Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

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13

Am nächsten Morgen erhielt Terry einen unerwarteten Anruf von Eddie Tanner:

»Haben Sie vielleicht Zeit, mich mal aufzusuchen? Es handelt sich um eine rein persönliche Angelegenheit. Ich würde gern nach Scotland Yard kommen, aber ich halte das im Augenblick nicht für ratsam.«

Terry folgte der Aufforderung und fand Tanner an dem Schreibtisch, an dem vor kurzem sein Onkel so kaltblütig erschossen worden war.

Eddie rauchte eine Zigarette und hatte eine aufgeschlagene Zeitung vor sich liegen. »Eine böse Sache!« meinte er und zeigte auf die fettgedruckten Zeilen. »Sie müssen zur Zeit sicher allerhand zu tun haben in Scotland Yard?«

Terry war ihm nicht gerade freundlich gesinnt, aber selbst jetzt konnte er noch nicht glauben, daß Tanner seinen Onkel an dieser Stelle mitleidlos erschossen hatte. »Möchten Sie mit mir über den Feuerüberfall sprechen?«

»Nein – das geht mich ja gar nichts an!« Eddie schob die Zeitung zur Seite. »Miss Ranger wird in einer halben Stunde kommen, und ich habe die Absicht, sie zu entlassen.«

Tanner wartete, aber Terry machte keine Bemerkung.

»Ich habe mir die Sache eingehend überlegt und bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Stellung ziemlich gefährlich für sie ist. Einige Stunden nach dem Tod meines Onkels ist sie von einer Bande verschleppt worden, die wahrscheinlich mit den Mördern unter einer Decke steckt oder sogar mit ihnen identisch ist. Der Schreck über dieses Erlebnis hat sie stark mitgenommen. Allem Anschein nach sind die Leute, die für diese Morde verantwortlich sind«, er tippte auf die Zeitung, »mir nicht sonderlich gut gesinnt. Und ich wünsche nicht, daß Miss Ranger noch einmal in eine so unglückliche Lage kommt. Sie sind ein Freund von ihr – wenigstens sind Sie gut mit ihr bekannt, und ich bitte Sie, mir in dieser Angelegenheit zu helfen.«

»In welcher Weise?«

Eddie warf den Rest der Zigarette in eine Vase und steckte sich eine neue an. »Die junge Dame wohnt in einer abgelegenen Gegend in einem billigen Quartier und hat kein Telefon. Das halte ich für gefährlich, falls diese Leute glauben, noch wichtige Nachrichten aus ihr herausholen zu können. Deshalb wäre es mir lieb, wenn die junge Dame in einer besseren Gegend im Westen wohnte. Es ist schwierig, ihr diesen Vorschlag zu machen, da ich bereit bin, die Mietzahlung für diese Wohnung zu übernehmen. Sie ist ein hübsches Mädel und wird über dieses Ansinnen natürlich empört sein. Denn ich will nicht nur ihre Miete zahlen, sondern ihr auch die Wohnung einrichten . . .«

»Warum wollen Sie das tun?«

Tanner zuckte die Schultern. »Es ist eine verhältnismäßig geringe Ausgabe, und ich wäre dann beruhigt«, erwiderte er lächelnd. »Mit anderen Worten: Ich möchte nicht schuld daran sein, wenn ihr etwas passiert.«

»Ein sehr großzügiges Angebot! Ich verstehe Ihren Standpunkt vollkommen – obwohl Sie vielleicht eine Nebenabsicht damit verbinden, die Sie mir verschwiegen haben.«

»Nein, Sie irren sich! Ich habe keine Hintergedanken. Ich habe die junge Dame gern – damit ist nicht gesagt, daß ich sie etwa liebe oder näher mit ihr bekannt werden möchte. Sie gehört zu den seltenen Frauen, denen ich unter allen Umständen vertrauen würde, obwohl sie Ihnen gegen meinen Willen eine bestimmte Mitteilung gemacht hat. Aber da die Umstände so außergewöhnlich waren, kann ich das begreifen. Soweit als irgend möglich möchte ich sie vor neuen Zwischenfällen bewahren . . . Überreden Sie also bitte Miss Ranger, mein Anerbieten anzunehmen!«

»Aber ich habe doch keinen Einfluß auf sie!«

Wieder glitt ein flüchtiges Lächeln über Eddies Züge. »Meiner Meinung nach haben Sie einen größeren Einfluß auf sie, als Sie selber ahnen. Wollen Sie mir helfen, wenn meine Annahme stimmt?«

»Das muß ich mir erst überlegen.« –

Als Leslie eine Viertelstunde später erschien, fand sie Eddie Tanner an ihrem Schreibtisch.

