Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

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19

Leslie Ranger hatte zu verhältnismäßig geringem Preis eine kleine Wohnung mit Telefon im vierten Stock eines neuerrichteten Häuserblocks gemietet und konnte von ihren Fenstern aus den Cavendish Square überschauen. Die Möbel waren angekommen, aber es sah noch etwas unordentlich in den Räumen aus.

An dem Tag, an dem sie Tanner verließ, waren ihr auf seine Anweisung hin tausend Pfund ausgezahlt worden, die sie noch nicht angegriffen hatte. Trotz alledem war sie gezwungen, sich nach einer neuen Stellung umzusehen, und sie hatte ihre Adresse auch bereits bei einem Stellenvermittlungsbüro angegeben.

Als sie sich gerade eine einfache Mahlzeit bereitete, klingelte es. Als sie öffnete, sah sie eine elegante Dame vor sich.

»Sind Sie Miss Ranger?« fragte die Fremde. »Gestatten Sie, daß ich nähertrete?«

Leslie entschuldigte sich wegen des Durcheinanders, das in der Wohnung herrschte. »Kommen Sie mit in die Küche!« bat sie. »Dort sieht es noch am ordentlichsten aus.«

Die Dame war sehr elegant gekleidet und trug einen Pelzmantel, obgleich der Abend verhältnismäßig warm war. An ihren Fingern glänzten Diamantringe. »Darf ich mich setzen?« Sie zog einen Küchenstuhl heran und ließ, sich nieder. Ihre Strümpfe waren hauchdünn. »Sie kennen mich natürlich nicht?« Die Fremde sprach mit kalifornischem Akzent, aber das wußte Leslie nicht. »Ich bin Cora Smith; mein Mann ist Albuquerque Smith. Man nennt ihn so, weil er aus Albuquerque stammt. Ich bin weiter westlich daheim – in Los Angeles. Sie haben sicher schon von der berühmten Filmstadt gehört?« Leslie nickte.

»Mein Mann ist auf einer Erholungsreise hier«, fuhr Mrs. Smith fort, »und hat leider seine Sekretärin verloren. Sie ist nämlich nach Bombay gefahren, um sich dort zu verheiraten. Nun hab' ich von Ihnen gehört und gedacht, Sie könnten uns wegen dieser Angelegenheit vielleicht mal besuchen.« Sie sagte das alles ohne Pause. Ihre Stimme klang monoton und nicht gerade angenehm.

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mrs. Smith! Ich suche tatsächlich einen Posten als Sekretärin.«

»Sie haben für Mr. Tanner gearbeitet? Wir kennen ihn. Er ist wirklich sehr nett – in jeder Beziehung ein Gentleman! Als ich erfuhr, daß Sie von ihm weggingen, hab ich's Kerky erzählt, und er meinte, ich solle mich gleich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie morgen aufzusuchen und mit Mr. Smith zu sprechen!«

Die Dame nahm eine Visitenkarte aus einem Platinetui und reichte sie Leslie. Dann verließ sie die Wohnung. Der Duft eines feinen Parfüms blieb in dem Raum zurück.

Leslie sah auf die Karte. Es stand nur darauf: »Mrs. A. Smith, geb. Schumacher.« Die Adresse war mit Bleistift danebengekritzelt, und es dauerte ein Weilchen, bis sie den Namen des Hotels entziffert hatte, das als eines der teuersten und vornehmsten in London galt. Allem Anschein nach mußte dieser Albuquerque Smith ein reicher Mann sein.

Leslie hatte kaum das Licht ausgedreht, als es noch einmal klingelte. Es war beinahe Mitternacht. Sie warf ihren Morgenrock über und ging zur Tür.

»Wer ist da?« fragte sie vorsichtig.

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Es ist sehr wichtig!« Tanners Stimme!

»Ich bin ganz allein in der Wohnung, Mr. Tanner. Es tut mir leid, daß ich Sie nicht hereinbitten kann.«

»Aber es ist wirklich äußerst dringend!«

Zögernd schob sie den Riegel zurück und öffnete.

