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Leslie ging am nächsten Morgen ziemlich früh ins Büro. Sie war sehr niedergeschlagen und fühlte sich einsam und verlassen, denn sie hatte ihre Stellung verloren oder würde sie doch am Ende der Woche verlieren.
Die Polizei hielt das Haus noch besetzt. Man hatte die Bibliothek methodisch durchsucht; der Inhalt des Schreibtisches und der Schränke war von zwei in solchen Dingen erfahrenen Beamten überprüft worden.
Es gab daher für Leslie viel zu tun: Sie mußte Ordnung schaffen, die Briefschaften sortieren und Listen aufstellen. Zwei Stunden lang blieb sie bei dem Polizeisergeanten, der die Hauptarbeiten in der Bibliothek beaufsichtigte, und erklärte die Bedeutung der einzelnen Dokumente, die man im Schreibtisch gefunden hatte.
Später brachte Danes ihr Tee. Auch er hatte einen aufregenden Morgen hinter sich. »Ich wollte noch wegen des Testamentes mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Wir haben es doch unterzeichnet. Die Polizei hat mich gefragt, was drin stand.«
»Das wußten Sie doch nicht?« entgegnete sie lächelnd. »Also konnten Sie es den Beamten auch nicht erzählen!«
Er schien nicht ganz damit einverstanden. »Es ist merkwürdig, daß Mr. Decadon die Schublade abschloß, als er das Testament weglegte. Erinnern Sie sich noch? Er ließ uns noch einmal kommen, weil er Ihnen Geld vermacht hatte; das wäre aber durch Ihre Unterschrift hinfällig geworden. Ich habe deshalb die Köchin rufen müssen, und die hat an Ihrer Stelle unterzeichnet. Er selber hat dabei nicht mehr aufs neue unterschrieben. Er sagte, die Sache wäre auch so rechtmäßig. Und nachher hat er die Schublade abgeschlossen und den Schlüssel eingesteckt. Als später die Polizeibeamten die Bibliothek durchsuchten, war die Schublade unverschlossen. Das ist mir eigentlich unverständlich.«
»Nun, das ist doch kein großes Wunder, Danes«, erwiderte sie gutmütig. »Mr. Decadon kann das Testament wieder herausgenommen und anderswo verwahrt haben.«
»Das habe ich Mr. Tanner auch gesagt. Er hat mich nach vielen Dingen gefragt . . . Eben vorhin hat er heruntertelefoniert, ob Sie im Büro wären, und –«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Eddie Tanner trat ein. Er grüßte Leslie mit seinem ruhigen, freundlichen Lächeln und wartete, bis der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Sie haben gestern abend noch ein recht aufregendes Erlebnis gehabt. Es tut mir leid . . . Würden Sie so liebenswürdig sein und mir noch einmal berichten, wie alles vor sich ging?«
Sie erzählte ihr seltsames Abenteuer.
»Nun – es ist Ihnen weiter nichts geschehen . . . Das ist tröstlich! – Ich möchte Sie gern noch etwas fragen wegen des Testaments, das Sie unterzeichnet haben. Sie haben nicht gesehen, was in dem Schriftstück stand? Ich meine: wer als Erbe eingesetzt war?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß Sie der Erbe sind?«
»Das halte ich eigentlich für ziemlich ausgeschlossen. Mein Onkel hat mich nie leiden mögen, und auch ich hab' ihn nicht besonders gern gehabt. Kennen Sie Captain Allerman?«
Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht entsinnen, den Mann schon gesehen zu haben.
