Levin Schücking
Luther in Rom
Levin Schücking

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40. Corradina.

Um die Abendzeit am anderen Tage schritt Bruder Martin durch die Porta del Popolo, den Flaminischen Weg hinab bis an die Villa Signor Callistos.

Als er an das Tor in der Mauer, die sie vom Wege abschloß, klopfte, erschien ein alter Gärtner, der ihn zurückwies. »Niemand sei daheim«, sagte er, »Signor Callisto verreist.« Erst auf sein dringendes Begehren die Donna zu sprechen, entschloß sich der Alte ihn zu melden.

Nun erschien bald darauf Signor Callisto selber in der sich wieder öffnenden Türe.

»Ich erriet, daß Ihr es seid, Fra Martino!« sagte er. »Tretet rasch ein, es ist nicht nötig, daß man uns sehe.« Die Türe wurde, nachdem Bruder Martin eingetreten, durch einen schweren Riegel gesichert.

Bruder Martins Auge haftete auf einem Bilde von großer Schönheit, als er an Callistos Seite durch den Garten schritt. Hinter ihm, hinter dem Monte Mario ging die Sonne unter. Der östliche Himmel vor ihm war vom Reflex des Abendrots mit unnennbar schönen rosigen und violetten und in das feinste Grün und Gelb verlaufenden Tinten überhaucht. Vom Hintergrund dieses entzückenden Farbenspiels hob sich die »parva domus« ab, und auf der Pergola dieses reizenden grünumrankten Gebäudes saß, mit dem Arm auf die Brüstung gelehnt, eine weibliche Gestalt, deren Umrisse sich voll Anmut an der rosigen Fläche abzeichneten.

Es war Corradina, die, ihr Kinn auf die Hand gestützt, in das sinkende Sonnenlicht und die Purpurglut des golden flammenden Abendhimmels blickte.

Als Callisto den deutschen Mönch zu ihr hinaufgeführt hatte, reichte sie ihm freundlich die Hand.

»Ihr seid der Mann«, sagte sie lächelnd, »von dem mir Graf Egino eine Strafpredigt halten lassen wollte. Ich hoffe jedoch, es vergeht Euch der Mut uns zu tadeln, wenn Ihr seht, in welchem Kummer wir sind. Habt Ihr von dem armen deutschen Mädchen erfahren, das uns den Weg zur Rettung zeigte?«

»Ich habe einen Teil dieses Tages bei ihr zugebracht und ich komme von ihr, Gräfin«, versetzte Bruder Martin.

»Und wie steht es um sie?«

»Ich fürchte, nicht gut, denn sie ist sehr schwach.« »Wie ihr mich erschreckt! Hat sie einen Arzt, hat sie eine Pflege?«

»Beides!«

»Gott sei mit der Armen! Wenn ich zu ihr könnte, dürfte! Aber ich darf es ja nicht. Auf sie wird kein Verdacht fallen, an sie wird niemand denken, an sie und den entsetzlichen Menschen mit der Kraft eines Stieres, der sie begleitete. Nach mir wird man an allen Enden spähen – ich darf keinen Schritt über diese Villa hinausmachen.«

»Nein, Ihr dürft es nicht«, fiel Callisto ein, »bei Gefahr Eures Lebens nicht! Die Deutschen sind, glaubt es mir, wohl aufgehoben bei ihrer ehrlichen Frau Giulietta und niemand beargwöhnt sie da; das einzige, was Ihr für sie tun könnt, ist sie durch keinerlei Annäherung oder nur Botschaft zu gefährden.«

»Ich sehe es ja ein, Signor Callisto, aber Ihr«, wendete sie sich zu Bruder Martin, »sagt es nicht dem Grafen Egino, daß es so schlecht um sie stehe. Auch er liegt am Fieber darnieder, welches in Folge der Erschütterungen der gestrigen Nacht heftiger zurückgekehrt ist, er bedarf der Schonung!«

