Levin Schücking
Luther in Rom
Levin Schücking

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48. Abschied.

Wir haben Bruder Martin und den Rechtsgelehrten auf der Höhe des Quirinals gelassen, an der Stelle, die man heute Monte Cavallo von den sich bäumenden riesigen Rossen nennt.

Die beiden Männer hatten gesehen, wie auch die zweite größere Reitertruppe sich in Bewegung gesetzt, und hatten sich wieder zur Seite geflüchtet, um ihr auszuweichen. Da sie sich anfangs weniger rasch bewegte, als die Vortruppe, und im Schritt an den beiden Männern vorüberkam, so behielten diese Zeit die zwei inmitten des Zuges reitenden Gestalten wahrzunehmen, die nach ihrer Tracht und ihrem Aussehen einen so befremdlichen Anblick unter dem Kriegsvolk darboten.

Obwohl es schon längst zu dunkel zum bestimmten Erkennen war, rief doch Callisto überrascht aus:

»Seht Ihr die beiden, den Mann und das Mädchen in der Tracht des Volkes, Bruder Martin? Wenn es unsere Freunde wären!«

»Ihr müßt es besser wissen«, fiel ihm Bruder Martin ins Wort, »wie Ihr Egino und seine Gräfin ausstaffiert habt, um sie unkenntlich zu machen, und ob sie es sein können.«

»Sie waren es gewiß, ich möchte darauf schwören!« fuhr Callisto fort.

»Aber wie dann dies alles deuten? Wer sind diese Reiter, wie kommen unsre Freunde unter sie? Sind sie entdeckt? Führt man sie gefangen fort? Wozu dann diese Menge reisigen Volks? Habt Ihr eine Ahnung, Signor Callisto?«

»Nicht die geringste; wir können nichts tun, um diese Rätsel zu lösen, als zum Hause der Frau Giulietta gehen, das da vor uns liegt; vielleicht erhalten wir eine Auskunft dort.«

»Gott gebe es!« sagte Bruder Martin, erregt und mit verdoppelter Eile dem Hause, auf das Callisto gedeutet hatte, zuschreitend.

Sie kamen in den Garten Frau Giuliettas und sahen eine Frau ihrer Größe und Gestalt dicht an der Zaunöffnung, welche zum Eingang diente, unbeweglich dastehen.

Es war, als lausche sie dem in der Ferne verhallenden Hufschlag der Rosse.

»Seid Ihr es, Donna Giulietta... ja, Ihr seid es, und Ihr erkennt uns?« flüsterte Callisto.

»Gewiß, gewiß, Signor Callisto«, antwortete hastig Frau Giulietta; »hätte ich nicht schon Eure Stimme vor einer Weile erkannt, glaubt Ihr, ich würde so ruhig hier Euer Näherkommen abgewartet haben? In dieser schrecklichen Nacht, wo ich die Tote da hinter mir im Hause habe, und nun noch verlassener und allein mit ihr bin in dem stillen Hause, wo nur der alte verhexte Mensch an ihrem Bette sitzt und sich nicht regt und rührt und keinen Bissen Speise an den Mund nehmen will, und nur seine Sprüche hinmurmelt, die kein Christenmensch versteht und die am Ende gar Zaubersprüche sind, womit der alte Kobold mein ganzes Haus und Hab und uns alle unglücklich macht? O tretet ein, Signor Callisto und seht...«

»Laßt nur, laßt, Donna Giulietta«, fiel Callisto ihr ins Wort. »Sagt uns nur rasch, waren der Graf Egino und die Gräfin Corradina hier und was bedeutete der Reiterschwarm, der an uns da eben vorüberritt, und wer waren die zwei Menschen aus dem Volke, die mitten zwischen ihnen so rasch davongeführt wurden?«