»Heute habe ich keine Arbeit für Sie«, sagte er vergnügt. »Und ich werfe Sie hiermit in aller Freundschaft hinaus!«

Sie sah ihn betroffen an, »Soll das heißen, daß Sie mich nicht mehr brauchen können?«

»Nein, es ist noch sehr viel zu tun. Aber ich mußte mich zu diesem Schritt entschließen, weil die Stellung bei mir für Sie zu gefährlich ist.« Er wiederholte nun alles, was er schon Terry gesagt hatte. »Chefinspektor Weston kam auf meine Bitte heute morgen hierher«, erklärte er offen. »Ich bat ihn, Ihnen die Lage in meinem Sinn klarzumachen.«

»Aber ich kann doch kein Geld von Ihnen annehmen für –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Das habe ich übrigens erwartet: Eine anständige junge Dame kann sich nicht gut eine möblierte Wohnung von einem Herrn einrichten lassen. Ich bin Ihnen jetzt sogar zu Dank verbunden, daß Sie nicht böse und ausfallend gegen mich werden. Doch das, was ich Ihnen gesagt habe, ändert sich dadurch in keiner Weise, Miss Ranger, und Sie würden mir eine große Sorge abnehmen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingingen. Ich schulde Ihnen sowieso fünfzigtausend Pfund . . .«

»Sie schulden mir fünfzigtausend Pfund?« wiederholte sie verblüfft. Sie hatte sein Versprechen vergessen.

Er nickte. »Im Augenblick bin ich nicht in der Lage, Ihnen die Summe zu geben. Es wird verhältnismäßig lange dauern, bis ich das Vermögen meines Onkels in die Hand bekomme.«

»Mr. Tanner, Sie wissen genau, was Mr. Weston denkt, und ich fürchte, ich werde der gleichen Ansicht sein müssen. Sie haben das Testament irgendwie an sich gebracht und es nachher absichtlich in das Lexikon gelegt, damit ich es an der betreffenden Stelle finden sollte. Da Sie, meiner Meinung nach, das Testament vor mir gefunden haben, sind Sie von Ihrem Versprechen –«

»Nein, durchaus nicht!« unterbrach er sie. »Selbst wenn Westons phantastische Theorie zutreffen sollte. Jedenfalls bin ich aber der Testamentsvollstrecker meines Onkels. Er hat Ihnen tausend Pfund hinterlassen, die ich Ihnen baldigst auszahlen werde. Aber ich möchte Sie bitten, mich auch noch in der angedeuteten Weise für Sie sorgen zu lassen.«

Sie schüttelte den Kopf, »Ich hatte sogar die tausend Pfund vergessen«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Diese Summe bedeutet eine beachtliche Unterstützung für mich. Ich verspreche Ihnen auch, in eine andere Gegend zu ziehen, in der ich mich sicherer fühlen kann. Ich hatte beinahe selbst schon den Entschluß gefaßt. Aus dem Nachlaß meiner Mutter besitze ich einige Möbel und kann mir ein gemütliches Heim einrichten. Daß ich Ihr Anerbieten nicht annehmen kann, werden Sie hoffentlich verstehen?«

»Ich achte Sie um so mehr!« entgegnete er. Er zahlte ihr für zwei Wochen Gehalt aus, als Ausgleich für die Kündigung.