Edwin Tanner trug elegante Abendkleidung, zeigte aber nicht sein gewöhntes selbstsicheres Wesen, sondern schien ziemlich aufgeregt. »Ich werde hier bleiben«, sagte er und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »War heute eine Dame bei Ihnen, die sich Mrs. Smith nannte? Und hat sie Ihnen etwa angeboten, als Sekretärin für ihren Mann zu arbeiten?«

»Ja. Und ich habe zugesagt, daß ich Mr. Smith morgen aufsuchen würde.«

»Weitere Fragen richtete sie nicht an Sie? Nein . . .? Nun, das war alles, was ich wissen wollte, Miss Ranger. Es ist mir peinlich, daß ich Sie so spät noch gestört habe. Aber ich halte es für besser, daß Sie nicht zu diesem Smith gehen; es würde Ihnen dort nicht gefallen . . . Hat Sally Ihnen übrigens von ihren früheren Eheabenteuern erzählt?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Sie nannte sich vermutlich Cora?« fuhr er fort. »Sally ist ihr richtiger Name.«

»Kennen Sie die Dame so gut?«

Er nickte und lächelte dann. »Ich glaube schon . . . Bis vor acht Jahren waren wir nämlich miteinander verheiratet!«

»Verheiratet? Aber sie ist doch fast noch ein junges Mädchen!«

»Achtunddreißig Jahre sind ein ziemliches Alter für ein junges Mädchen. Ich würde an Ihrer Stelle den Posten nicht annehmen, Miss Ranger. Es ist nur ein Vorwand; denn Kerky braucht keine Sekretärin. Sally war eine der besten Stenotypistinnen in Chikago, bevor sie verschiedene Gangster kennenlernte. Ach, entschuldigen Sie!« sagte er hastig. »Ich habe da eben einen Slangausdruck gebraucht . . . Ich wollte eigentlich sagen: bevor sie mit der Unterwelt bekannt wurde . . . Ja, Sie würden es niemals ahnen, Miss Ranger, aber ich habe früher mal eine halbe Million Dollar an diese Sally verschwendet. Damals war sie brünett und noch nicht so hergerichtet. – Aber nun habe ich erfahren, was ich wissen wollte, und möchte mich jetzt verabschieden . . .« Er legte die Hand auf die Klinke, blieb jedoch reglos stehen.

Sie fühlte die Spannungen seiner Haltung, obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte. »Stimmt etwas nicht?«

Er hob die Hand, und sie schwieg. Plötzlich wandte er sich um und zeigte nach links. Sie verstand, daß sie ins Wohnzimmer gehen sollte. Merkwürdigerweise gehorchte sie, ohne zu fragen.

Als sie außer Sicht, war, hörte sie das leise Geräusch, das durch das öffnen der Tür entstand, und dann vernahm sie Eddie Tanners Stimme: »Hallo, mein Junge! Was hast du denn hier zu tun?«

»Ach, Ed, ich wollte einen meiner Freunde besuchen, der hier im Haus wohnt . . . Aber stecken Sie doch den Revolver weg, Mensch!«

»Stell dich dort an die Wand und strecke die Hände so hoch wie du kannst!«

Ein langes Schweigen . . . Dann wieder Tanners Stimme: »Wozu hast du das mitgebracht, wenn du deinen Freund besuchen wolltest?«

»Aber, Ed, man kann doch in London nicht vorsichtig genug sein! Gewöhnlich trage ich nie ein Schießeisen bei mir.«

»Du wirst keines mehr bei dir tragen! Geh jetzt geradeswegs zum Fahrstuhl! Ich bleibe dicht hinter dir. Mein Wagen wartet hinterm Haus. Wir werden zusammen ausfahren und uns noch ein bißchen unterhalten.«

Leslie hörte, daß die Tür geschlossen wurde. Gleich darauf kam der Lift nach oben.

Die erste Nacht in der neuen Wohnung schlief Leslie fest und tief, und als sie am nächsten Vormittag aufwachte, zeigte die Uhr neben ihrem Bett zehn Minuten vor zwölf.

