Levin Schücking
Luther in Rom
Levin Schücking

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11. Das Bild der Kirche.

Als Egino wieder in seiner Wohnung angekommen war, warf er ermüdet und schwer aufatmend Degen und Hut ab und streckte sich auf sein breites ledernes Ruhebett; mit offenen Augen starrte er lange so die Wand ihm gegenüber an, eine dunkelblaue getünchte Fläche mit rotem Stabwerk und grünen Rankenverschlingungen, die als Rahmen umherliefen und für ihn bald der Rahmen für eine bunte Fülle von Bildern wurden.

Er erblickte, wie unfaßbare Schatten auftauchend und sich wieder verflüchtigend, die Gestalten Rafaels vor sich; auf dem blauen Hintergrunde schwebten sie kommend und verschwindend auf und nieder wie in einem Zauberspiel, das ihn nicht wieder ließ. Der Apoll mit seiner Viola, die Poesie, die schönen Gestalten der Musen, der Dichter und Weisen in ihrer blendenden Farbenglut; und dann zwischen ihnen, vor ihnen, sie alle beherrschend, und doch wie zu ihnen gehörend, die andere Gestalt, die Egino nie mehr verließ – sie war wie ein Wesen aus dieser Welt, aus ihr hervorgetreten ins Leben, eine Schöpfung des höchsten Künstlergeistes, der sie in schönheittrunkener Begeisterung ins Leben gerufen – sie allein von allen um zu atmen, zu leben, und so alle andern zurückzudrängen und in den Schatten zu stellen, alle diese tote Schönheit gegen ihre warme lebendige.

Und doch, wenn sie auch lebte, war sie darum für ihn, für Egino, mehr als ein Bild? Hatte er mehr an ihr als an all diesen toten Gestalten? Was war es ihm, ob sie atmete oder nicht, ob ihre Lippen sich zum Sprechen bewegten oder nicht, ihre Lider sich hoben und senkten oder nicht? Ein Wort, an ihn gerichtet, konnte nie über diese Lippen kommen; um einen Blick auf ihn zu werfen, konnten nie diese Lider sich heben; sie war nichts, nichts als ein Bild für ihn, ein Schattenbild der Erinnerung für immer. Und darüber erfaßte ihn wieder das ganze Weh der letzten Tage, von dem ihn die eben verlebte Stunde ein wenig zerstreut hatte. Die Bilder des Meisters, die er eben noch so warm in Schutz genommen, verloren ihre bezaubernden Farben; sie verschwammen und verflüchtigten sich, sie verloren ihre Macht über seine Seele, in die wieder als in sein ausschließliches Eigen der Schmerz zurückkehrte.

Egino vergaß die Bilder, und nach und nach zogen alle seine Gedanken wieder dahin in der alten Strömung, nach dem einen Ziel. –

Mit ganz anderen Gedanken war Bruder Martin beschäftigt, als er in sein Kloster heimging.

Alles was er erfahren und gesehen in dieser römischen Welt, in der er nun seit Wochen weilte und die ihm, je mehr er der fremden Sprache mächtig ward, desto erschreckender wurde, stand im ärgsten Widerspruch mit den mitgebrachten Vorstellungen. Mit seiner tiefgründigen religiösen Natur hatte er an alles den Maßstab seiner Theologie gelegt. Und nichts wollte stimmen zu dem! Aber er hatte die Erscheinungen, welche ihn beunruhigten, weil sie sich ganz dem theologischen Maßstab zu entziehen schienen, nach und nach mit einer Art gewaltsamer Dialektik unterworfen und verarbeitet, bis sie ihm den Frieden nicht mehr störten, und bis der Optimismus seines gläubigen Gemüts ihrer Herr geworden.

Die Kirche, das hatte er gesehen, hatte tausend Schäden. Mit einem naiven Zynismus herrschte die Simonie in ihr. Weltliche und rohe Menschen kleideten sich in Priesterröcke und trieben Handel und Wandel mit den Gnaden und Schätzen der Kirchen. Und die Menschen – wie man als Scholar daheim die Quälereien, welche der Pennalismus auferlegte, über sich nahm, um alsdann in eine hohe Schule aufgenommen zu werden, so nahmen sie die Quälereien hin, welche die Kirche ihnen auferlegte; sie fasteten, beteten Rosenkränze ab, zahlten Ablässe, Dispensen, Messen, beugten sich vor Pfaffen, die sie um ihres Wandels willen verachteten, kreuzigten ihren Mutterwitz und ihren Verstand, um an hundert abergläubische Dinge zu glauben – das alles, um alsdann in den Himmel aufgenommen zu werden. Man legte in eine Sparbüchse ein, um ein großes Kapital himmlischer Freuden zu erhalten.

Das alles war erschreckend. Die Kirche war etwas geworden, vor dem die wundertätige Mutter Gottes in Sant Agostino ein merkwürdiges Abbild darstellte. Wie saß sie da! Umgeben vom strahlenden Lichtglanz; gehüllt in Seide und goldtuchene Gewänder; eine demantenbesäete hohe Kaiserkrone auf dem Haupte und Diamanten- und Perlenschnüre von unschätzbarem Werte um ihren Hals, ihre Arme; zu ihren Füßen im Staube knieten Hunderte von Gebete murmelnden Menschen!

