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Als Padre Geronimo, der Inquisitor, aus dem Vatikan in sein Kloster auf Santa Sabina zurückgekehrt war, hatte er den Prior und den Vater Eustachius zu sich in den Klostergarten, in den er hinab gegangen, berufen. Er hatte sich berichten lassen, was während seiner Abwesenheit geschehen sei, und der Prior hatte ihm gemeldet, daß die Ordensbrüder unten in der Stadt, bei Santa Minerva, die genaue Überwachung des deutschen Dieners des entflohenen Grafen Egino übernommen, von dem vorauszusetzen sei, daß er seinen Herrn aufsuche, falls er auch nicht in dessen Aufenthalt eingeweiht sei; sodann, daß man auch die Spur des deutschen Mädchens entdeckt habe, welches Egino bei seinem ersten Eintritt in das Kloster begleitet, daß es vor Wochen aus Deutschland angekommen, mit einem Verwandten die deutsche Herberge bewohnt habe und nach einigen Tagen daraus fortgezogen sei – man wisse nicht wohin, aber man werde von Santa Minerva aus allen Fleiß aufwenden sie wiederzufinden. Und endlich, schloß der Prior seinen Bericht, um das Wichtigste zuletzt vorzubringen, habe man nochmals eine Besichtigung an den Gewölben vorgenommen und entdeckt, daß die Mauer, welche die unterirdischen Räume unter dem Kloster von denen unter der Savellerburg trenne, durchbrochen und mit unvorsichtiger Hast wieder zugemauert sei.
»Eins vergeßt Ihr noch zu erwähnen, ehrwürdiger Vater«, fügte Padre Eustachio hinzu, »das ist, daß Bruder Alessio an einem Fieber krank geworden, welches mehr in einer Aufregung oder Beängstigung des Gemüts oder einem erlittenen Schrecken seinen Grund zu haben scheint, als irgend einer anderen Ursache.«
»Der Laienbruder Alessio?« fragte der Inquisitor.
»Er war mit dem Dienst bei dem deutschen Grafen betraut«, fuhr Padre Eustachio fort.
»Das ist seltsam... Ihr mögt ergründen, was es mit ihm ist, Eustachio«, versetzte Padre Geronimo, indem er sich auf eine Steinbank unter dem alten Ölbaum setzte, von dem die Klostertradition behauptete, daß der heilige Dominikus selber ihn gepflanzt. »Aber«, fuhr er fort, »nicht seltsam ist, was Ihr mir von der durchbrochenen Mauer berichtet. Wie wäre alles möglich gewesen ohne das? Es war eben ein lang vorbereiteter Plan, bei dem sich zwei starke und kluge Menschen in die Hände gearbeitet haben. Von der einen Seite hat man jene trennende Mauer durchbrechen lassen, von der andern unter dem Verwände des Forschens nach Altertumsschätzen sich einen Weg bis in unsere Gewölbe gebahnt...«
»Was sagt Ihr, Padre Geronimo?« rief überrascht der Prior aus.
Der Exerzitienmeister lächelte nur; es war nur, was er längst geargwöhnt.
»So«, fuhr der Inquisitor fort, »ist man eingedrungen und hat den deutschen Grafen befreit; die Gräfin Corradina ist, zur Flucht bereit, in derselben Stunde von der Seite der Burg her gekommen, Livio Savelli hat sie dabei überrascht, hat sich ihrer Flucht mit dem Deutschen widersetzen wollen und die Helfershelfer der beiden Flüchtlinge haben ihn erwürgt. So geschah es, so kann es nur geschehen sein. Ich durchschaue alles!«
Der Prior nickte.