»Wer die Reiter waren, das kann ich Euch sagen, Signor Callisto«, entgegnete Frau Giulietta eifrig, »denn jetzt, wo sie's durchgeführt haben und auf und davon sind, braucht's ja nicht mehr verschwiegen zu werden, so geheimnisvoll der Beppo, der arme Junge, auch den ganzen Tag über damit getan hat, denn er ist dabei, müßt Ihr wissen, Signor Callisto, der Beppo, und weil er so gewandt und anstellig ist und auch fest im Sattel wie ein alter Reiter, und zu allen Dingen wohl zu gebrauchen, so haben sie ihm einen Teil zu befehligen gegeben; Gott habe sie alle jetzt in seinem Schutz und bewahre sie vor Unglück...«

»Aber Donna Giulietta«, fiel ihr Callisto in die Rede, »Ihr wolltet uns sagen, was dieses alles bedeutet... ich bitt' Euch, so kommt doch zur Sache, wer waren diese Reiter?«

»Sagt ich Euch's denn nicht Signor Callisto, der Colonna Leute sind es und Reiter des Este – unser Herr und Padrone Fabricio Colonna hat des Heiligen Vaters Zusage erhalten, daß Alfonso von ihm Güte und Frieden haben solle, und nun er gekommen ist, der erlauchte Alfonso, will ihn der Heilige Vater zwingen sein Land zu verlassen und nach Asti zu ziehen, um fortan als ein Bettler zu wohnen und Fabricio Colonna will nicht dulden, daß man seinen Freund und Gast so betrüge, und deshalb bringen sie ihn mit Gewalt und Waffen zur Stadt hinaus...«

»Das walte Gott!« fiel wie erleichtert aufatmend Bruder Martin ein.

Callisto rief:

»Aber die zwei, der junge Mann und das Mädchen, die davongeführt wurden?«

»Ich weiß nichts von einem jungen Mann und einem Mädchen«, antwortete Frau Giulietta.

»Vielleicht hat der ehrliche Beppo sie erkannt und rettet sie jetzt«, sagte Callisto.

»Gewiß ist es so! Wir können wenigstens nichts anderes tun, als hoffen, daß es so ist!« rief Bruder Martin.

»Und vielleicht auch mir kommt diese Wendung der Dinge zugute«, fügte Callisto hinzu; »wenn die Colonnesen die Torwachen zersprengen und zerstreuen, so ist auch mir wohl der Weg geöffnet, um heim zu kommen und Donna Ottavia zu beruhigen; kommt, Bruder Martin, uns bleibt nichts übrig, als Frau Giulietta gute Nacht zu wünschen und heim zu wandeln.«

Frau Giulietta wäre gern abermals in Klagen ausgebrochen, wie allein sie nun ohne Beppo sei, und wie sie sich scheue in ihr Haus mit der stillen Leiche und dem Zaubersprüche murmelnden Kobold darin zurückzutreten; aber die beiden Männer entzogen sich ihr und verschwanden alsbald im Dunkel.

Nach einer Viertelstunde Gehens waren sie am Kloster von Santa Maria und am Tore del Popolo.

Callisto hatte sich einer trügerischen Hoffnung hingegeben, wenn er geglaubt, man werde ihn jetzt hinauslassen; die überrumpelten Wächter hatten sich von ihrem Schreck und ihrer Niederlage erholt und sich wieder gesammelt und wiesen ihn zornig und fluchend zurück. Signor Callisto mußte sich darein ergeben bei dem nächstwohnenden seiner Bekannten ein Obdach für die Nacht zu suchen; Bruder Martin ging sein Kloster und seine Zelle aufzusuchen und ließ sich dort, zu Tode ermüdet, auf sein Lager niederfallen.

