Edgar Wallace
Gangster in London
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20

In Scotland Yard machte man sich die größten Sorgen, weil sich keiner der Bedrohten an die Polizei gewandt hatte. An einem Abend hatten die Polizisten allein acht brennende Kerzen an verschiedenen Fenstern gezählt; die Namen der Wohnungsinhaber waren sorgfältig notiert worden.

»Ich wünsche nur«, sagte Terry, »es käme ein Mutiger und sagte: ›Hier ist ein Brief, nun ist es Ihre Sache, mich zu beschützen!‹ Wenn ich morgen einen solchen Brief bekomme, bin ich glücklich.«

Am nächsten Morgen um zehn wurde sein Wunsch erfüllt, aber er fühlte sich durchaus nicht glücklich: Leslie Ranger nämlich hatte einen Drohbrief erhalten, in dem man von ihr eine Zahlung von fünfhundert Pfund verlangte . . .

Sie brachte den Brief persönlich ins Präsidium. Sie faßte die Sache mehr von der heiteren Seite auf und war keineswegs ängstlich.

Als Terry die blaue Formularfarbe sah, wußte er sofort, was das zu bedeuten hatte. Er wurde bleich und gab Jiggs Allerman das Schreiben.

»Haben Sie denn fünfhundert Pfund, Miss Ranger?« fragte Allerman stirnrunzelnd »Aber natürlich: Sie haben ja tausend Pfund geerbt! Sie brauchten also nur die Hälfte abzugeben . . .«

»Lächerlich!« erklärte Leslie. »Die Leute haben sich doch da nur einen Scherz erlaubt!«

Die beiden Detektive sahen sich an. »Halten Sie das für einen Scherz, Jiggs?«

»Nein, auf keinen Fall. Was werden Sie unternehmen, Terry?«

»Das weiß ich noch nicht. Vor allem werde ich dem Chef die Sache mitteilen. Miss Ranger bleibt am besten in Scotland Yard. Wir haben ein Reservezimmer, in dem man ein Bett aufschlagen kann. Ich werde mit der Frau sprechen, die dafür zu sorgen hat.« Er eilte hinaus.

»Ist es wirklich so ernst?« fragte sie, als sie mit Allerman allein war.

»Ach was, Miss Ranger!« versuchte Jiggs sie zu trösten. »Es ist nicht so schlimm. Aber man darf die Sache natürlich nicht leicht nehmen. Ich kenne einen Mann in London, der es nicht für einen Spaß hält.«

Er wartete, bis Terry zurückkehrte, entschuldigte sich dann und ließ sich von einem Polizeiauto zum Berkeley Square bringen.

Eddie Tanner wäre zu Hause und wollte ihn auch sofort empfangen, bestellte der untersetzte Diener, der ihn eingehend musterte.

»Es tut mir leid, daß ich Sie einen Augenblick habe warten lassen«, empfing ihn Tanner. »Nehmen Sie bitte Platz! Wollen Sie eine Importe rauchen?«

Jiggs nahm dankend an. »Gibt es was Neues?« fragte er.

»Im Augenblick nicht. Ich dachte schon daran, für eine Woche nach Berlin zu fahren. Man kann diese Rechtsanwälte nicht zur Eile antreiben.«

»In London passieren recht aufregende Dinge. Aber ich habe bis jetzt noch nicht gewußt, daß diese Banden auch gegen Frauen arbeiten!«

»Wie meinen Sie das?«

»Die junge Dame, die früher hier war, Miss Ranger, hat heute morgen einen Drohbrief bekommen. Fünfhundert Pfund soll sie zahlen . . .«

»Leslie Ranger?« Eddie verlor einen Augenblick die Fassung. »Die hat einen Brief bekommen?« Er nahm langsam eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und steckte sie an. »Aber ich nehme nicht an, daß das irgendwelche Folgen hat . . . Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen?«

Jiggs grinste. »Das werden wir heute in den Abendblättern mitteilen. Achten Sie genau darauf!«

Eddie lachte. »Das war allerdings eine dumme Frage. Gehen Sie schon wieder?«

Jiggs nickte. »Ich bin bloß auf einen Sprung zu Ihnen gekommen.«

An diesem Abend ging Kerky Smith um Viertel nach sieben in der großen Eingangshalle seines Hotels nervös auf und ab. Er war in Abendkleidung und trug eine Gardenie im Knopfloch.