»Ja, so wird es gewesen sein!« rief er aus. »Wenn es uns doch gelänge diesen Malfattore, diesen deutschen Grafen zu ergreifen!«
»Dieser Malfattore, dieser deutsche Graf, hat etwas getan, was nur natürlich ist, er hat die Freiheit gesucht«, entgegnete Padre Geronimo, »vielleicht sich nur in die Freiheit führen lassen von denen, die für ihn handelten. Die Bösen sind die, welche frech und sakrilegisch in unsern heiligen Bereich drangen, nicht die, welche sich daraus flüchteten.«
»Nun ja«, sagte der Prior, »und sie ...«
»Und über sie haben wir keine Gewalt«, fiel Padre Geronimo ein; »sie stehen heute noch zu hoch, als daß wir wohl täten unsere Hand nach ihnen auszustrecken.«
»Zu hoch? Wer in Rom und in der Welt kann zu hoch stehen, daß nicht Ihr, ehrwürdiger Bruder, ihn vor Euren Richterstuhl ziehen dürftet, es sei denn etwa, er wäre ein gesalbter König?«
»Freilich«, antwortete der Inquisitor, »wir sind mit allen Rechten und aller Gewalt ausgerüstet; es fehlt uns weder an Gesetzen, um nach ihnen zu richten, noch an Armen um unser Gericht zu vollziehen. Aber auch nicht an Weisheit, die uns sagt, wann es Zeit ist jene Gesetze ruhen, jene Arme unbewaffnet zu lassen und uns selber schweigend zu verhalten, bis die Stunde des Handelns gekommen.«
Der Inquisitor mochte diese Weisheit besitzen, dem Prior aber fehlte sie seine Gründe zu verstehen.
»Aber ich bitte Euch, Padre Geronimo«, sagte er, »wenn wir das, was in der vorigen Nacht geschehen ist, nicht zu strafen vermögen oder freiwillig ungeahndet lassen, so ist es um unser Ansehen geschehen und all der heilsame Schrecken dahin, den das Sant Ufficio...«
Padre Geronimo machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.
»Sorgt darum nicht«, sagte er.
»Aber diese Schuldigen, die zu hoch stehen«, fiel der Prior ein, »wer sollen sie sein?«
»Dieser Schuldigen einer ist Meister Rafael Santi«, sagte der Inquisitor.
»Rafael Santi, der große Meister aus Urbino?« rief der Prior aus.
»Er«, versetzte Padre Geronimo, »kein anderer als er. Jener deutsche Mönch, von dem die Rede war, der Fra Martino heißt, und der eines ketzerischen Geistes ist durch und durch, hat mit Meister Rafael verkehrt; wozu anders, ich bitt' Euch, als um ihn zu bewegen die Ausgrabungen zu machen, durch welche alles, was geschehen, erst ermöglicht wurde? Denn sicherlich war das Tor der Burg drüben zu wohl verschlossen und bewacht, als daß ihnen auf jener Seite ein Entkommen möglich schien. So hat, wie auf der einen Seite die Gräfin Corradina, so auf der anderen Meister Santi gestanden, um unter unseren Füßen diese Mine der Bosheit zu graben. Ich durchschaue das nur zu gut, und Ihr, ehrwürdige Brüder, werdet jetzt meine Beweggründe durchschauen, wenn ich sage: laßt mir für's erste diesen deutschen Mönch nicht aus dem Auge und verfolgt die Wege, die er wandelt. Aber wider die anderen handeln wir nicht heute, nicht morgen, sondern dann, wenn die Zeit gekommen ist.«
Der Prior nickte verständnisvoll mit dem Kopfe und Padre Eustachio sagte:
»Ihr habt recht, Padre Geronimo. Vielleicht kommt ja auch bis dahin über diesen Rafael, der ein schellenlauter Tor und Heide ist, wie all dies Künstlervolk, dieser San Gallo und Buonarotti und Bramante, diese ganze Sekte Platos, die Einkehr und Erleuchtung...«
Padre Geronimo schüttelte den Kopf.
