn er sich auf warum dies? vernehmen lassen soll! Wir unsers Orts würden die Antwort ungefordert gegeben haben, wenn die Leser nicht so hastig gewesen wären. Hier ist sie!
Teos war eine Athenische Kolonie, von den zwölfen oder dreizehn eine, welche unter Anführung des Neleus, Kodrus Sohns, in Ionien gepflanzt wurden.
Die Athener waren von jeher ein muntres und geistreiches Volk, und sind es noch, wie man sagt. Athener, nach Ionien versetzt, gewannen unter dem schönen Himmel, der dieses von der Natur verzärtelte Land umfließt, wie Burgunder Reben durch Verpflanzung aufs Vorgebirge der guten Hoffnung. Vor allen andern Völkern des Erdbodens waren die Ionischen Griechen die Günstlinge der Musen. Homer selbst war, der größten Wahrscheinlichkeit nach, ein Ionier. Die erotischen Gesänge, die Milesischen Fabeln (die Vorbilder unsrer Novellen und Romane) erkennen Ionien für ihr Vaterland. Der Horaz der Griechen, Alcäus, die glühende Sappho, Anakreon, der Sänger – Aspasia, die Lehrerin – Apelles, der Maler der Grazien, waren aus Ionien; Anakreon war sogar ein geborener Tejer. Dieser letzte mochte etwa ein Jüngling von achtzehn Jahren sein, (wenn anders Barnes recht gerechnet hat) als seine Mitbürger nach Abdera zogen. Er zog mit ihnen; und zum Beweise, daß er seine den Liebesgöttern geweihte Leier nicht zurückgelassen, sang er dort das Lied an ein Thracisches Mädchen, (in Barnesens Ausgabe das einundsechzigste) worin ein gewisser wilder Thracischer Ton gegen die Ionische Grazie, die seinen Liedern eigen ist, auf eine ganz besondere Art absticht.
Wer sollte nun nicht denken, die Tejer – in ihrem ersten Ursprung Athener – so lange Zeit in Ionien einheimisch – Mitbürger eines Anakreon – sollten auch in Thracien den Charakter eines geistreichen Volkes behauptet haben? Allein (was auch die Ursache davon gewesen sein mag) das Gegenteil ist außer Zweifel. Kaum wurden die Tejer zu Abderiten, so schlugen sie aus der Art. Nicht daß sie ihre vormalige Lebhaftigkeit ganz verloren und sich in Schöpse verwandelt hätten, wie Juvenal sie ungerechter Weise beschuldigt. Ihre Lebhaftigkeit nahm nur eine wunderliche Wendung; denn ihre Einbildung gewann einen so großen Vorsprung über ihre Vernunft, daß es dieser niemals wieder möglich war, sie einzuholen. Es mangelte den Abderiten nie an Einfällen: aber selten paßten ihre Einfälle auf die Gelegenheit wo sie angebracht wurden, oder kamen erst wenn die Gelegenheit vorbei war. Sie sprachen viel, aber immer ohne sich einen Augenblick zu bedenken, was sie sagen wollten, oder wie sie es sagen wollten. Die natürliche Folge hiervon war, daß sie selten den Mund auftaten, ohne etwas albernes zu sagen. Zum Unglück erstreckte sich diese schlimme Gewohnheit auch auf ihre Handlungen; denn gemeiniglich schlossen sie den Käfig erst, wenn der Vogel entflogen war. Dies zog ihnen den Vorwurf der Unbesonnenheit zu; aber die Erfahrung bewies, daß es ihnen nicht besser ging wenn sie sich besannen. Machten sie (welches sich ziemlich oft zutrug) irgend einen sehr dummen Streich, so kam es immer daher, weil sie es gar zu gut machen wollten; und wenn sie in den Angelegenheiten ihres gemeinsamen Wesens recht lange und ernstliche Beratschlagungen hielten, so konnte man sicher darauf rechnen, daß sie unter allen möglichen Entschließungen die schlechteste ergreifen würden.
