Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

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29

Cora sprach während der ersten Pause im Theater kein Wort.

»Was ist denn heute mit dir los?« fragte Kerky.

Sie schüttelte nur den Kopf. Als aber der Vorhang zu Beginn des zweiten Aktes aufging, packte sie plötzlich seinen Arm. »Komm mit nach draußen, Kerky!«

Er folgte ihr ins Vestibül, das leer und verlassen war.

»Erinnerst du dich an das Buch?« Sie brachte die Worte kaum heraus, jede Silbe mußte sie sich abringen.

»Ja!« Er war auf das Kommende vorbereitet.

»Ich habe es nicht auf die Bank gebracht. Ich wollte es tun, habe es aber vergessen. Es liegt immer noch in meiner Handtasche – und die habe ich verloren. Ich weiß, wo sie ist . . . Ich habe sie liegengelassen . . .«

Schließlich erzählte sie ihm, daß sie sich an Leslie hatte rächen wollen. »Ich war so außer mir über sie . . .«

»Darüber brauchst du jetzt keine Worte zu verlieren«, sagte er ruhig. »Geh ins Hotel, Cora!«

Er schnalzte geistesabwesend mit den Fingern. Ein Mann, der ihn beobachtete, entfernte sich vom Eingang des Theaters, kam ein paar Minuten später mit dem Wagen wieder und setzte sich neben den Chauffeur.

Kerky stieg ein. »Nach Westen! Slough und Maidenhead. Scharf nach rechts – dann über die Brücke!« Dumm war Cora – das ließ sich nicht bestreiten. Aber er war ihr nicht böse. Außerdem war er selber noch viel dümmer als sie! Warum mußte er auch alle Summen, die er aus diesem neuen Geschäft erhalten hatte, in ein Notizbuch eintragen? Warum hatte er das Abkommen mit Eddie überhaupt zu Papier gebracht? Mit ihm verglichen war Cora geradezu intelligent. Allerdings würde es schwer sein, die Sache mit Leslie Ranger aus der Welt zu bringen. Dadurch wurden die Zeitungen und das Publikum auf ihn aufmerksam, und das durfte in diesem Augenblick unter keinen Umständen geschehen. Nur wenn er in das Haus gelangen konnte, bevor jemand anders Leslie gefunden hatte, ließ sich vielleicht noch alles in Ordnung bringen.

Als er die Chaussee entlangfuhr, begegnete er einem Krankenwagen und einem Polizeiauto und schüttelte den Kopf. Heute ging auch alles schief! Warum mußten seine Leute ausgerechnet diese Gegend wählen, wenn ihnen doch das ganze Land um London herum offenstand? Er atmete schwer.

Endlich erreichte er Coras Landhaus. Als er das offene Fenster sah, erschrak er . . . Der Schlüssel steckte noch in der Hintertür; ein andrer hing am Schlüsselring. Daran erkannte er wieder Coras Nachlässigkeit. Er machte Licht, eilte die Treppe hinauf und ging durch das Mädchenzimmer in das kleine Bad. Da lagen die Handschellen; der Schlüssel steckte noch in der einen Fessel. Die Handtasche war nirgends zu sehen. Leslie mußte beobachtet haben, daß Cora den Schlüssel dort unterbrachte.

Nachdem Kerky das ganze Haus durchsucht hatte, gab er es auf und ging zum Wagen zurück. »Nach Hause, James!« sagte er und grinste – wie gewöhnlich, wenn er sich in einer fatalen Lage befand. –

Cora hatte sich angekleidet aufs Bett geworfen und den Kopf in den Armen vergraben.

Kerky klopfte ihr bei seiner Rückkehr freundlich auf die Schulter. »Hör auf zu weinen. Was verloren ist, ist verloren.«

Sie starrte ihn enttäuscht an. »Hast du die Tasche nicht gefunden?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, die hat sie als Andenken mitgenommen!« Er legte seinen Frack ab und zog eine Hausjacke an. Eine Möglichkeit blieb ihm noch: Er ging zum Telefon und wählte Leslies Nummer. »Gott sei Dank, daß Sie wohl und munter sind!« sagte er, als er ihre Stimme hörte. »Meine Frau hat mir alles gebeichtet. Schauderhaft, was sie da gemacht hat! Ich bin sofort hinausgefahren, um Sie freizulassen . . .«

Sie war ein wenig verblüfft, aber seine Worte klangen so aufrichtig, daß sie ihm glaubte. »Ich bin eben erst zurück«, erwiderte sie. »Und, Mr. Smith, ich habe die Handtasche Ihrer Frau!«

»Ach, sehen Sie mal an! Hätten Sie was dagegen, wenn ich sie gleich bei Ihnen abholte?«

»Ich bringe sie Ihnen morgen ins Hotel.«

»Sie täten mir aber den größten Gefallen, Miss Ranger, wenn Sie mir erlaubten, Sie heute noch aufzusuchen und mich bei Ihnen zu entschuldigen.«

Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Schön! Dann müssen Sie aber gleich kommen!«

Schnell kleidete er sich wieder an und ging fort, ohne Cora zu sagen, wohin er fuhr.

Als er Leslies Haus erreichte, war der Fahrstuhl oben, und er mußte eine Minute warten. Sie erschien ihm wie eine Ewigkeit.

Vor ihrer Tür stand ein Mann . . .

»Ist Miss Ranger zu Hause? Jemand bei ihr?«

»Nein.«

»Mein Name ist Kerky Smith. Sie brauchen niemand zu sagen, daß ich hier war, wenn man danach fragt!«

»Ich kenne Ihren Namen!«

»Das glaub' ich schon!« Kerky lächelte. »Sie heißen Appleton und sind Detektivsergeant bei der Abteilung N. Seit drei Wochen sind Sie hier.«

Der Mann war erstaunt. »Ich weiß nicht, woher Sie das erfahren haben . . .«

»Durchs Radio!« grinste Smith belustigt.