»Ich werde Euch gehorchen, Gräfin.«

Sie stand auf und winkte Bruder Martin. Er folgte ihr mit dem Rechtsgelehrten in das an die Pergola stoßende Wohngemach; dort wies sie ihn durch eine offene Tür in ein zweites helles und schönes Zimmer, in das das purpurne Abendlicht vom westlichen Himmel her seine volle Glorie warf. Egino lag, von einer Decke halb umhüllt, auf einem Ruhebett. Er streckte Bruder Martin erfreut die Rechte entgegen. »Bruder Martin, wie schön, daß Ihr kommt!« rief er aus. »Nicht wahr, Ihr seid erfreut, daß Ihr mich am Leben und in der Freiheit findet, erfreut wie ein treuer Freund? Freilich ein wenig krank und schwach findet Ihr mich noch, aber es ist nicht schlimm; morgen, übermorgen wird die alte Kraft zurückkehren. Bringt mir gute Nachrichten von Irmgard und ich will alle Sorge von mir werfen, um gesund zu werden. Ihr seht mich fragend und verwundert an, Bruder Martin? Ihr glaubt, die Sorge gerade müsse mich töten, die Sorge um meine hohe Herrin die Gräfin Corradina, und ihr Schicksal und die entsetzliche Lage, in welche ja ich, niemand als ich, sie durch mein leidenschaftliches Handeln gebracht; die Reue, die Gewissensqual ihretwegen müsse mich nicht atmen lassen? Ach, Ihr kennt sie nicht, Bruder Martin, Ihr wißt nicht, mit wie liebreichem Wort sie mich getröstet und beruhigt hat! Ihr wißt nicht, mit welcher Huld sie sich zu mir Ärmsten herabläßt und mir sagt, daß sie mir nicht zürne, daß sie gefaßt und ruhig es als eine Schickung des Himmels hinnehme, was geschehen, um sie aus einer weit entsetzlicheren Lage in die Freiheit und Unabhängigkeit zu führen; Ihr wißt nicht...«

Corradina trat jetzt heran und ihre Hand auf Eginos Arm legend, sagte sie:

»Graf Egino, Ihr dürft so viel nicht reden, hört Ihr?«

»Ihr habt recht, Gräfin, und ich gehorche. Aber Fra Martino wird brennen unsere Geschichte zu vernehmen.«

»So will ich sie ihm berichten, wenn Ihr's wünscht, daß er sie erfahre; Ihr aber hört unterdessen stille zu, ohne mich mit einem Worte zu unterbrechen. Versprecht Ihr das?«

»Ich verspreche jedem Eurer Worte zu gehorchen bis an meines Lebens Ende, Corradina, meine hohe Herrin!« versetzte Egino, ihre Hand an seine Lippen ziehend.

»Wohl denn, setzt Euch, Fra Martino«, sagte Corradina, indem sie sich auf das Fußende von Eginos Ruhebett niederließ.

Martin nahm auf einem der hochrückigen Stühle Platz, die umherstanden.

Signor Callisto brachte eine Schale mit einem kühlenden Heiltrank und stellte sie auf ein Tischlein dicht neben Eginos Lager. Dann ging er, da ihm schon gestern Corradina Kunde von dem ganzen Hergange ihrer Flucht gegeben. Hätte er geahnt, daß die Gräfin im Begriffe stand nicht allein die Erlebnisse, durch welche sie in sein Haus geführt worden, sondern ihr ganzes Lebensschicksal zu berichten, damit auch Egino es jetzt höre, er hätte sich sicherlich nicht von dem Kreise der Zurückbleibenden ausgeschlossen. Aber Corradina hielt ihn nicht zurück. Sie saß aufgerichtet, mit im Schoße gefalteten Händen da, ihre wunderbar schönen Züge dem glühenden Himmelslichte zuwendend, während Bruder Martin, müde und doch gespannt, an die Rücklehne seines Sessels zurückgesunken war, und der Kranke das gerötete Haupt mit den leuchtenden, auf Corradina gerichteten Augen auf seinen Arm gestützt hatte.