Es war spät am andern Morgen, als er aus einem tiefen, kräftigenden Schlummer erwachte; er hatte sowohl die Matutin der Mönche verschlafen, als die Morgenmessen und die Frühstückszeit. Er mußte den ihm zugewiesenen Laienbruder um ein wenig Milch und Brot bitten, und als ihm dies gebracht worden, begann er sein Bündel zu schnüren. Es war wenig, was er hergebracht; was er mitnahm, war nicht viel mehr; ein wenig Wäsche, so viel ihrer ein reisender Mönch bedarf, und einige Aktenstücke aus dem Prozeß, den er zu betreiben gesendet worden, und mehrere Bücher, die er in Rom und zum Teil schon auf der Herwanderung in Verona und Bologna zu kaufen Gelegenheit gefunden... zusammengeschnürt machten sie jetzt eine Last aus, die doch für einen Fußwanderer zu tragen zu beschwerlich war. Es mußte ein anderes Mittel sie fortzuschaffen, ersonnen werden. Schätze dieser Art, wie sie großenteils in Deutschland daheim kaum aufzutreiben waren, konnten nicht im Stich gelassen werden.

Dann wendete er den Tag an, um Abschied zu nehmen von Rom. Einen stummen Abschied, zunächst von einigen heiligen Stätten, wo er gebetet und betrachtet hatte, als er zuerst seine Pilgerwanderungen durch die ewige Stadt gemacht; von den schönste»der Basiliken, in deren mächtigen und prachterfüllten Schiffen, in denen die Christen ferner Jahrhunderte gekniet, so oft, wenn er eingetreten, ihn der Geist der reineren Urzeiten des Glaubens, der Geist der Apostel und derer, die als Märtyrer für die evangelische Wahrheit gestorben, angeweht hatte. Er ging Abschied zu nehmen von den Gräbern der Apostel; und von dort heimkehrend trat er noch einmal in das Pantheon des Agrippa ein, in den stillen Bering des schönen Heidentums, das sich hier doch so groß, so klar, so gedankenhell über ihm wölbte; er stieg noch einmal zum Kapitol hinauf, von dem aus Rom die Welt erobert hatte; er ließ den Blick über die Trümmer der Cäsarenpaläste und die hohen Mauern des Flavischen Amphitheaters schweifen und heftete ihn dann zum letzten Male auf die Welt von Ruinen zu seinen Füßen, auf die Stelle, wo einst auf dem Forum die Würfel fielen über die Geschicke des Erdkreises.

In eine Vigne trat er endlich, die auf seinem Wege lag, und ließ sich Wein und zu essen geben. Man brachte ihm Speisen und eine helle binsenumflochtene Flasche und einen kleinen Zinnbecher dazu, hinaus auf einen aus rohen Brettern zusammengeschlagenen Tisch, der vor dem Hause unter einem mächtigen Maulbeerbaum stand. Im Schatten des Baumes setzte er sich auf ein Stück roter Marmortrümmer, einen Block jenes antico rosso, den Afrika an die Weltherrscherin Rom zollte, der vor fünfzehnhundert oder zweitausend Jahren vielleicht den Altar eines Gottes oder den Sockel einer Heroenstatue gebildet hatte und der jetzt zum Sitze dem deutschen Klosterbruder Martin mit dem gedankenschweren Haupte diente.

Die Vigne lag hoch; man überschaute von dem Platz unter dem Maulberbaum aus ein gutes Stück der ewigen Stadt und der Campagna, dahinter die reinen schöngeschweiften Linien der beiden Gebirge, mit den Städtchen, Kastellen und den Siedlungen uralter Latinerzeiten an ihren Abhängen.

Der ganze Tag war fast Bruder Martin, ehe er sich's versehen, dahingeschwunden über seinen Abschiedswanderungen und Gängen durch die Stadt.

Jetzt sank die Sonne. Die Luft war so klar und durchsichtig, daß alle Fernen nahe geworden und jeder Punkt der Landschaft in kürzester Frist erreichbar schien.

Der deutsche Klosterbruder aber, als er so auf die ewige, von der ewigen Schönheit zauberischer Natur umwobene Stadt blickte, dachte an des Horaz berühmte Strophe:

Alme Sol, curru nitido diem qui
Promis et celas, aliusque et idem
Nasceris; possis nihil urbe Roma
Visere majus!