Eine halbe Stunde später war sie bereits in ihrer Wohnung und packte für den Umzug. Sie hatte den ganzen Tag für sich und nahm sich vor, ein paar Einkäufe zu machen, dann in der Stadt zu Mittag zu essen und nachher den Möbelspeicher aufzusuchen, in dem ihre Sachen aus dem Nachlaß der Mutter seit drei Jahren untergebracht waren. Allerdings war dieser Speicher sehr unbequem zu erreichen. Unangenehm, daß sie zu diesem Zweck bis nach Rotherhithe hinausfahren mußte! Aber dann entschloß sie sich, das Unangenehme zuerst zu erledigen, verschob die Einkäufe auf den Nachmittag, nahm ein Taxi und befand sich eine Weile später in der traurigen Umgebung von Rotherhithe.

Sie wußte nicht mehr genau, wo der Speicher lag, und ließ deshalb den Chauffeur halten, um einen Polizisten zu fragen.

»Zaymens Möbellager?« wiederholte der Beamte und gab dann die genaue Richtung an. »Wollen Sie etwa Ihre Sachen dort abholen? Da kommen Sie gerade noch zur rechten Zeit! Seit einer Woche annonciert die Firma, daß sie das Möbellager auflöst. Der alte Herr ist vor zwei Jahren gestorben, und der junge Zaymen . . .« Er zuckte die Schultern. »Manche Leute sagen, die Firma wäre bankerott . . . Aber wie es auch sein mag – stimmen tut die Geschichte nicht!«

Nach einiger Zeit fand der Chauffeur den Speicher. Auf dem Grundstück herrschte rege Tätigkeit. Leslie meldete sich im Büro und legte den Empfangsschein für die Möbel und alle Quittungen für die Aufbewahrung vor.

Ein Angestellter prüfte die Papiere umständlich. »Na, das langt ja gerade noch«, sagte er. »Morgen sollte das Möbeldepot versteigert werden.«

»Das wäre Ihnen schlecht bekommen!« entgegnete Leslie.

Gleich darauf erschien ein anderer junger Angestellter, der äußerst liebenswürdig war. Mit seiner Hilfe konnte sie auch ihre Möbel herausfinden, Sie gab den Auftrag, die Sachen abzutransportieren.

»Ein Skandal, daß die alte Firma Zaymen so enden muß!« bedauerte der junge Mann. »Aber wahrscheinlich war das Angebot zu verlockend. Die Firma ist eine der bedeutendsten hier am Fluß, hat eine eigene kleine Werft, sehr schöne Kaimauern . . .«

»Ja, ich verstehe. Es ist ein massives Lagerhaus, das man zu vielem verwenden kann.«

»Nur der junge Zaymen ist daran schuld!« Er seufzte schwer und erzählte dann, daß Mr. Zaymen leichtsinnig spiele und dadurch in Schulden geraten sei.

Leslie beobachtete, wie ihre Möbel auf ein Lastauto geladen wurden, und gab dem Chauffeur die Adresse an, obgleich sie die in Aussicht genommene kleine Wohnung noch nicht fest gemietet hatte. Als sie die Arbeiter bezahlt hatte und gerade gehen wollte, hörte sie zwei Männer, die miteinander sprachen. Es mußten Amerikaner sein.

»Man kann dieses Wässerchen doch nicht mit dem Hudson vergleichen! Der ist mindestens sechsmal so breit wie die Themse.«

Leslie erkannte die Stimme des Mannes, der sie neulich entführt hatte . . .! Er machte noch eine Bemerkung über die Farbe des Wassers, und nun war sie ihrer Sache sicher. Unauffällig sah sie sich um, denn sie wünschte nicht, daß die Leute sie wiedererkannten. Sie trugen saubere Pullover, blaue Hosen und Wasserstiefel, die bis zu den Knien reichten.

»Wir wollen uns beeilen, Junge! Wenn wir fertig sind, holen wir Jane und Christabel, und dann gehen wir ins Kino!«

Der andere lachte rauh und abgerissen. Die beiden mittelgroßen Männer waren schlank und sahen ungewöhnlich aus. Sie gingen an den Arbeitern vorbei, die die Möbel aufluden, und verschwanden hinter einem Lastauto.

