Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

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25

Nachdem einige Tage friedlich verlaufen und keine neuen Ausschreitungen und Verbrechen vorgekommen waren, hörte man in Scotland Yard von den rotgedruckten Drohbriefen. Ein reicher Brauereibesitzer, Mitglied des Parlaments, hatte ein solches Schreiben erhalten, und die Erpresser hatten sogar die Frechheit besessen, es ins Parlament zu schicken. Das war allerdings eine Herausforderung, die nicht übersehen werden durfte. Der Mann hatte natürlich zu anderen Mitgliedern gesprochen, und auch Scotland Yard hatte davon erfahren.

Jiggs Allerman hielt das Schreiben in der Hand und las es aufmerksam Wort für Wort. »Sie sind zu einer Verständigung gekommen. Das habe ich erwartet. Der Wortlaut ist ungefähr derselbe wie in dem grünen Schreiben; nur haben sie aus dem blauen die Telefonidee herübergenommen und dafür das brennende Licht im Fenster ausgemerzt. Ist dieser Senator, oder was er sonst ist, ein reicher Mann?«

»Millionär!« sagte Terry. »Er hat eine Wohnung in der Parklane.«

Jiggs nickte bedächtig. »Wo ist er denn jetzt? Im Parlamentsgebäude? Ich gebe Ihnen den guten Rat, ihn in einem Panzerwagen abzuholen und in den Tower zu bringen. Das jedenfalls wäre die einzige Möglichkeit, ihn zu retten. Die Kerle wissen, daß der Brief zur Polizei geschickt wurde, und haben den Mann natürlich zum Tode verurteilt. Das wird wieder eine üble Geschichte werden, Terry!«

»Ich setze mich sofort mit dem Ausschuß in Verbindung.«

Eine Stunde lang blieb Terry fort, und als er wiederkam, konnte Jiggs schon an seinem Gesicht ablesen, daß er keinen Erfolg gehabt hatte.

»Die Herren sagen, wir würden durch diese Maßnahme unsre eigne Unfähigkeit eingestehen, den Mann zu beschützen. Sie haben schließlich eingewilligt, daß wir ihn jedesmal unter Schutzgeleit zum Parlament bringen und von dort wieder abholen. Außerdem soll seine Wohnung von einem Polizeiaufgebot bewacht werden.«

Jiggs schüttelte den Kopf. »Das ist unvorsichtig. Die Gangster können ihn doch auf dem Weg zum Parlament leicht schnappen, selbst wenn die Polizei mit Pauken und Trompeten vorwegmarschiert. Aber ich habe das Gefühl, daß sie das Ding anders drehen werden.«

»Der Innenminister meint, die Sache wäre nicht aussichtslos, da sie den Colonel Drood auch nicht geschnappt hätten.«

»Albernes Gewäsch!« rief Jiggs wütend. »Sie haben Drood in Ruhe gelassen, weil gerade an dem Abend Krieg zwischen den beiden Banden ausbrach, und nicht, weil sie ihm nichts hätten anhaben können. Die Burschen werden diesen Mr. Durcott fassen, so wahr ich hier sitze! Vielleicht nicht heute, aber sicher in den nächsten drei Tagen. Und ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, daß sie keine weiteren Briefe ausschicken, ehe diese Sache erledigt ist. Das ist nämlich das Probestück für die erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Banden.«

Am Abend wurde Durcott unter starker Bewachung aus dem Parlament abgeholt. Motorradfahrer der Polizei begleiteten sein Auto auf beiden Seiten, und als er nach Hause kam, waren so viele Beamte in seiner Wohnung, daß er kaum zu seinem Schlafzimmer gelangen konnte. Wenigstens erzählte Jiggs das so.

Am nächsten Nachmittag begab sich der Abgeordnete wieder zu einer Sitzung ins Parlament. Eine große Menschenmenge jubelte ihm begeistert zu, als er vorüberkam, und Durcott sonnte sich in seiner neuen Berühmtheit.