Sie wurden endlich zum Sprichwort unter den Griechen. Ein Abderitischer Einfall, ein Abderitenstückchen, war bei diesen ungefähr, was bei uns ein Schildbürger– oder bei den Helvetiern ein Lalleburgerstreich ist; und die guten Abderiten ermangelten nicht, die Spötter und Lacher reichlich mit sinnreichen Zügen dieser Art zu versehen. Für itzt mögen davon nur ein paar Beispiele zur Probe dienen.
Einsmals fiel ihnen ein, daß eine Stadt wie Abdera billig auch einen schönen Brunnen haben müsse. Er sollte in die Mitte ihres großen Marktplatzes gesetzt werden, und zu Bestreitung der Kosten wurde eine neue Auflage gemacht. Sie ließen einen berühmten Bildhauer von Athen kommen, um eine Gruppe von Statuen zu verfertigen, welche den Gott des Meeres auf einem von vier Seepferden gezogenen Wagen, mit Nymphen, Tritonen und Delphinen umgeben, vorstellte. Die Seepferde und Delphinen sollten eine Menge Wassers aus ihren Nasen hervor spritzen. Aber wie alles fertig stand, fand sich daß kaum Wasser genug da war, um die Nase eines einzigen Delphins zu befeuchten; und als man das Werk spielen ließ, sah es nicht anders aus, als ob alle diese Seepferde und Delphinen den Schnupfen hätten. Um nicht ausgelacht zu werden, ließen sie also die ganze Gruppe in den Tempel des Neptuns bringen; und so oft man sie einem Fremden wies, bedauerte der Küster sehr ernsthaft im Namen der löblichen Stadt Abdera, daß ein so herrliches Kunstwerk aus Kargheit der Natur unbrauchbar bleiben müsse.
Ein andermal erhandelten sie eine sehr schöne Venus von Elfenbein, die man unter die Meisterstücke des Praxiteles zählte. Sie war ungefähr fünf Fuß hoch, und sollte auf einen Altar der Liebesgöttin gestellt werden. Als sie angelangt war, geriet ganz Abdera in Entzücken über die Schönheit ihrer Venus; denn die Abderiten gaben sich für feine Kenner und schwärmerische Liebhaber der Künste aus. «Sie ist zu schön, (riefen sie einhellig) um auf einem niedrigen Platze zu stehen; ein Meisterstück, das der Stadt so viel Ehre macht und so viel Geld gekostet hat, kann nicht zu hoch aufgestellt werden; sie muß das Erste sein, was den Fremden beim Eintritt in Abdera in die Augen fällt.» Diesem glücklichen Gedanken zufolge stellten sie das kleine niedliche Bild auf einen Obelisk von achtzig Fuß; und wiewohl es nun unmöglich war zu erkennen, ob es eine Venus oder eine Austernymphe vorstellen sollte, so nötigten sie doch alle Fremden zu gestehen, daß man nichts vollkommneres sehen könne.
Uns dünkt, diese Beispiele beweisen schon hinlänglich, daß man den Abderiten kein Unrecht tat, wenn man sie für warme Köpfe hielt. Aber wir zweifeln, ob sich ein Zug denken läßt, der ihren Charakter stärker zeichnen könnte als dieser: daß sie (nach dem Zeugnisse des Justinus) die Frösche in und um ihre Stadt dergestalt überhand nehmen ließen, daß sie endlich selbst genötiget wurden, ihren quäkenden Mitbürgern Platz zu machen, und, bis zu Austrag der Sache, sich unter dem Schutze des Königs Kassander von Macedonien an einen dritten Ort zu begeben.
Dies Unglück befiel die Abderiten nicht ungewarnt. Ein weiser Mann, der sich unter ihnen befand, sagte ihnen lange zuvor, daß es endlich so kommen würde. Der Fehler lag in der Tat bloß an den Mitteln, wodurch sie dem Übel steuern wollten; wiewohl sie nie dazu gebracht werden konnten dies einzusehen. Was ihnen gleichwohl die Augen hätte öffnen sollen, war: daß sie kaum etliche Monate von Abdera weggezogen waren, als eine Menge von Kranichen aus der Gegend von Geranien ankam, und ihnen alle ihre Frösche so rein wegputzte, daß eine Meile rings um Abdera nicht Einer übrig blieb, der dem wieder kommenden Frühling Brekekek Koax Koax entgegen gesungen hätte.