»Ein amerikanischer Detektiv, aus Chikago. Tüchtiger, intelligenter Mensch – aber manchmal hat er merkwürdige Ideen. Er glaubt zum Beispiel, ich hätte meinen Onkel erschossen . . .« Tanner öffnete die Tür zur Bibliothek, sah, daß die Beamten an der Arbeit waren, und schloß sie sofort wieder. »Die sind ja heftig tätig! Bin nur gespannt, ob sie das Testament finden . . . Ich nehme wenigstens an, daß das Schriftstück, das Sie unterzeichnen mußten, ein Testament war. Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, daß es sich um ein Dokument andrer Art handelte . . .« Er lehnte den Kopf gegen die Tür. »Übrigens wär' mir's lieb, wenn Sie hierblieben und die Papiere und Bücher meines Onkels ordneten. Am besten wohl stellen Sie zunächst mal einen Katalog von der Bibliothek her? Es dürfte ziemlich lange dauern, bis Sie damit fertig sind. Ich schätze: sechs Monate. Dann will ich sehn, daß ich Ihnen eine andere Stellung verschaffe.«
Er sah sie lange an, ohne zu sprechen. »Falls Sie das vermißte Testament finden sollten«, sagte er dann, »so wäre ich Ihnen zu Dank verbunden, wenn sie es sofort mir übergäben – nicht der Polizei. Ich verspreche Ihnen fünfzigtausend Pfund, wenn Sie das tun.« Er lächelte. »Das ist ein ansehnlicher Betrag – nicht wahr? Und Sie würden ihn auf ehrliche Weise verdienen . . .«
Sie atmete schwer. »Aber, Mr. Tanner . . .!« stammelte sie.
»Ich meine das vollkommen ernst; nur möchte ich Sie bitten, Mr. Weston nichts davon zu erzählen. Sie stehen jetzt in meinen Diensten – hoffentlich sind Sie mir nicht böse, weil ich diese Tatsache kurz erwähne –, und ich bin sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« Er ging hinaus und schloß geräuschlos die Tür.
Lange Zeit saß sie und starrte geistesabwesend vor sich hin. Fünfzigtausend Pfund . . . Plötzlich erinnerte sie sich an etwas. Merkwürdig, daß sie nicht schon vorher daran gedacht hatte! Sie läutete nach dem Diener.
»Wann haben Sie gestern abend den Postkasten geleert?« fragte sie ihn.
Danes überlegte einen Augenblick. »Gegen halb acht.« Es stand ein großer Mahagonikasten in der Bibliothek, und alle Briefe mußten dort hineingeworfen werden, mit Ausnahme der Post Eddie Tanners. »Mr. Decadon klingelte mir gestern abend, und ich nahm die Briefe heraus.«
»Wissen Sie zufällig, wie viele es waren?«
Danes war seiner Sache nicht ganz sicher. Er glaubte, es seien sechs gewesen.
»Es war ein langes Kuvert darunter; die anderen hatten gewöhnliches Format.«
»Ein langes Kuvert?« wiederholte sie schnell. »War die Adresse mit der Hand oder mit Maschine geschrieben?«
»Mit der Hand. Ich habe Mr. Decadons Schriftzüge erkannt. Die Tinte war nämlich noch nicht ganz trocken, und die Schrift verwischte, als ich den Brief anfaßte.«
»Wissen Sie, an wen er adressiert war?«
Danes legte die Hand an die Stirn und dachte eifrig nach. »Oben stand: ›Mr. Jerrington persönlich zu übergeben. Privat und vertraulich!‹ Auf die Adresse kann ich mich leider nicht besinnen.«
Leslie wußte nun, welche Bewandtnis es mit dem Kuvert hatte. Das Geheimnis war gelöst . . .
»Gehen Sie bitte zu Mr. Tanner und ersuchen Sie ihn, zu mir zu kommen, falls er im Haus ist!«
Wenige Minuten später erschien Eddie in ihrem Büro. »Nun, was gibt's? Haben Sie etwas über das Testament erfahren?« Zum erstenmal, seitdem sie ihn kannte, zeigte er sich etwas nervös und aufgeregt.
»Ja, ich glaube, ich weiß, was damit passiert ist: Mr. Decadon muß es mit der Post fortgeschickt haben . . .«
»Mit der Post?«
»Ja. Unser Briefkasten in der Bibliothek wurde um halb acht geleert, und Danes hat mir eben erzählt, es habe sich ein langes Kuvert unter den Briefen befunden, das Mr. Decadon selbst adressiert hatte, und zwar an seine Rechtsanwälte Jerrington, Sanders und Graves.«
»Ich verstehe . . .« Tanner schaute nachdenklich zu Boden. »Mr. Jerrington kenne ich natürlich. Ich danke Ihnen für die Mitteilung, Miss Ranger!«
Später überlegte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, trotz Tanners Warnung die Polizei von ihrer Entdeckung zu verständigen. Sie läutete Scotland Yard an, aber Terry Weston war nicht anwesend.