»Kerky, Sie sehen wirklich großartig aus!«

Smith ließ wie von ungefähr die Hand in die Rocktasche gleiten. »Hallo, Eddie!«

»Kommen Sie mit in den Palmengarten! Trinken Sie ein Glas mit mir!« Eddie winkte einem Kellner. »Wollen Sie in die Oper?«

»Nein, ins Schauspieltheater. Diese verdammten Frauen! Immer muß man auf sie warten . . . Cora hat heute nachmittag Einkäufe gemacht.« Kerky sah wieder auf die Uhr. »Sie braucht gewöhnlich eine Stunde, um sich schön zu machen.«

»Merkwürdig, daß die Freuen einen immer warten lassen!« Ed blies einen Rauchring in die Luft und beobachtete, wie sich dieser zerteilte. »Können Sie sich auf meine Sekretärin besinnen? Miss Leslie Ranger? Ein entzückendes Mädchen! Ich habe den ganzen Nachmittag auf sie gewartet, aber sie ist in Scotland Yard. Irgendein Spaßvogel hat ihr einen Brief geschickt, in dem es heißt: ›Geld oder Leben!‹ Soviel ich weiß, sind Jiggs und Terry Weston sehr aufgeregt darüber. Ich habe ihnen gesagt, sie brauchten sich weiter keine Sorgen zu machen.«

»Ganz recht!« entgegnete Kerky, der dauernd den Eingang beobachtete.

»Ich werde Ihnen auch mitteilen, warum ich die beiden beruhigen konnte.« Eddie sah auf seine Zigarette, als ob er dort etwas ablesen wollte. »Es wird Miss Ranger nicht mehr geschehen als einer anderen Frau – sagen wir einmal: Cora. Nehmen wir an, man würde morgen Miss Ranger tot auffinden, dann gehe ich die größte Wette ein, daß Sie zum Frühstück auch Coras Kopf in einem Fruchtkorb präsentiert bekämen.«

Kerky hörte plötzlich mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er konnte nicht verhindern, daß seine Lippen zitterten. Er liebte Cora und war sehr stolz auf sie. Aber er wußte auch, daß der Mann, der ihm gegenübersaß und so nachlässig seine Zigarette rauchte, vollkommen gefühllos war. Coras Kopf bedeutete Eddie so viel wie der eines Hammels.

»Gut, dann ist das abgemacht, Eddie!« Kerky räusperte sich, denn seine Stimme hatte merkwürdig heiser geklungen.

Tanner erhob sich und sah auf die Uhr. »Es tut mir leid, daß Sie Ihr Theater versäumt haben. Ich glaube, Cora ist irgendwo bei dem regen Verkehr in der Stadt aufgehalten worden. Gegen acht wird sie sicher zurückkommen.«

Fünf Minuten nach acht erschien Cora wütend, aber auch ein wenig verstört im Hotel. Sie sprach aufgeregt auf Kerky ein, als sie oben in ihren Räumen waren. »Du wirst diesen gemeinen Kerl zur Strecke bringen! Das ist doch die Höhe der Unverschämtheit, mich in ein Zimmer einzusperren! Die Lumpen haben mir vorgelogen, du wärst krank, und ich sollte schnell zu dir kommen . . .«

»Mach endlich den Mund zu, Liebling!« erwiderte Kerky.

»Ich habe furchtbare Kopfschmerzen.«

Er grinste. »Sei froh, daß du noch einen Kopf hast, in dem du Schmerzen fühlst! Glaube mir, Cora: Der Kerl ist schlau! Ich wünschte nur, er wäre auf unserer Seite.« –

Punkt acht wurde Jiggs Allerman ans Telefon gerufen; er erkannte Eddies Stimme.