»Können Sie mir eigentlich erklären«, fragte Jiggs, »warum ausgerechnet Inspektor Tetley die Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz Durcotts leitet?«

Terry zögerte. »Wembury ist etwas dickköpfig, und Sie scheinen ihn irgendwie verletzt zu haben.«

Jiggs grinste. »Natürliche Abneigung des Vorgesetzten gegen einen befähigteren Untergebenen!« erwiderte er großspurig. »Es tut mir leid«, fuhr er dann in verändertem Ton fort. »Ich habe Wembury gern – er ist wirklich ein famoser Kerl. Und wenn ich Polizeichef in Chikago wäre, und es käme eines guten Tages ein Engländer und wollte große Töne reden, würde ich es wahrscheinlich auch nicht anders machen. Trotzdem, Terry: Sie müssen Wembury davon überzeugen, daß dieser Tetley ein gemeingefährlicher Halunke ist! Ich habe auf eigne Faust ein bißchen Detektiv gespielt und herausgebracht, daß der saubere Kollege mit Kerky unter einer Decke steckt, und zwar seitdem die Tätigkeit der organisierten Banden in London begann. Könnten Sie Wembury das nicht beibringen?«

»Im Augenblick nicht. Er ist ganz aus dem Häuschen, und das läßt sich schließlich begreifen. Tetley versteht es außerdem, die Leute zu beschwatzen. Er hat sich aus einfachsten Verhältnissen emporgearbeitet – das wird ihm hier immer hoch angerechnet. Andererseits stand er vor fünf Jahren schon einmal unter Verdacht. Es handelte sich damals um eine anrüchige Spielhölle. Ein großer Skandal – doch wir konnten ihm nichts beweisen. Aber daß er sich jetzt mit Mördern verbündet, kann ich nicht recht glauben.«

»Das hat er, seiner Meinung nach, auch nicht getan. Er glaubt natürlich, daß er das Geld erhält, weil er gewisse Dinge nicht zur Anzeige bringt, auf die es nicht ankomme. Leute wie Tetley verstehen es immer ausgezeichnet, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Und glauben Sie ja nicht, daß er sich nicht fürchtet! Allmählich wird ihm klar, was er gemacht hat; aber nun hat er sich einmal auf die Sache eingelassen und kann nicht aus der Schlinge heraus. Er ist um so schlimmer dran, weil er nach und nach sieht, wie tief er in die Geschichte verstrickt ist. An einem der nächsten Tage wird sich sein Gewissen melden, und dann wird er die Gangster verraten. Aber wenn es soweit kommt, wäre es besser für ihn, den Schnabel zu halten.« –

Auch am zweiten Abend ereignete sich nichts. Am dritten lag Nebel über London, und als sich der Dunst in den Straßen immer mehr verdichtete, wußte Jiggs, daß jetzt die Entscheidung kommen würde.

Mr. Quigley, ein alter, weißhaariger Parlamentarier, der etwas gebeugt ging, war in der letzten Zeit häufig krank gewesen und deshalb nur selten zu den Sitzungen erschienen. Aber an diesem Abend ging er durch die Vorhalle in das Innere des großen Gebäudes. Der Polizist, der am Eingang Wache hielt, grüßte ihn und öffnete die Tür.

Einen Augenblick blieb Quigley stehen und putzte seine Brille. Als er in den Sitzungssaal trat, fand er das Haus nur mäßig besetzt. Mehrere Mitglieder debattierten eifrig über eine neue Gesetzesvorlage. Er ließ sich auf einer der fast leeren Regierungsbänke nieder.

Verschiedene der Anwesenden lächelten. »Quigley ist zur Regierung übergegangen!« tuschelten sie.

Er gehörte nämlich zur Opposition. Die für Regierungsmitglieder reservierte erste Sitzreihe im Parlament war fast vollkommen frei. Nur ein Unterstaatssekretär, der die Debatte führte, war zugegen.

Unerwartet erhob sich Mr. Quigley, ging mit unsicheren Schritten auf das Rednerpult zu und hatte schon den Gang erreicht, der zur Tür führte, als er eine Pistole zog und sich plötzlich umdrehte. In kurzer Aufeinanderfolge feuerte er dreimal, sprang über die vorgestreckten Beine des Unterstaatssekretärs, lief am Rednerpult vorbei und verschwand durch die hintere Tür. In wenigen Sekunden war alles vorüber – Mr. Durcott, der auf einer der vorderen Bänke gesessen hatte, brach zusammen.