»Wenn Euer deutscher Freund«, hob Corradina mit einem wie forschend auf dem jungen Mönch liegenden Blicke an, »über mein Handeln urteilen soll, so muß er alles kennen, was mich dahin führte, wo er jetzt mich erblickt, in diesem Asyl, verborgen, flüchtig, arm und ausgestoßen. Er muß wissen, wie ich aufwuchs, wie ich zu Jahren kam, was ich erlebte, was ich zu durchkämpfen hatte bis zu dieser Stunde. Ich wuchs auf ohne Mutter, in der alten, großen und zerfallenden Burg zu Anticoli, an der Seite meines Vaters, des strengen und harten Mannes, der durch seine Erzählungen von der Macht und Höhe unseres großen und einst weltbeherrschenden Geschlechts, von den Taten derer, welche die hervorleuchtendsten Träger seines großen und unvergleichlichen Ruhmes waren, alles tat, um mich selbstbewußt und stolz zu machen. Er konnte dies nicht, ohne zugleich durch den Kontrast dieser Erinnerungen mit dem dürftigen und zerfallenden Zustande um mich her, mit der engbeschränkten Lage unseres Hauses eine große Bitterkeit in meine junge Seele zu bringen. Zum Glücke lag in der eigenen Bitterkeit seines Herzens über diese Verhältnisse ein Gegengift; der Eltern Gemütsschwächen sind selten der Kinder Erbteil; sie nehmen früh ein Beispiel an ihnen. Mein Vater war nicht arm. Unsere Besitzungen waren groß; aber sie waren verschuldet. Seit dem großen Überfalle Roms, den vor hundert Jahren die Colonnesen, mit denen wir fast immer verbündet waren, ausgeführt, hatte unser Haus viel gelitten. Paolo Orsini, des Papstes Feldherr, hatte meinen Vorfahr Corradino di Antiochia gefangen genommen und hinrichten lassen und vieles vom Unsrigen war uns damals genommen worden. Mein Vater hatte eine Savelli zur Frau. Ihr Erbgut hatte dazu gedient Schulden zu tilgen, Verpfändetes und Entfremdetes wieder zu