»Hoffen wir«, sagte er, »daß bald etwas anderes über sie komme: der Zorn unseres heiligen Vaters. Und er wird über sie kommen. Der heilige Vater versteht nicht, daß man mit ihm scherze, und sie, diese Meister sind hoffärtig und übermütig und wagen alles. Seht nur, wie sie einherschreiten: der Santi wie ein Fürst mit dem Gefolge seines Hofes. Auch will er sich, sagt man, im Borgo einen fürstlichen Palast bauen lassen. Und der Michel Angelo Buonarotti gar! Wenn er mit dem breiten Stierkopf und den Schultern eines Holzknechts dahergeschritten kommt, einsam und ungehobelten Gebahrens, meint man, er schaue auf die Welt, als sei sie ein schlechter Marmorklotz, ohne Wert, bis sein Meißel sie zurechthaue! Und hat er nicht auch schon einmal dem heiligen Vater getrotzt und hat sich retten müssen in eiliger Flucht nach Florenz und Venedig? Solch eine Stunde des Zornes und der Ungnade wird über kurz oder lang auch dem andern, dem Urbinaten schlagen. Dann ist auch für uns die Zeit gekommen mit ihm und seinem ganzen Schwarm über Plato zu reden. Die Kirche vergißt nicht. Sind uns heute auch diese Menschen durch den Schutz derer, die sich aus dem Sündenkelch ihrer »Schönheit« berauscht haben, zu mächtig, San Domenicos heilige Fackel brennt doch im Stillen weiter, und einst wird sie hinableuchten in das Dunkel der Schreibstuben platonischer Denker und die Werkstätten dieser Künstler, in alle diese Rüstkammern des Teufels! Geht, meine Brüder, geht jetzt, es wird zu den Vigilien geläutet. Geht und betet, daß die Stunde komme.«
Der Prior und der Exerzitienmeister gingen. Padre Geronimo aber blieb noch lange nachdenklich auf seiner Steinbank unter dem Ölbaum seines großen Heiligen sitzen. Schwermütige Gedanken kamen über ihn. War es wirklich so weit gekommen, daß die Strafgewalt der Kirche nicht mehr frei war, nicht mehr erfassen konnte, wer ihr schuldig schien?
Padre Geronimo versank in Nachsinnen. Es war ihm klar, daß etwas geschehen müsse wider diesen Zustand der Dinge. Die Kirche hatte ihre beiden strafenden Arme einschlafen lassen und sie mußte sie regen. Jede Gewalt, die sich unfehlbar nennt, bedarf dieser Arme sich zu behaupten. Sie bedarf der Zensur für die Geister und des Schwertes für die Leiber. Die Inquisition ist kein bloßer Auswuchs einer unfehlbaren Kirche, sie ist eine Folgerung, eine notwendige Konsequenz aus dem Prinzip und wird immer, sobald die Zeitumstände es möglich machen, wieder da sein. Hinter der unfehlbaren und absoluten Fürstenmacht stehen die Hochverrätergalgen, hinter der unfehlbaren Kirche der Scheiterhaufen.
»Aber«, so fragte Padre Geronimo sich, »war es genug, wie heute die Dinge standen, wenn San Domenicos Söhne sich schürzten und ihre Fackeln schwangen über der großen Orgie, dem »platonischen Gastmahl« der Geister? Mußte nicht neben der Macht, die richtete und strafte, eine neue geschaffen werden, welche die Seelen auch innerlich unterjochte? So wie wider die große Abkehr der Geister in den Albigenserzeiten zwei Mächte zu Felde gezogen, Arnald, der Legat, und Simon von Montfort, der Heerführer? Konnte ein Orden, einer der älteren Orden dazu ausersehen werden diese Mission zu übernehmen? War einer, der im Stande, der Bildung mit gleicher Waffe, der Wissenschaft der Gelehrten mit gleich großen Kenntnissen entgegenzutreten? Nein, nein, es gab keinen. Wenn der Löwe des heiligen Dominikus auszog zum Streit, so mußte eine Schlange neben ihm sein, die ihm half, und diese Schlange war nicht da in der Arche der Hierarchie. Ein großer Zauberer mußte seinen Stab auf den Boden werfen und, wie die Magier des Pharao, daraus eine ganz neue, noch nie gesehene Schlange entstehen lassen.«
Padre Geronimo hing diesem Gedanken nach, der nach dreißig Jahren seine Erfüllung finden sollte, nicht durch die Initiative eines großen Zauberers, sondern durch die eines spanischen irrenden Ritters, der, mit der ergreifenden und tragischen Schwärmerei des Don Ouixote für die Donna von Toboso, sich in den Dienst der Donna Unfehlbarkeit begab, und dem die Welt es verdankt, wenn seitdem in den Geistessaaten der Menschheit, an den Fruchthalmen der Wissenschaft ein schädliches Insekt, ein schwarzer Getreide-Laufkäfer nagt.
Padre Geronimo erhob sich endlich; die Dämmerung war eingebrochen und man sah hellen Lichtschimmer aus einigen Fenstern der benachbarten Savellerburg dringen; auch ein leise herüberschwellender Chorgesang von Mönchen wurde von dort vernehmbar; er kam aus dem Gemache, in welchem die Leiche Livio Savelli's aufgestellt war.