»Sie brauchen sich um Miss Ranger keine Sorge zu machen! Ich halte die Sache bestimmt für einen Scherz!«

»Großartig!« sagte Jiggs und brachte Terry die Nachricht.

»Man kann sich doch aber auf das Wort eines solchen Menschen nicht verlassen?«

»Das kann man schon – glauben Sie mir nur!« entgegnete Jiggs mit Nachdruck.

Terry war aber doch nicht ganz überzeugt und ließ Leslie nur ungern wieder in ihre Wohnung zurückkehren. Sie erfuhr nichts von den näheren Umständen und war eigentlich froh, daß sie sich wieder frei bewegen konnte. Sie merkte auch nichts von der Anwesenheit des Detektivs, der die ganze Nacht vor ihrer Wohnung Wache hielt. Ebensowenig wußte sie, daß während derselben Zeit ein Auto ihrer Haustür gegenüberstand, in dem ein Maschinengewehr angebracht war. Jack Summers, der bekannteste Scharfschütze von Chikago, war der Chauffeur. –

Am nächsten Nachmittag bekam Leslie Besuch: Jiggs Allerman und Terry Weston erschienen zum Tee. Beide wollten sich die Wohnung genau ansehen, vor allem die Zugänge. Außerdem hätten sie gern erfahren, was sie vor drei Tagen in der City gemacht hatte.

Jiggs kam auf die Sache zu sprechen. »Vor ein paar Tagen haben Sie einen guten Bekannten von uns in der Stadt getroffen – Inspektor Tetley?« fragte er.

»Ja. Ich kam von Rotherhithe zurück und mußte an einer Straßenecke warten. Er kam ans Auto und sprach mit mir. Ich kannte ihn zuerst nicht . . .«

»Nun, vermutlich wartete er auf Sie. Er hat mindestens zehn Minuten an der Straßenkreuzung gestanden und Ausschau gehalten. Als dann Ihr Wagen kam, ging er sofort auf ihn zu. Wie er allerdings das Taxi herausfand, ist mir ein Rätsel.«

Plötzlich dachte Leslie wieder an die weißen Papierfetzen, die an das Auto geklebt waren, und erzählte den beiden davon. »Ich vermutete, daß der Mann auf dem Motorrad das getan hat«, schloß sie ihren Bericht.

»Nun müssen Sie uns den Mann und das Motorrad noch genau beschreiben!« verlangte Jiggs lebhaft.

Sie erfüllte seinen Wunsch und erwähnte auch, daß sie die Stimme des Betreffenden wieder erkannt hätte, als er sich in Rotherhithe mit einem andern unterhielt.

»Sie glauben also, daß es derselbe war, der Sie an jenem Abend nach Decadons Ermordung entführte?« Jiggs rieb sein Kinn. »Und die beiden Kerle trugen Wasserstiefel und blaues Zeug und trieben sich in der Nähe einer Werft herum? Wer hat denn den Möbelspeicher gekauft? Aber das können Sie wohl nicht wissen . . . Das war alles, was sie sagten?«

»Ja, sie machten dann nur noch einen Scherz über ein paar Mädchen. Aber das ist sicher zu unwichtig . . .«

»Nichts ist zu unwichtig! Wie war das denn?«

Sie erzählte es ihnen.

»Jane und Christabel?« Jiggs runzelte die Stirn. »Das klingt allerdings nach einem Liebesabenteuer.«

Er fing einen Blick Terrys auf und änderte das Gesprächsthema. Als sie wieder auf der Straße waren, kam er darauf zurück. »Warum haben Sie mir eigentlich vorhin zugezwinkert?«

»Ach, es ist nur eine vage Vermutung«, sagte Terry schnell. »Hierzulande haben alle Schlepper Doppelnamen – gewöhnlich sind es Mädchennamen; und ich möchte behaupten, daß irgendwo auf der Themse eine ›Jane und Christabel‹ fährt, auf der die beiden Kerle beschäftigt sind.«

Als sie nach Scotland Yard zurückgekehrt waren, setzte sich Terry mit dem Direktor der Strompolizei in Verbindung, der ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Schiffe und Schiffsnamen hatte und alle Fahrzeuge kannte, die auf den Fluten der Themse schaukelten.