423 erwerben, das Erhaltene in besseren Stand zu bringen. Die äußerste Sparsamkeit unterstützte meinen Vater in diesem Streben, in dem alle seine Gedanken und all sein Tun aufging; denn unser Haus wurde nicht wohnlicher, unsere Dienerschaft nicht zahlreicher, unsere Tafel nicht besser besetzt, unser Tor nicht gastlicher geöffnet, wie wir reicher wurden. Meine Mutter war, als ich acht Jahre zählte, gestorben und meine ganze Umgebung bestand von da an in einer alten Amme und einer blutjungen Ziegenhirtin, die mein Vater mir zur Cameriera gegeben hatte; sein täglicher Umgang war der Frater Niccolo, der Hausgeistliche, der mich im Lesen und Schreiben und dann im Latein unterrichtete, während mein Vater selbst mich Deutsch lehrte – er sprach fast immer deutsch mit mir – das Deutschsprechen war eine Tradition in unserem Hause. So wuchs ich auf; von der Welt sah ich nichts und hörte nur, was einzelne seltene Gäste, die aus ihr kamen und bei uns einkehrten, von ihr erzählten – sie waren meist Angehörige der Familie Savelli. Meine Mutter war, wie gesagt, eine Savelli von Ariccia; sie aber, die unserem Hause neuen Wohlstand gebracht, hatte verlangt, daß dieser Wohlstand zu ihrem Hause einst zurückfließe, und daß ich einem der Söhne ihres Vetters, des Herzogs, vermählt werden solle – ich war ja das einzige Kind, die einzige Erbin; einen Sohn hatte sie meinem Vater nicht geschenkt. So wurde ausgemacht, daß ich Luca heiraten solle; meine Mutter noch bestimmte es so. Wenn Luca Savelli zu uns kam, nannte er mich seine sposa schon in einem Alter, wo diese sposa nicht viel größer war, als die größte ihrer Docken. Wir spielten zusammen und zankten uns dabei und rauften uns; obwohl er um vieles älter war als ich, unterlag er zuweilen dabei und ich glaube, er haßte mich deshalb eben so sehr, wie ich ihn unausstehlich fand. Ich hatte einen Gespielen, der mir weit besser gefiel; er war von meinem Alter und statt mich wie Luca sposa, zu nennen und beherrschen zu wollen, war er beflissen alles zu tun, was ich wünschte und mir in allem nachzugeben, was mir einfiel. Er war meiner Cameriera Bruder und so arm wie sie und hütete die Ziegen auf den Felsabhängen und in den Büschen um unsere Burg; er hieß Mario und hatte Augen von wunderbarer Schönheit, groß und dunkel und sanft wie die eines jungen Mädchens; Angela und Mario und ich, wir bildeten eine so friedliche Spielgesellschaft, wie es Geschwister nur können. Ich weiß nicht, ob ich Angela lieber hatte oder Mario. Mein Vater kümmerte sich wenig um mich; er ließ mich bei schönem Wetter draußen umhertummeln, bei schlechtem mich in den Saal flüchten, wo ein mächtiger alter Schrein stand, in welchem Schriften, Pergamente und Bücher, alte wie neue aufbewahrt waren. Ich las zuerst in den neuen – heimlich, denn der Frate Niccolo durfte es nicht sehen; er nannte alle neuen Bücher Homilien des Teufels und Seelengift; und er hatte recht, diese neuen Bücher waren Novellen und Geschichten von ausgelassenem Inhalte; wie jenes Gift, welches die Pupille des Auges vergrößert und die Sehkraft schärft, schärfte es mein Auge für Dinge, die ich nicht hätte wahrnehmen sollen in diesem Alter. Ich wuchs heran. Es erschienen jetzt öfter Gäste und unter ihnen junge Männer auf der Burg zu Anticoli, Verwandte, Freunde der Savelli, welche sie mitbrachten. Es war ein Kardinal unter ihnen, ein Verwandter der Colonna von Palliano, mit denen Livio Savelli verschwägert werden sollte; Livio führte ihn bei uns ein. Der Kardinal Rafaelo war Erzbischof in einem, Bischof in zwei Städten, hatte Abteien und Pfründen und war noch nicht dreißig Jahre alt; aber er war gewandt, beredt, gelehrt sogar und man sagte, er werde noch Papst werden. Unterdessen bewarb er sich eifrig um meine Gunst. Ich hatte Gefallen an seiner Unterhaltung gefunden; aber nur zu bald verstand ich das leidenschaftliche Wesen, das Feuer in seinen Augen, wenn er mit mir sprach, und schrak vor seinen Annäherungen zurück. Ich konnte ein kostbares Geschenk, das er mir eines Tages von Rom mitbrachte, nicht abweisen, mein Vater litt es nicht; und ich konnte zu meinem Vater, ich wollte zu Luca nicht offen über des Kardinals Annäherungen reden. Aber ich mied, ich floh ihn jetzt. Frate Niccolo machte mir Vorwürfe darüber. Er rühmte mir Rafaelos hohen Rang und Verdienst; er brachte mir heimlich einen Brief des Kardinals; ich war erstarrt über dies Betragen des frommen Frates, den ich verehrt hatte. Während ich den Brief zerriß, hatte ich ein Gefühl, als ob die Welt unter mir zusammenbreche – wie eine Flut von Haß kam es über mich wider diese Preti, wider diese Männer – ich trat im Angesichte Fra Niccolos die Stücke des Briefes mit Füßen. Der Kardinal ließ sich nicht abschrecken. Er verfolgte mich wie früher; ich stahl mich aus der Burg, so oft ich konnte, wenn er da war; ich klagte mein Leid Angela und Angela erzählte es ihrem Bruder, und als ich Mario das nächstemal sah, schwor er, er werde, sobald der Kardinal mit Livio wieder in dem Buschwald von Anticoli jage, wie er pflegte, aus seinem Versteck mit seiner Hirtenschleuder ihm einen Stein an den Kopf schmettern. Fra Niccolo überraschte uns, Mario und mich in unschuldigem vertraulichen Geplauder. Er mochte längst meinen Verkehr mit Mario beargwöhnt haben, der schmutzige Mensch. Er bedrohte mich mit dem Zorn meines Vaters. Ich antwortete ihm trotzig und wendete ihm den Rücken. Doch führte er die Drohung nicht aus, wohl aber mußte er Rafaelo die Sache hinterbracht haben, denn der Kardinal nahm sich am folgenden Tage heraus mir die bittersten leidenschaftlichsten Vorwürfe zu machen, daß ich mich wegwerfe, daß ich wie ein Wildfang umherschweife und mit einem barfüßig laufenden Buben wie mit meinesgleichen verkehre; er wagte es mich zu schmähen, als ob er ein Recht dazu habe. Empört fiel ich ihm ins Wort. Und was geht das Euch an, rief ich aus, wenn ich mit meinen Gespielen verkehre und wer meine Gespielen sind? Wenn Ihr noch Luca wäret, der sich meinen Sposo nennt! Ich hasse ihn nicht viel weniger als Euch.

»Rafaelo verstummte vor Betroffenheit und blaß vor Wut, ließ er mich allein. Am andern Tage schon reiste er ab. Aber er hatte Sorge getragen sich zu rächen. Mich graut davor es auszusprechen, wie. Was ich ihm ins Antlitz gesagt, das hat er den armen Mario entgelten lassen. Dieser ist von Banditen überfallen worden und sie haben ihm die Augen ausgestochen.