Auf dem Schoße der Gestalt aber ruhte eine Leiche. Der Christus, den dies Bild der Kirche auf den Knien hielt, war eine Leiche. Der Christus des Evangeliums, der die Predigt vom Berge gesprochen, und das Wort: Ihr sollt anbeten im Geist und in der Wahrheit, der war tot; er war gestorben auf den Knien dieses Weibes. Auch betete man nicht zu ihm; die Menschen richteten ihre Verehrung an die Frau im goldtuchenen Rock und den Perlenschnüren.

So lauteten oft Bruder Martins grollende, zornige Gedanken, wenn er um sich blickte in der heiligen Stadt des Christentums. Aber er beschwichtigte sie. Lag ihm nicht auch hundertfacher Trost nahe? Was focht das alles das Wesen an? Es waren zeitliche Erscheinungen, die abfallen mußten wie die Schale vom Kern, wenn er reif ist. Christus war nach drei Tagen erstanden und konnte auch erstehen von dem Schoß der Frau mit der Kaiserkrone. Der Fels Petri war für die Ewigkeit errichtet. Der Geist Gottes schwebte dennoch über all dem Chaos von Sündhaftigkeit der Welt. Die Unfehlbarkeit der Lehre mußte nach und nach die Schäden, die Auswüchse, die krankhaften Stoffe abstoßen und der Herr sein Haus reinigen – es war nur eine Frage der Zeit.

Und so hatte ja auch der General seines Ordens zu ihm gesprochen, wenn er manchmal in der Beklommenheit seines Herzens an seine Zelle – die größte, schönste und am bequemsten ausgestattete des Klosters – geklopft. Ein mild und frei denkender Mann hatte ihn dann väterlich aufgenommen. Fra Egidius von Viterbo war ein Mann von glänzender Gelehrsamkeit, der in seiner Jugend sich als Dichter ausgezeichnet und der unter den Würdenträgern der Kirche durch seine geistige Freiheit hervorragte. Das hatte Bruder Martin freudig erfahren, in den ersten Zeiten schon, nachdem er mit seinem vollen andächtig erglühten Herzen in der ewigen Stadt angelangt und nun aus dem, was er sah und erlebte, die ersten kalten Schauer sich auf diese Andachtglut ergossen. Er hatte sich dann wohl halb entrüstet und empört, halb wie ein Hilfeflehender zu diesem Manne geflüchtet und ihm geklagt, wie die Messelesenden da unten in der Ordenskirche ihn gehöhnt, daß er's so ernst nehme und so langsam mache und wie hastig sie ihm Passa, passa! zugerufen; ja, wie er vernommen, daß sie dabei gotteslästerliche Dinge vorgebracht, daß sie sich mit schmutzigem Scherze ergötzt; wie er unter dem Eindruck von dem allen in verdüsterter Stimmung die Scala santa hinaufgestiegen, und wie ihn mitten in diesem häßlichen Rutschen plötzlich ein Ekel an all der Werkheiligkeit ergriffen und er sich trotzig erhoben und davongegangen. – Egidius von Viterbo hatte ihm dabei mit einer Art milder Herablassung zu seinen wie kindlichen Gefühlen, seinem treuherzigen Novizentum getröstet, dann auch wohl gescholten wegen seines grübelnden Kopfes, der die Welt nicht nehmen wolle wie sie sei, und endlich stets auf das unwandelbare, hoch über den irdisch wechselnden Formen und menschlichen Gebrechlichkeiten stehende, ewige Prinzip der Kirche und den bei und in ihr bleibenden Geist, den Paraklet, verwiesen.

Damit hatte sich Bruder Martin getröstet. Aber heute bohrte sich etwas in seine Seele, das durch solchen Trost nicht mehr beschwichtigt wurde.

Für das sittenlose Pfaffentum, für die gedankenlose Götzendienerei, für den Schmutz, für das Häßliche, für die Verderbnis gab es einen Trost.

Aber wo war der Trost für das, was das Schöne, das sich frei wider sein Heiligtum erhob, in sein Gemüt geworfen? Als schlügen ihm die Dinge über dem Haupte zusammen, erfaßte ihn eine tiefe Seelenangst. Was verbürgte ihm denn sein Vertrauen auf die Ewigkeit des Felsens Petri; verbürgte es ihm die Ewigkeit der Herrschaft dieses Felsens über die Gemüter? Erhob sich nicht eine neue Macht dräuend vor seinen Augen? Lag nicht eine ungeheure Empörung in dieser Welt der Bildung, die sich an den Brüsten der klassischen Vorzeit groß zog und von der Kirche nicht länger die Seelen leiten und die Leiber beherrschen lassen wollte? Wandte sich nicht die Wissenschaft schon von ihr ab? Und warf ihr nun gar die Kunst im Höchsten, was sie schuf, den Fehdehandschuh hin? Hatten das diese Erasmus, diese Reuchlin, diese Agricola und Hegius gewollt – die Menschen zu einer Bildung führen, welche die Sprache der Kirche auch dann verachtete, wenn diese geläutert sie unter ihre Flügel zurückrief? – War nicht auch das Volk der Juden nur ein kleines Häuflein, eine schmale Völkerinsel gewesen? Konnte nicht die Kirche der Zukunft mit ihrem Felsen Petri solch ein winziges Felseneiland werden, an dem teilnahmlos die Wogen des Lebens und der Geschichte vorüberfluteten?