Leslie ging zu ihrem Wagen zurück und war unschlüssig, was sie tun sollte. Ob sie sich etwa doch täuschte? Eine Amerikanerin hatte ihr einmal gesagt, daß alle englischen Stimmen ihr gleich vorkämen, daß sie aber eine amerikanische Stimme unter Tausenden heraushören könne. Leslie erschien im Augenblick das Gegenteil richtig: Alle amerikanischen Stimmen ähnelten einander, und nur eine rein englische schien ihr deutlich erkennbar.

Wer mochte Jane und Christabel sein? Sie dachte darüber nach, als sie in den Wagen stieg und auf dem unebenen Weg zur Hauptstraße zurückfuhr. Als sie dort ankam, mußte ihr Chauffeur halten, um einen Lastwagen vorbeizulassen.

Plötzlich hörte sie neben sich das Geräusch eines Motorrads, das unmittelbar neben dem Fenster ihres Autos zum Stehen kam. Der Fahrer stützte sich mit der Hand an den Wagen und sah herein. Es war der Mann, den sie eben hatte sprechen hören. Er sah sie durchdringend an, und sie erwiderte seinen Blick. »Was wollen Sie?« fragte sie. Er murmelte etwas Unverständliches und blieb zurück, als das Taxi wieder anfuhr.

Sie suchte sich sein Verhalten zu erklären. Wahrscheinlich hatte er vor dem Speicher ihren Namen gehört, als die Möbel aufgeladen wurden, und war ihr nachgefahren, um sich zu vergewissern, ob sie es auch wirklich sei. In dem Fall war sie also wiedererkannt worden. Was machte der Mann nur auf dem Grundstück am Fluß? Vielleicht war er ein Matrose, auf einem kleineren Handelsdampfer beschäftigt?

In der Nähe der Victoria Street wurde ihr Auto durch den Verkehr aufgehalten. Zu ihrem Erstaunen hörte sie plötzlich ihren Namen. Als sie sich umsah, entdeckte sie einen Mann neben dem offenen Fenster.

Er hatte ein schmales Gesicht mit auf gezwirbeltem Schnurrbart und zog den Hut besonders höflich.

»Sie kennen mich nicht, Miss Ranger, aber ich weiß, wer Sie sind. Ich bin Inspektor Tetley von Scotland Yard, Kollege von Mr. Weston.« Er grinste, als er das sagte. »Was hatten Sie denn in diesem Teil der Welt zu tun?«

»Ich habe meine Möbel abtransportieren lassen. Sie waren in einem Speicher untergestellt.«

»Wo lag denn der Möbelspeicher? Ach, in Rotherhithe? Eine entsetzliche Gegend! Haben Sie nicht zufällig einen Bekannten dort gesehen?«

»Nein. Das hätte ich auch nicht erwartet.«

»Ich weiß nicht«, sagte er mit merkwürdiger Betonung und beobachtete sie scharf. »Es ist sonderbar, aber in Rotherhithe trifft man immer Leute, die man vorher mal gesehen hat. Das ist direkt sprichwörtlich.«

»Ich kann das nicht bestätigen«, entgegnete sie kühl.

Im nächsten Augenblick fuhr ihr Auto an. Sie erinnerte sich nun dunkel, Tetley schon gesehen zu haben: Er war nach Decadons Ermordung ins Haus gekommen. Sie überlegte, ob sie Terry ihr Erlebnis berichten sollte, wurde sich aber nicht schlüssig.

Am Cavendish Square stieg sie aus. Auch der Chauffeur verließ seinen Sitz, um sich ein wenig zu bewegen. »Hallo, was ist denn das?« rief er plötzlich.

Sie folgte seinem Blick. An den beiden Seitenteilen und an der Rückseite des Wagens waren runde weiße Zettel aufgeklebt.

Als der Chauffeur sie abriß, sahen die beiden, daß der Leim noch feucht war. »Das war noch nicht daran, als wir Rotherhithe verließen«, meinte er. »Vielleicht hat dieser Motorradfahrer –«

Ein kalter Schauer überlief Leslie.

Nachdem sie den Mietvertrag für ihre neue kleine Wohnung abgeschlossen hatte, war sie in größter Versuchung, Terry anzurufen. Sie glaubte jetzt, einige gute Entschuldigungsgründe dafür zu haben.


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