»Das ist entsetzlich!« fuhr Egino hier empor.

Corradina legte, wie um ihn zu beschwichtigen, die Hand auf seinen sich erhebenden Arm, während ihr Blick dieselbe Richtung, gerade aus, in das verglühende Abendrot, behielt; Bruder Martin hatte sich aufgerichtet und vorgebeugt, die Hände auf seine Knie gestützt, starrte er die Erzählerin an.

»Mario ist gestorben«, sagte sie und fuhr dann mit einem schmerzlichen Seufzer fort: »Ich hatte Mario nicht geliebt; nie war mir nur im Traume der Gedanke gekommen ich könne sein Weib werden. Aber mein Schmerz um ihn war so groß, als hätte ich ihn geliebt, und alles, was von Kraft und Empörung in mir lag, wurde in mir wachgerufen und mischte sich mit einer Bitterkeit, die ich nicht beschreiben kann, in diesen Schmerz. Ich war wie verwandelt von diesem Tage an; ich wurde einsiedlerisch, menschenscheu, ich verschloß mich tagelang bei den Büchern meines Vaters, unter denen ich jetzt begann die alten, die Chroniken, die, welche Kunde von meinen Vorfahren enthielten, denen vorzuziehen, welche mich früher beschäftigt hatten. Angela sendete ich von mir, weil ich es nicht ertragen konnte, daß ihre Augen mich anblickten, welche die Augen Marios waren. Ich begann mich in eine Welt ganz für mich allein einzuleben, die bevölkert war von weichen mütterlichen Frauen und von edlen, starken, ritterlichen Männern, Gestalten der Einbildungskraft, denen ich die Namen meiner Vorfahren gab, die ich in den alten Geschichtsbüchern und Aufzeichnungen fand, die Namen: Manfred, Enzio, Constanze, Beatrix, Isabella, Elisabeth, Sibylla; ich träumte mich mitten zwischen sie, ich sah mich neben ihnen stehen und redete mit ihnen; meine junge Klugheit gab ihnen Ratschläge, deren Befolgung sie ganz sicherlich vor ihren tragischen Schicksalen behütet hätte, hätten sie nur auf mich junges Blut gehört. O gewiß hätte dann Conradin den Bluthund Anjou zu Boden geschmettert und wäre Manfred nicht bei Benevent geschlagen worden! Und in einer alten Schrift, die von meinem Ahn, von dem, der mir der teuerste und liebste von allen, von Friedrich II. herrührte, vertiefte ich mich und las sie wieder und wieder und brütete darüber und grübelte über einzelne Stellen und Sätze, ob der Sinn, den ich in sie legte, wirklich das sei, was da stehe; ich grübelte darüber, unsicher, geängstigt, fürchtend, daß es so sei, und doch wieder frohlockend, daß es so sei; denn diese Stellen und Sätze waren erschreckend für meinen kindlichen Glauben; aber sie rächten mich an dem Kardinal, an dem Frate Niccolo, an den Menschen um mich her. Es lagen die Gedanken, die letzten und geheimsten Gedanken eines Mannes darin niedergelegt, der, wie ein Bergeshaupt den Nebel und Qualm des Tales, die Wahngebilde, die seine Zeitgenossen umhüllten, überschaute.«

»Und welch' eine Schrift war das?« fragte hier Bruder Martin. »Ich spreche Euch noch davon, laßt mich jetzt fortfahren«, antwortete Corradina. »Wenn ich meiner Einsamkeit entrissen wurde und mit Menschen verkehren mußte, so zeigte mein Wesen sich völlig verändert. Ich war nicht mehr gesprächig, harmloses Geplauder liebend und doch schüchtern und blöde und leicht durch ein Wort aus der Fassung gebracht, wie ich es früher war; ich war einsilbig und sicherer geworden; ich sprach wenig, aber das, was ich dachte und für wahr hielt. Ich lernte zu erwidern, den Mut meiner Meinung zu haben; wer sich in ein Wortgefecht mit mir einließ, beendete es nicht immer als Sieger, und da ich aus der bitteren Stimmung, die mich für die Menschen um mich erfüllte, heraus sprach, so muß ich sehr oft verletzend, keck und herausfordernd gesprochen haben. Und doch schien das niemanden zu verletzen, im Gegenteil, es war, als ob man sich jetzt erst recht beflisse mir zu huldigen.