Ein Polizist sah den alten Mann, der hinauslief, und versuchte ihn anzuhalten. Aber dazu kam er nicht; er stürzte mit einem Schuß in der Schulter zu Boden. Offenbar kannte der Mörder die Lage der einzelnen Räume im Parlament sehr genau. Er bog in einen Gang ab und eilte dann auf die Terrasse des Hauses. Rasch zählte er die Laternen von der Brücke aus und sprang bei der vierten in den Fluß.

Niemand sah es. Als Politiker, Beamte und Polizisten auf der Terrasse erschienen, war er verschwunden.

Ein Polizist schaute über das Geländer und entdeckte ein Motorboot, das auf die Mitte des Stromes hinausfuhr. Er rief es an, und als keine Antwort kam, zog er seinen Revolver und gab zwei Schüsse ab. Unmittelbar darauf blitzte das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs auf; unheimlich hallten die Schüsse über das Wasser. Ein Kugelregen prasselte gegen die Brüstungsmauer, ein paar Fenster im Parlamentsgebäude zerklirrten, aber weiterer Schaden wurde nicht angerichtet.

Jetzt war das Boot mitten auf dem Fluß. Kurz darauf sahen die Zuschauer auf der Terrasse wieder das Mündungsfeuer des Maschinengewehres und hörten das unheimliche Rattern. Die Gangster waren auf ein Polizeiboot gestoßen, aber der Kampf blieb einseitig. Als Verstärkungen herbeikamen, war von dem Polizeiboot nichts mehr zu sehen: Es war in den Fluten verschwunden.

 

Wembury trat bleich in Westons Büro.

»Ist er tot?« fragte Terry.

Der Vorgesetzte nickte. »Er ist vollkommen erledigt. Und Scotland Yard auch. Wo steckt denn unser amerikanischer Freund?«

»Er ging vorhin fort, als der Bericht vom Parlamentsgebäude durchkam.«

»Er hatte doch nicht so ganz unrecht mit dem Panzerwagen und dem Tower«, meinte Wembury bitter, sank in einen Stuhl und verbarg das Gesicht in den Händen. »Mein Gott, für diese Aufgabe bin ich nicht geschaffen! Wenn ich daran denke, wie wir lachten, als wir die Nachrichten erhielten, daß die Chikagoer Polizei mit den Alkoholschmugglern nicht fertig werden konnte! Jetzt wissen wir, warum es ihnen nicht gelingt. Wir kämpfen mit Flederwischen gegen Revolver.« Er lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. »Das Motorboot, in dem der Kerl entkommen ist, muß die ganze Zeit im tiefen Schatten an der Ufermauer entlanggefahren sein, so daß es von der Themsepolizei nicht bemerkt wurde. Der Sergeant, der das Patrouillenboot steuerte, ist schwer verletzt und liegt in hoffnungslosem Zustand im Hospital; sie haben ihn noch lebend aus dem Wasser gefischt. Jiggs hatte uns den Rat gegeben, alle Polizeiboote auf der Themse mit Maschinengewehren zu bewaffnen, und ich habe nicht auf ihn gehört!«

Captain Allerman kam zur Tür herein. »Hallo, Chef! Tut mir leid, daß es so kommen mußte . . .«

Wembury nickte. »Irren ist nun mal menschlich. Sie können sich freuen, daß alles so eintraf, wie Sie sagten.«

Jiggs sah ihn düster an. »Ich freue mich nicht! Aber ich werde Ihnen sagen, was Sie tun müssen: Lassen Sie Eddie Tanner und Kerky Smith verhaften und zum Scotland Yard bringen!«

»Und was dann?« fragte Wembury nach einer kleinen Pause.