Wie ein eiskaltes Bad umschauerten diese Gedanken den deutschen Mönch. Mit beklemmender Gewalt trat die Angst an seine Seele, daß es für die Reformation der Kirche, welche die Jahrhunderte vor ihm gefordert hatten, ein Zuspät geben könne.

Nein, nein, es wäre ein furchtbarer Abfall der Welt von Christus gewesen! Und durch Christus nur konnte sie gerechtfertigt werden, konnte sie hier die Gnade erlangen und dereinst selig werden. Aber in der Tat, es war Zeit, daß vom Schoße jenes diamantengeschmückten Weibes im goldtuchenen Rock die Leiche neu lebendig sich erhob und als Herr der Welt die Menschen wieder zu sich rief. Es war Zeit. Dann, dann aber mußte die Welt gehorchen. Bruder Martin war in der Scholastik aufgewachsen; er war Theolog, er war Mönch. Er war Hierarch genug noch in diesem Augenblicke, um auch an die Strafgewalt der Kirche, an Zwang und Gewalt wider die Empörung zu denken!

So hatten die Bilder Rafaels ihn erschüttert, ihn geängstigt. Er hatte daheim der Bilder viele gesehen; schöne Schildereien von seinem Freunde Lucas Sunder aus Kronach, der so herzlich innige Heiligengesichter malte; auch von Albrecht Dürer und Lucas von Leiden einiges; es war alles gar fromm und lieb gewesen und hatte zu seinem Gemüte gesprochen, und wenn er es beschaut, hatte es ihm die Seele erfrischt wie schöner Lautenklang.

Was aber war das alles gegen diesen Rafael; an gläubige kirchliche Vorstellungen hatte es sich angeschmiegt wie Musik an die Worte eines Liedes. Hier aber war die freie Bildung seiner Zeit, der auf sich selbst stehende Menschengeist vor ihn getreten, in seiner schönsten, reinsten, sieghaftesten Gestalt.

Die humanistische Bildung, der Inhalt des Jahrhunderts in seinem Stolz, seinem Triumph.

Mußte nicht etwas darin liegen, was dem deutschen Mönch »die Zirkel zerstörte«, was ihn kleinmütig machte, und dann auf die Stirn dieser mächtigen Natur einen Ausdruck wie der Herausforderung legte, als ob ein Drang zu Kampf und Tat in ihm auflodere?

Und doch war er sehr unglücklich. Weshalb war ihm kein Freund nahe, um sich auszuschütten gegen ihn? Es drängte ihn mit einem Freunde zu reden. Zu Fra Egidio konnte er sich nicht flüchten, der war verreist. Mit seinen Ordensbrüdern wollte er reden vom Stande der Kirche und der Dinge. Sie konnten nicht blind sein wider das, was seine Seele erfüllte. So kam er heim. Die Brüder waren im Garten des Klosters. Als er in den Garten eintrat, sah er, daß er seine Stunde schlecht gewählt. Er sah sie in ihren weißen Habiten in einem hellen Haufen, lebhaft sich bewegend, rufend, lachend, Steine werfend ... Bruder Martin trat näher und sah, was sie trieben.

Es entsetzte ihn; es machte ihm das Herz bluten.

Sie hatten ihr Spiel mit einem armen Hasen, der auf irgend eine Art in den Garten gekommen war; vielleicht hatte ein Ragazzo ihn lebend gefangen und dem Bruder Koch gebracht für die Klosterküche. Sie hatten ihn mit einem langen Faden am Hinterbein an den Stamm eines Orangenbaumes gebunden. So warfen sie mit Steinen nach ihm, und übten sich ihn zu treffen. Hohn und spöttische Rufe wurden denen, die ihn fehlten, zu Teil; lautes Gelächter und Jubel erhob sich, wenn das arme Tier, das den anderen nicht gebundenen Hinterlauf gebrochen und blutend hinter sich drein schleppte, trotz der Sätze, die es in seiner Todesangst machte, getroffen wurde. Die ganze Herzlosigkeit des Romanen wider das hilflose, von der Kirche preisgegebene Tier tobte sich aus.

Bruder Martin stand mit wenig raschen Schritten mitten zwischen ihnen. Mit diesen Leuten konnte er freilich nicht reden von dem, was sein Herz bewegte. Er sagte nichts als:

»Wer den Herrn liebt, liebt auch seine Kreatur!« aber er sagte es mit bleicher zitternder Lippe, mit einem Tone, daß sie ihn still gewähren ließen, als er hinging, den Faden mit starker Hand zu zerreißen, das arme Tier in seine schwarze Kutte zu bergen und es auf seine Zelle zu tragen, um es zu hegen und zu sehen ob er es heilen und retten könne.


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