»Jane und Christabel? Ja, die kenne ich!« erwiderte der Beamte. »Ein großer Schlepper mit zwei Maschinen . . . Früher gehörte er der Calcraft-Concrete-Company, und als die Gesellschaft in Konkurs ging, wurde er verkauft. Ich werde sofort in den Listen nachschlagen.«

Zehn Minuten später meldete er, daß der Dampfer an einen Mister Grayshott aus Queensborough veräußert worden war und daß er gewöhnlich im Pool ankerte. Vor vierzehn Tagen hatte er eine Holzladung nach Teddington gebracht; seit der Zeit wurde ein Maschinendefekt repariert, und der Kapitän hatte infolgedessen alle Angebote zurückgewiesen.

»Wo liegt er jetzt?« fragte Terry.

»Wahrscheinlich im Pool; vielleicht aber auch bei Greenwich.«

Es dauerte noch drei Viertelstunden, bis die genaue Lage des Schiffes festgestellt wurde. Die ›Jane und Christabel‹ war mit eigener Kraft auf dem Strom weitergedampft und hatte bei der Isle of Dogs festgemacht. »Sie ist außerdem schon wieder verkauft und wird nach Amerika gehen«, berichtete der Direktor der Strompolizei. »Es ist auch bereits ein Teil der amerikanischen Besatzung an Bord, doch gibt es noch verschiedene Schwierigkeiten wegen der Schiffspapiere.«

 

Am Abend ließ sich Terry Weston in seinem Dienstwagen nach Greenwich bringen. Ein Polizeimotorboot wartete am Ufer schon auf ihn. Gleich darauf fuhr es in weitem Bogen auf den Fluß hinaus und dann stromauf.

»Dort ist er!« sagte plötzlich der Sergeant, der das Motorboot steuerte.

Terry richtete sein Nachtglas auf den großen, stattlichen Schleppdampfer mit den zwei Schornsteinen, der nahe am Ufer lag. Mit Ausnahme der Lichter, die die Vertäuung anzeigten, war alles dunkel.

»Wollen Sie an Bord?«

»Nein – ich möchte die Leute in keiner Weise beunruhigen, sie dürfen nicht wissen, daß sie beobachtet werden. Aber Sie, Sergeant, müssen das Schiff Tag und Nacht bewachen! Ich habe mit dem Direktor verabredet, daß er Ablösungsmannschaft in einem Privat-Motorboot herschickt. Wir wollen in diesem Fall alles vermeiden, was nach Polizei aussieht. Wenn etwas mit dem Schiff passiert, muß es sofort dem Präsidium gemeldet werden!«

Als Weston in seine Wohnung zurückkehrte, fand er dort Jiggs, der eine Abendzeitung las. Darin stand ein Artikel, der sich mit der augenblicklichen Lage befaßte und in dem die angekündigten Gesetzesvorschriften veröffentlicht wurden.

»Die Gangster werden wohl doch aufmerksam werden, wenn sie das lesen«, meinte Jiggs. »Todesstrafe für Bombenattentate; lebenslängliches Zuchthaus für Leute, die im Besitz von Bomben sind; fünfundzwanzig mit der neunschwänzigen Katze für Tragen geladener Feuerwaffen; sieben Jahre Zuchthaus und fünfundzwanzig Hiebe für Verschwörung zum Zweck der Erpressung . . . Außerdem sind fünfzigtausend Pfund Belohnung ausgesetzt für Mitteilungen, die zur Verurteilung der an den letzten Morden schuldigen Personen führen . . .« Er faltete die Zeitung. »Na, erst mal muß man die Schufte fangen, bevor man sie bestrafen kann! Das ist eine alte Wahrheit . . . Die Kerle kriegen meiner Meinung nach jeden Tag vierzigtausend Pfund herein. Überlegen Sie sich das mal, mein Junge! Die Schießerei hat sich gelohnt!«


 << zurück weiter >>