Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Später, am Abend, wurden Teile der Bombe zum Scotland Yard gebracht und von Spezialisten genau untersucht.
»Gutes Material!« bemerkte Jiggs. »Vermutlich haben sie irgendwo in London eine Fabrik für Bomben eingerichtet. Diese hier ist allerdings in Amerika hergestellt worden; das werden Ihre Chemiker bei eingehender Untersuchung feststellen.«
Inspektor Tetley, der die Bombenstücke gebracht hatte, erstattete einen kurzen, wenig aufschlußreichen Bericht. Es war niemand beobachtet worden, der Allermans Zimmer betreten hätte. Drei Viertelstunden vor der Katastrophe war das Stubenmädchen in den Räumen gewesen und hatte nichts Außergewöhnliches entdeckt. »Hier ist eine Liste aller Hotelgäste!« Tetley legte einen beschriebenen Bogen auf den Tisch. »Wie Sie sehen, hab' ich die Namen nach den Stockwerken zusammengestellt. Auf der Etage, in der unser Jiggs . . .«
»Für Sie bin ich immer noch Captain Allerman!«
»Verzeihung . . .! Also: Auf der Etage von Captain Allerman wohnten Lady Kensil und ihre Zofe, ferner Mr. Braydon aus Bradford, der amerikanische Filmschauspieler Charles Lincoln und Mr. Walter Harman mit Familie aus Paris.«
Jiggs beugte sich über den Tisch und warf einen Blick auf die Liste. »Mr. John Smith aus Leeds scheinen Sie vergessen zu haben, Inspektor?«
Tetley sah ihn unsicher an. »Das ist die Liste, die mir von der Hotelleitung gegeben wurde.«
»Ja – und wie steht's mit diesem John Smith aus Leeds?« beharrte Jiggs. »Ich habe mit dem Hoteldirektor telefoniert und mir die Namen der Leute durchsagen lassen, die auf meinem Stock wohnten. Darunter befand sich auch . . .«
»Das hat er mir nicht gesagt!« entgegnete Tetley schnell.
»Das hat er Ihnen nicht nur gesagt, sondern er hat Ihnen sogar ausdrücklich mitgeteilt, daß er diesen Mr. Smith für stark verdächtig hielte, weil der Mann mit einem merkwürdigen Akzent spräche.«
Peinliches Schweigen . . .
»Hm – ich besinne mich jetzt«, erwiderte Tetley dann gleichgültig. »Der Hotelier redete derartig konfus über ihn, daß ich's wohl vergessen haben mag, den Namen aufzuschreiben.« Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und holte das Versäumte nach.
»Hat er auch darauf hingewiesen«, fuhr Jiggs fort, »daß Mr. John Smith der einzige war, den er seit der Explosion nicht gesehen hat, und daß sich kein Gepäck in seinem Zimmer befand, als es geöffnet wurde?«
»Nun?« forschte Wembury, als Tetley mit der Antwort zögerte.
»Er hat, glaube ich, mir gegenüber nichts davon erwähnt«, entgegnete der Inspektor kühl. »Möglich, daß er mit Captain Allerman darüber gesprochen hat, aber nicht mit mir. Im übrigen hab' ich meine Nachforschungen noch nicht abgeschlossen. Ich dachte, Sie brauchten die Bombenstücke dringend; deshalb kam ich so schnell als möglich her.«
»Gut! Dann gehen Sie jetzt!« sagte Wembury kurz. »Und machen Sie sich auf die Suche nach John Smith aus Leeds!«
Jiggs wartete, bis sich die Tür hinter dem Inspektor geschlossen hatte. »Ich möchte nichts gegen die Londoner Untersuchungsmethoden sagen – aber mir scheint doch, daß er das hätte melden müssen . . .«
Wembury nickte. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht.«
»Nehmen wir mal an, es käme jemand in Verdacht –: Wie würde er dann nach den Regeln von Scotland Yard behandelt? Nehmen Sie ihn höflich vor und stellen ein paar Fragen an ihn? Oder gehen Sie etwas handgreiflicher und – hm – wirksamer mit ihm um?«
Wemburys Augen blitzten auf. »Wir behandeln solche Leute wie anständige Menschen. Wenn wir allzu peinliche Fragen wegen ihres Vorlebens an sie richten, dann steht nachher ein Mann im Parlament auf und richtet seinerseits ein paar unangenehme Fragen an den Innenminister. Woraufhin der kühne Beamte entlassen wird . . .«
Jiggs nickte. »Wenn Sie einen von der Bande fangen, wird Ihnen hoffentlich klarwerden, mit wem Sie's zu tun haben. Das sind die ausgekochtesten Verbrecher, die es jemals gab. Ich jedenfalls werde mich nicht an dieses blöde Gesetz halten – und ich hoffe, auch hier in London einen Platz zu finden, wo ich meine Methoden anwenden kann!«
Jiggs fuhr dann mit Terry nach Hause und übernachtete in dessen Gastzimmer.
Beide hatten einen sehr gesunden Schlaf. Jiggs hörte die Telefonglocke erst, nachdem sie zehn Minuten Sturm geläutet hatte. Als er auf den Gang hinaustrat, erschien auch Terry.
»Wieviel Uhr?« fragte Jiggs.
»Halb drei.«
»Wo ist das Telefon?«
»Im nächsten Zimmer!«
Terry folgte Jiggs und stand neben ihm, als der Amerikaner den Hörer abnahm.