»In Wahrheit«, sagte er sich, »nichts Größeres hat die Welt! Sie ist das Geschöpf, das Kind, die Erbtochter der Welt, diese Roma! Die Menschengeschlechter, wie sie sich folgten, haben sie gebaut, die Nationen ihr Bestes für sie geschaffen. Ägypter, Griechen, Etrusker, Latiner, sie alle haben die Schätze ihrer Kultur da zurückgelassen. Und die großen Geister der Menschheit, die schaffenden Genien ihre besten Werke. Vom oberen Nil, aus der Stadt der hundert Paläste, kam dieser Marmor; aus Hellas kamen die Künstler, die aus solchen Blöcken die Pracht der Bildwerke schufen. So schmückte die Welt ihr Geschöpf; es gehört der Welt, es ist das ewige Eigen der Nationen. Aber die Priester kamen und nahmen der Welt dies Kind, um ihm ihren Glauben beizubringen, um es mit ihrem Aberglauben zu füllen, um ihm eine Mönchskutte anzuziehen!«

Es zog ein großes Weh, ein großer Abschiedsschmerz durch sein Herz, indem er sich sagte, daß er gehen müsse, um nie zurückzukehren. Die Hände, die sich der Erbin der Geschichte bemächtigt hatten, waren feindlich erhoben wider Menschen seines Gemüts. Sie trieben ihn aus, fort aus dieser schönen Welt. Fort aus den weichen und milden Lüften immergrüner Gärten, aus dem Bereich der erhabenen Denkmale des Altertums, aus dem Kreise des durch die Sitte verfeinerten, durch Kunst und Poesie veredelten Lebens, aus dieser Atmosphäre des sorgenlosen Daseinsgenusses, wo es nichts als ein wenig stumme Unterwürfigkeit, nichts als ein wenig Verrat an innerer Treue gegen sich selbst, am Wahrheitsgefühl und an der lebendigen Überzeugung kostete, um leicht und glatt an Schuld und Laster vorüber und durch den Tod hindurch in das leuchtende Himmelstor, in die ewige Fortsetzung des sorgenlosen Hienieden geführt zu werden!

Von dem allen fühlte Bruder Martin sich ausgeschlossen, verbannt, vertrieben.

Die Brücke war abgebrochen zwischen ihnen und ihm, und ein tiefer Abgrund klaffte zwischen den Männern der Werke und dem Manne des Glaubens. Rom stieß ihn von sich für ewig. Er wendete ihm den Rücken wie der Tannhäuser, der nach Versöhnung dürstend gekommen und dessen deutschen Seelendrang Rom auch nicht verstanden. Er zog heim über die Alpen, in das deutsche Vaterland, die Wiege der Menschheitsgedanken der Zukunft. Auf seiner Brust ruhte das Evangelium dieser Zukunft.

Es waren die Blätter des großen Hohenstaufen-Kaisers. Einst war das Reich untergegangen, weil diese Hohenstaufen ihre politischen Schicksale an die Schicksale Italiens geknüpft hatten. Jetzt rächte der Größte von ihnen diesen Untergang; die Empörung und das Losreißen rebellischer Mächte vom Reich strafte er, indem er mit scharfem Schwerthieb auch die religiösen Schicksale der zwei Völker trennte und den Glauben der Heimat losriß von dem Glauben derer jenseits der Alpen.

Ein solcher Schwerthieb ja wurde die Lehre, welche sein Buch enthielt, sobald dies Buch gelegt war in die Hand des rechten von Gott erwählten Streiters. – –

Als Bruder Martin in sein Kloster heimkam, gab ihm der Pförtner einen versiegelten Zettel.

Der Pförtner sagte, ein Mann aus der Villa des Rechtsgelehrten Signor Callisto Minucci habe ihn gebracht. Als Martin ihn erbrochen, las er die Worte:

»Callistos Gärtner, der diesen Zettel mitheimnimmt, wird Euch sagen, daß wir gerettet sind.

Wir erwarten Euch, Bruder Martin, jenseits der Grenze, in Siena.«


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