»Als ich neunzehn Jahre alt wurde, verlor ich meinen Vater nach einer kurzen Krankheit; er sprach mir noch auf seinem Totenbette von Luca Savelli als meinem zukünftigen Gatten. Ich wollte den Sterbenden nicht durch meinen Widerspruch kränken; ich schwieg und unterwarf mich auch, als der Herzog von Ariccia als Vormund nach meines Vaters Tode verfügte, daß ich von nun an bei seiner Schwiegertochter, bei Livio Savellis Gattin und in der Welt leben und da geschult und gebildet werden solle. Was hätte mir auch Widerstand gefruchtet! Ich mußte unsere Burg verlassen. Es war mir zu Mute, als nehme ich nicht allein von meinem Vaterhause, von allen Erinnerungen, von meiner Freiheit Abschied, es war mehr, es war mir, als solle ich von mir selbst Abschied nehmen; als werde ich wie irgendein Stoff, ein beliebiges Metall behandelt, das man umwandeln und in eine neue Form gießen, zu einem neuen Wesen und einer neuen Gestalt machen wolle, in Rom, auf den Schlössern der Savelli und Colonna, in ihren Gesellschaften, in ihrem unruhigen Treiben und Leben, das für mich wie das Leben einer ganz andern Art von Menschen war. Und doch – wie so ganz blieb ich dieselbe; wie blieb mir in dieser Welt, die mich abstieß, ganz meine Art zu empfinden und zu denken treu; wie kam eine hartnäckige Widerstandskraft über mich inmitten all der sittenlosen Ausgelassenheit, die mich umgab! Livios Weib war ihrem Gatten untreu und gab sich keine Mühe dies vor meinen Augen zu verschleiern. Livio dagegen faßte eine Leidenschaft für mich, aber er hatte nicht den Mut oder hielt es nicht für klug es mir offen zu gestehen – er ließ es mich erraten; er spielte den Zurückhaltenden, sich Beherrschenden und machte den Schutzredner seines Bruders Luca bei mir... er spielte ein fein überlegtes Spiel! Er berechnete, wie, wenn ich Lucas Weib geworden, dieser mich elend machen werde und wie ich dann in meiner Not in seine weitgeöffneten Schützerarme werde fallen müssen! Luca behandelte mich, je unumwundener ich meinen Abscheu wider ihn kundgab, desto mehr als sein Eigentum, seine Sklavin ... wir hatten oft harte Kämpfe und dann trat sein Vater, mein Vormund, dazwischen und nahm mich so erregt und leidenschaftlich in Schutz, daß ich bald auch gegen ihn die Unbefangenheit verlor – auch er, auch der fünfzigjährige Mann fing an um mich zu werben und die Verzweiflung zu steigern, von der ich in diesem Kreise erfüllt wurde, der den schützenden Familienkreis für mich bilden sollte! Zum Glück scheute der Herzog seine Söhne, fürchtete er Livio, und Livio war empört, als er die Entdeckung machte, daß sein Vater den Gedanken gefaßt, selbst, weil ich nun einmal Luca nicht wollte, mich zu seinem Weibe zu machen.

»Es waren schreckliche Tage für mich armes junges Geschöpf, das keinen Freund, keine Hilfe auf Erden hatte; meine Diener waren vom Herzoge ausgesucht; Livios Gattin glaubte ihre Pflicht gegen mich erfüllt, wenn sie mir die feinen Sitten der Gesellschaft beibringe und die Kunst sich mit Geschmack zu kleiden und zu schmücken; über ihres Mannes Beflissenheit um mich spottete sie; sie nannte mich die marmorne Prinzessin und hatte ihre Freude an der Art, wie ich mich schroff und scharf gegen die Männer verteidigte, deren Leidenschaften ich dadurch nur reizte und stachelte.

»Wie oft in jenen Tagen habe ich Angela beneidet, wie oft mich an die Stelle dieses Mädchens gewünscht, das auf den Waldhöhen von Anticoli jetzt wieder barfüßig ihre Ziegen hütete!