»Dann können Sie sie niederschießen, wenn sie entfliehen wollen.«

Wembury starrte ihn an. »Was? Wir sollen sie unterwegs erledigen?«

»Ja – wenn sie zu fliehen versuchen.«

»Aber wenn sie das nicht tun?«

»Falls Sie mir die Sache überlassen, sorge ich schon dafür, daß sie einen Fluchtversuch machen!«

Wembury schüttelte den Kopf. »Das wäre doch glatter Mord!«

»Was ist denn heute abend und während der ganzen Woche passiert? War das vielleicht ein Pfänderspiel? Sie haben es hier mit organisierten Verbrecherbanden zu tun, die Mord für eine ganz normale Sache halten. Meiner Schätzung nach gibt es zur Zeit ungefähr zweihundert solcher bezahlter Pistolenschützen in London, und sie alle sind geübte Spezialisten. Schon seit Monaten hat man ihre Wohnungen und Verstecke vorbereitet. Alles ist sorgfältig geplant. Über zwei Millionen Dollar sind in das Geschäft bereits hineingesteckt worden, aber es macht sich mehr als bezahlt. Heute abend wird das Geld in vollen Strömen hereinkommen!« –

Scotland Yard erließ eine Verordnung, wonach alle uniformierten Polizisten auf den Straßen bewaffnet wurden. Ferner wurde eine Anregung Allermans angenommen: Man richtete Luftpatrouillen ein, die Tag und Nacht über London Dienst taten. Die Beobachter im Flugzeug blieben stets in Verbindung mit gewissen Erdstationen. Bei Tag konnten sie jedes Auto verfolgen, so schnell es auch fuhr, und genau angeben, welches Ziel es hatte.

Endlich beauftragte Polizeidirektor Wembury auch seinen Chefinspektor Terry Weston, dem verdächtigen Tetley ernstlich auf den Zahn zu fühlen. »Ich habe ihm befohlen«, meinte Wembury, »sich in meinem Büro zu melden; aber ich werde ihn zu Ihnen schicken. Ich gebe Ihnen dem Mann gegenüber freie Hand. Bis morgen früh will ich wissen, welche Vorsichtsmaßregeln er getroffen hatte und wie es möglich war, daß der Verbrecher über die Terrasse des Parlamentsgebäudes fliehen konnte, ohne gefaßt zu werden. Captain Allerman soll Ihrer Unterredung beiwohnen.«

Kurze Zeit später kam Tetley zu den beiden in Terrys Büro. Er sah alt und verfallen aus; der sonst aufgezwirbelte Schnurrbart hing nach unten. Der Mann schien von Angst und Schrecken gepackt und dem Zusammenbruch nahe zu sein.

Tetley sah auf Allerman, dann auf Weston. »Ich möchte lieber mit Ihnen allein sprechen, Chefinspektor! Ich glaube, nicht, daß Fremde –«

»Wir haben jetzt keine Zeit, auf Ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen, Tetley! Sie wissen außerdem sehr wohl, daß Captain Allerman unserm Präsidium als Beamter zugeteilt ist. Erklären Sie mir jetzt, wie dieses Unglück heute abend überhaupt geschehen konnte! Warum waren die Ausgänge nicht genügend besetzt? Wie war es möglich, daß der Verbrecher entkam?«

»Ich tat mein Bestes!« beteuerte Tetley weinerlich. »Ich hatte auf allen Korridoren Beamte aufgestellt, und ich kann nicht verstehen, daß ausgerechnet der Posten auf der Terrasse –«

»Wenn Sie es nicht verstehen können, dann will ich es Ihnen begreiflich machen!« erwiderte Terry streng. »Er war nicht auf seinem Platz, weil man ihn nicht richtig instruiert hatte!«

Tetley widersprach nicht. »Wir machen alle unsere Fehler«, entschuldigte er sich. »Ich habe eine sehr schwere Zeit hinter mir, und heute abend hatte ich so entsetzliche Kopfschmerzen, daß ich kaum noch wußte, was ich tat . . .«

»Sie melden sich morgen um zwölf wieder hier in meinem Büro!« erwiderte Terry scharf. »Bringen Sie Ihr Bankbuch mit – ebenso die Bankbücher Ihrer Frau! Sie hat zwei; eins davon unter ihrem Mädchennamen . . . Außerdem schaffen Sie mir den ganzen Inhalt Ihres Depotfachs 8497 von der Bank her! Es wartet bereits ein Beamter auf Sie, der Ihnen behilflich sein wird.«

Tetley verließ das Zimmer als gebrochener Mann.

»Das Merkwürdigste an der Sache war«, bemerkte Jiggs, »daß ich kein Wort zu sprechen brauchte . . .«


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