Sie glaubte es erst, nachdem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte. Dann erinnerte sie sich an die Verabredung mit Albuquerque Smith und an Eddie Tanners Warnung. Sie überlegte noch, ob sie gehen oder bleiben sollte, als sie bereits angezogen war und die erste Tasse Tee trank. –

Um ein Uhr sah Mr. Albuquerque Smith auf die Uhr. »Die Dame kommt nicht!«

Seine Frau schüttelte den Kopf. »Sollte man das annehmen, von einem solchen Mädchen? Ich glaube, die hat kein einziges elegantes Kleid . . .«

»Ich möchte nur wissen, ob sie gestern noch mit Ed gesprochen hat . . .«

Sie schaute ihn erstaunt an. »Weißt du denn das nicht? Ich dachte, du wüßtest alles, was Ed unternimmt.«

Er lächelte boshaft. »Einer meiner Leute beobachtete ihn, aber ich hab' nichts mehr von ihm gehört . . . Ist die Neugier Eurer Majestät nun befriedigt?«

Wenn er von ›Majestät‹ sprach, war es hohe Zeit, ihn nicht durch weitere Fragen zu verstimmen . . .

Leslie kam nicht, aber Kerky Smith hatte mittags einen anderen Gast. Er sah auf, als er den Schatten des Besuchers bemerkte, und hielt plötzlich im Essen inne. »Ach, da ist ja Jiggs!«

»Sie hatten mich gestern zum Mittagessen eingeladen, Kerky, aber ich hab' es beinahe vergessen. Wie geht es Ihnen, Mrs. Smith? Haben Sie heute morgen ganz London eingekauft?«

Kerky unterbrach sie, als sie sich über die Unzulänglichkeit der Londoner Geschäfte beschwerte.

»Cora, ich möchte mich ein wenig mit Captain Allerman unterhalten. Würde es dir etwas ausmachen, oben zu speisen?«

Er war erstaunt, daß sie sich ohne Widerrede erhob und nicht einmal böse dreinsah.

»Alle Leute kratzen ab«, sagte Jiggs. »Es wird nicht genug Säle in London geben, um all die vielen Verhandlungen zu führen, nachdem hier amerikanische Zustände einreißen.«

Kerky grinste. »Reden Sie doch nicht so schlecht von unsrer Heimat, Jiggs! Meiner Meinung nach sind das keine Amerikaner, sondern nur heruntergekommene Fremde. Ich weiß auch gar nicht, warum sie nicht wieder dahin gehen, wo sie hergekommen sind. Das sagte ich schon immer.«

»Das sagen die anderen auch; besonders, wenn sie nicht intelligent genug sind, die Lage zu durchschauen. Wann wollen Sie wieder nach Amerika, Kerky?«

»Ich?« Smith tat erstaunt und verletzt. »Warum sollte ich zurückfahren? Ich hatte vor, nach Paris zu reisen.«

»Wissen Sie, was hier mit Leuten geschieht, die einen Mord begehen? Die besten Rechtsanwälte können sie nicht vorm Galgen retten. Hier gibt es keine bestechlichen Richter; die kümmern sich den Teufel drum, ob ein Angeklagter ein paar Millionen Dollar hat oder nicht. Ich würde es mir doch noch zweimal überlegen, Kerky!«

Kerky lächelte ebenso verbindlich wie vorher.

»Sie wollen doch nicht unter die Verbrecher gehen, Jiggs? Das täte mir ehrlich leid . . .«

»Das ist die eine Seite der Sache«, entgegnete Allerman, in keiner Weise gekränkt. »Aber ich will Ihnen noch eine andere zeigen: Hier in London hält sich ein Mann auf, der blitzschnell sein Schießeisen zieht und feuert, ehe Sie mit den Augen zwinkern können.«

»Ich bin doch so dünn, Jiggs, daß mich keine Kugel treffen kann . . . Was wollen Sie übrigens speisen, Captain? Was Warmes, recht nett mit Gift angemacht . . .? Nein, ich gehe nicht nach Amerika zurück – wenigstens vorläufig noch nicht! Wenn Sie nach New York kommen, so sagen Sie unsern Freunden, ich bliebe noch hier, um mir die schöne Gegend anzusehen!«

Jiggs erhob sich. »Sie sind ein alter Reiseonkel, Kerky, und Sie wissen ganz genau, was es heißt, wenn das Nebelhorn auf einem Dampfer viermal tutet: ›Alle Mann von Bord!‹ Und wenn Sie das Warnungssignal noch nicht gehört haben, dann gehen Sie zu einem Ohrenspezialisten!«


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