Als sich die Tür öffnete, blieb er einen Augenblick draußen stehen. Erst als Leslie ihn einlud, folgte er ihrer Aufforderung; er benahm sich sehr zuvorkommend.

Die Handtasche lag auf dem Tisch. Er nahm sie und öffnete sie. Das Buch mit der Kette war noch darin . . . Auf den Rest kam es nicht an. Er war dankbar; aber – es war dumm von ihr, ihm die Tasche zu geben. Sie war nicht ganz so beschränkt wie Cora, aber klug war sie auch nicht. Sie hätte doch Terry anläuten können. Sie hätte doch wissen müssen, daß ein mit einer Kette verschlossenes Buch etwas bedeutete.

Er eilte wieder zu seinem Wagen und fuhr zum Hotel zurück. Cora fand er in derselben Stellung, in der er sie verlassen hatte. Er warf die Handtasche auf das Bett.

Sie schrie auf und öffnete sie. »Wo ist das Buch?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»In meiner Tasche!« Er nahm es heraus. Der Verschluß war nach seinen Angaben gefertigt, und er war stolz darauf. »Morgen kommt es auf die Bank, Cora! Ich bringe es persönlich hin!«

Aber in der Nacht hatte er einen bösen Traum, stand auf und verbrannte es. –

Eddie Tanner kam unangemeldet zum Frühstück. Er kam ohne Begleitung, passierte den unsichtbaren Schutzkreis, der Kerky umgab, und trat ins Wohnzimmer.

Kerky wußte sofort, daß es eine böse Auseinandersetzung geben würde. »Bevor Sie irgend etwas sagen, mein Junge –: Es war nicht meine Idee . . . Setzen Sie sich! Und frühstücken Sie bitte mit mir!«

»Wessen Idee war es dann?«

»Cora hat die ganze Sache angerissen. Komm herein, Cora, und erzähle Eddie, wie übel du dich benommen hast!«

Sie erschien in einem entzückenden Negligé.

Aber Eddie hatte sie viele Male so gesehen, und deshalb machte das keinen Eindruck auf ihn. »Was hast du mit Leslie gemacht?«

Sie sah zu Kerky hinüber, der ihr zunickte. Mit stockenden Worten und düsterem Gesicht erzählte sie die Geschichte.

Eddies Züge glichen einer Maske. »Nun, da bist du ja gerade noch mal glücklich davongekommen, liebes Kind«, sagte er liebenswürdig. »Über Miss Ranger brauchen wir also nicht mehr zu sprechen. Der Fall ist erledigt!«

»Interessieren Sie sich nicht mehr für sie, Eddie?«

Tanner nickte. »Wissen Sie auch, was Sie angerichtet haben, Sie beide? Sie haben sie direkt in die Arme von Scotland Yard getrieben!«

»Nun – da könnten wir sie doch wieder herausholen«, meinte Kerky.

»Wer soll das tun?« Diese Worte bedeuteten eine Herausforderung und Drohung zugleich. Eddie Tanner lächelte nicht mehr, und er gab sich auch nicht die Mühe, gleichgültig zu erscheinen. »Wer soll das tun? Ich brauche nur den Namen zu wissen – dann wird er ebenso tot sein wie Tetley . . . Und sie weiß, daß der erschossen wurde! Weil sie es sah!«

Das spöttische Lächeln verschwand aus Kerkys Gesicht. »Wer sagt das?«

»Ich! Sie hat alles genau beobachtet, denn sie stand bei ihrem Auto abseits auf dem Feld, als Ihre Leute ihm zwei Kugeln durch den Kopf jagten.«

Mr. Smith schien wenig erfreut zu sein. »Wenn meine Leute sie dort gesehen hätten –«

»Dann wäre mindestens einer nicht mehr am Leben wahrscheinlich aber alle beide nicht. Sie hatte nämlich einen Browning – Coras Waffe.«

»Wo haben Sie nur all die Neuigkeiten her?« knirschte Kerky wütend. »Haben Sie etwa mit der Polizei gemeinsame Sache gemacht?«

Tanner hielt die Hand in der Tasche, seitdem er das Zimmer betreten hatte. Kerky hatte das beinahe vergessen, als er nach der Hüfte faßte.

»Wir wollen heute ruhig miteinander sprechen«, beschwichtigte ihn Eddie gelassen. »Es ist nahe daran, daß Sie sich überhaupt keine Sorgen mehr zu machen brauchen . . . Sie wissen es noch nicht: Ich scheide aus dem Geschäft aus!«

Kerkys Züge hellten sich auf, und er lächelte wieder.

»Dann soll ich das Baby also allein schaukeln?«

»Es wird kein Baby mehr da sein, das sich schaukeln läßt . . .«

Eddie ging zur Tür.

Kerky glaubte draußen ein Geräusch zu hören, und seine Vermutung wurde dadurch bestätigt, daß Eddie die Tür hastig aufriß. Im nächsten Augenblick war Tanner gegangen . . .

Kerky starrte ihm noch ein paar Sekunden nach, dann eilte er zu Cora ins Schlafzimmer. »Sally!« begann er. Wenn er sie so nannte, lag stets etwas in der Luft. »Der Dampfer ›Leviathan‹ fährt heute um Mitternacht ab. Ich werde Passage für dich belegen. Das Mädchen soll deine Sachen packen. Du kannst mit dem Auto nach Southampton fahren. Warte in New York, bis du von mir hörst. Und stell jetzt keine dummen Fragen! Tu, was ich dir sage!«


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