Jiggs hörte eine Zeitlang schweigend zu, dann sah er auf. »Scotland Yard . . . Der Name des Mannes, den uns der Präsident nicht verraten wollte, ist George Gilsant!«
»Woher wissen Sie das?« fragte Terry erstaunt.
»Er wurde um Mitternacht am Bahndamm gefunden, und zwar im Pyjama. Die Kerle haben ihm etwas Blei in den Körper gepumpt . . .«
Terry riß ihm den Hörer aus der Hand.
»Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen«, erklärte der Beamte am anderen Ende. »Wir erhielten die Nachricht erst vor ein paar Minuten von der Polizei in Hertfordshire. Man hat ihn auf der Böschung neben den Geleisen gefunden . . . Offenbar hatte er ein Schlafabteil belegt, und zwar im Expreßzug nach Schottland. Eine halbe Stunde nachdem der durchgefahren war, entdeckte der Bahnmeister den Toten . . .«
»Danke!« erwiderte Terry. »Ich komme dann gleich ins Büro!«
Jiggs Allerman setzte sich in einen Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. »Der Alte hat ihm natürlich den Rat gegeben, nach Schottland zu fahren!« knurrte er wütend. »Und der Mann hat es auch tatsächlich getan. Wer ist denn eigentlich dieser Gilsant?«
Terry konnte Auskunft geben: Sir George Gilsant war ein wohlhabender Gutsbesitzer und Teilhaber an einem Stahlwerk im Norden Englands; er besaß ein Haus in Aberdeen.
Jiggs nickte. »Wahrscheinlich wäre er in Sicherheit gewesen, wenn er bis dorthin gekommen wäre«, sagte er zu Terrys Erstaunen. »Der Alte war zwar ein arger Dummkopf, aber wenn es uns gelingen sollte, einen der Bedrohten aus London hinauszubringen – ich meine aufs flache Land –, dann werden wahrscheinlich die Gangster von einer Verfolgung ablassen; das würde sonst zu gefährlich für sie. Die offenen Landchausseen kann man leicht überwachen. Wenn man freilich versucht, die Leute aus London im Zug fortzuschaffen, enden sie bestimmt im Leichenschauhaus. Wir müssen unter allen Umständen die Namen und Adressen der Bedrohten herausbringen, und zwar sofort, wenn solche Briefe sie erreichen. Dann allenfalls könnte man sie vor dem Schlimmsten bewahren; wenigstens läge es im Bereich der Möglichkeit.« Er sah auf die Uhr, die auf dem Kamin tickte. »Ist es schon zu spät für eine Sensation in den Morgenzeitungen?«
Terry schüttelte den Kopf. »Nein, die letzten gehen um vier Uhr in die Maschine. Die Geschichte steht bestimmt in den Morgenblättern – daran läßt sich nichts mehr ändern.«
Wie sich dann herausstellte, hatte Gilsant sein Haus kurz nach zehn in Begleitung seines Kammerdieners verlassen. Er hatte zwei Schlafabteile für den Zug belegt, der um zehn Uhr dreißig nach Schottland fuhr. Zehn Uhr zehn waren sie am King's Cross-Bahnhof angekommen. Sir George ging in sein Abteil und schloß sich, wahrscheinlich auf den Rat des Polizeipräsidenten, darin ein.
Das Abteil des Dieners lag am Ende des Zuges. Er wartete bis zur Abfahrt, kam dann in das Abteil seines Herrn und war ihm beim Auskleiden behilflich. Fünf Minuten vor elf verließ er es und wartete auf dem Gang, bis Sir George die Tür von innen verschlossen hatte.
Eine Tür führte von Sir Georges Abteil zum nächsten Raum; sie war aber fest verschlossen. Dieses Nebenabteil hatte eine ältere Dame auf den Namen Dearborn belegt. Sie war anscheinend sehr krank und konnte sich nur mühsam mit Hilfe einer Krücke bewegen. Eine bejahrte Krankenschwester, die eine Brille trug, begleitete sie.
Nach der Entdeckung des Toten hatten, auf telegrafische Benachrichtigung hin, die Stationsbeamten mit Hilfe der Polizei den Zug sorgfältig durchsucht. Das Abteil der alten Dame war leer. Der Schaffner erklärte, sie habe, samt ihrer Krankenschwester, den Wagen in Hitchin verlassen, wo der Zug besonders angehalten worden war.
Sir Georges Abteil war von innen verschlossen, ebenso die Verbindungstür. Das Bett zeigte Spuren des Verbrechens, das sich in dem Raum abgespielt hatte. Kissen, Decken, Betttücher und auch die Fensterrahmen wiesen Blutspuren auf. Das Fenster war geschlossen, und die Jalousien waren heruntergelassen. Besonders wurde in dem Bericht noch erwähnt, daß das Reservelaken aus dem Schrank genommen und über das Bett gedeckt war. Die Beamten, die das Abteil betraten, bemerkten deshalb zuerst nichts von dem Verbrechen.
Die Eisenbahnbeamten von Hitchin bestätigten, daß dort zwei Frauen den Zug verlassen hatten. Eine große, schwarze Limousine wartete auf die beiden. Der Fahrkartenkontrolleur an der Sperre war erstaunt, daß sie kein Gepäck bei sich hatten.
Der Bericht über das Verbrechen war so spät in Scotland Yard eingetroffen, daß es keinen Zweck mehr hatte, Straßensperren zu verhängen. Erst andern Tags erhielt man glaubwürdige Nachrichten über den Verbleib der schwarzen Limousine.