»Es waren zwei Jahre, die so verflossen, wir waren zumeist in Ariccia, auch in Palliano oder in Livios Schlosse bei Albano, das der Herzog ihm bei seiner Verheiratung abgetreten; vorübergehend hier in Rom. Endlich zwang Lucas zunehmende Krankheit uns zu längerem Aufenthalte in Rom, und dort war es, wo ich meinen Entschluß erklärte des sterbenden Lucas Weib werden zu wollen. Es schien mir der einzige Weg frei zu werden, frei von den Bewerbungen des Herzogs, den ich am meisten fürchtete, frei und unabhängig als Witwe, der man einen Teil ihres Guts zurückgeben mußte, frei auch für die Zukunft von den Bewerbungen anderer Männer, denn ich haßte sie alle. Luca starb am Morgen des Tages, der zur Vermählung festgesetzt war – ich blieb zu dieser Vermählung dennoch bereit und – Livio bestand nun ebenfalls auf der Trauung im Einverständnis mit seinem Weibe, das über die Absichten des Herzogs dachte wie er. Ich war einverstanden, der Herzog wagte keinen Widerstand ... und so geschah das, dessen Zeuge Ihr wurdet, Graf Egino ...«

»Ihr ließt Euch mit dem Toten trauen?« rief Bruder Martin erschrocken aus.

»Ich ließ mich mit dem Toten trauen!«

Bruder Martin starrte sie an. Eine Pause folgte. Graf Egino streckte seine Hand aus, um die Corradinas zu erfassen; wie geistesabwesend ließ sie ihn gewähren und ihre Rechte in der seinen. Ihr Blick blieb unverwandt in die Ferne gerichtet.

Der Mönch stützte seine Stirn auf seinen Arm und sagte zu Boden blickend:

»Und dann? Sagt mir alles!«

»Graf Egino mag Euch das Weitere erzählen.«

»Wie ein Engel des Lichts kamt Ihr in die Nacht des Verzweifelnden«, rief Egino aus, »und wenn ich zehnfach für Euch sterben könnte, ich würde Euch das Glück des Augenblicks nicht gezahlt haben, in welchem meine verwirrten Sinne sich zu fassen, zu glauben begannen, daß Ihr, Ihr es waret ...«

Sie entzog ihm ihre Hand und sie wieder beschwichtigend auf seinen Arm legend, fuhr sie fort:

»Ich führte ihn hinaus. Wir kamen in die Kapelle der Murati; was dort geschah, wird das deutsche Mädchen Euch erzählt haben ...«

Bruder Martin nickte leise mit dem Kopfe.

»Ich weiß, was dort geschehen«, sagte er.

»So kann ich enden. Als wir, dem Manne, der das verwundete deutsche Mädchen trug, folgend, uns in den dunklen Gassen draußen befanden, sagten wir uns, daß man nicht sie, von denen niemand weiß, sondern nur uns verfolgen und auszuspähen suchen werde; daß wir ihnen deshalb schuldig seien unser Los von dem ihren zu trennen, damit wenigstens sie nicht gefährdet seien; daß wir um jeden Preis außerhalb der Tore – jetzt, wo sie noch nicht bewacht würden – zu gelangen suchen müßten. So trennten wir uns von ihnen und gelangten glücklich und unaufgehalten durchs Tor zu Signor Callistos Hause, der mir stets Wohlwollen und Güte erwiesen hat und für dessen treue Freundschaft Graf Egino einstand ... wir haben uns nicht in dem edlen Manne getäuscht – und so findet Ihr uns hier.«

»Und jetzt«, schloß Corradina ihre Erzählung, »jetzt, Fra Martino, erwägt es in Eurem Herzen, ob das, was Ihr hörtet, eine Geschichte von Schuld und Verirrung ist oder ein Menschenschicksal, das die Vaterhand Gottes so bestimmte und auf dem Wege zu dem Ziele leitete, an welches er mich führen will. Sagt es uns morgen, denn es ist spät geworden; die Sonne versank und die Nacht muß Euch in Eurem Kloster finden.«

Bruder Martin erhob sich.

»Ihr habt recht, Gräfin«, sagte er leise. »Auch wäre ich nicht imstande Euch ein Wort darüber zu sagen. Mein Gemüt ist von allem, was diese Tage mir zuführten, erfüllt, als läg' eine Bergeslast auf mir. Laßt mich gehen. Mir ist zu Mute, als wär' ich in einen tosenden Strudel gerissen ... ich muß aufatmen, bevor ich reden kann.«

Er reichte beiden die Hand und schritt schweren Ganges durch das Zimmer und das Vorgemach, um die Villa zu verlassen.


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