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Viele Menschen drängten sich vor Olgas Haus, die breite weiße Straße war ganz schwarz überflutet von ihnen; die Wache ging umher, ordnete das Getümmel, und das Spalier glich einem gewundenen Korridor, zwischen dessen engen Wänden man schreiten mußte, um an das Tor zu gelangen. Der Professor fühlte sich beklommen, als er diesen Zusammenlauf erblickte. Das war die Öffentlichkeit, die er immer als eine Gefahr und als etwas Niederdrückendes empfand. Dieses dunkle Gewühl, dies dichte Beisammenstehn und Warten, dieses Schauen und Reden ringsumher, in all dem war etwas Angreifendes, etwas, das sich seiner geheimen Erlebnisse bemächtigte, sie durchsuchte und sie auf das Pflaster ausstreuen wollte. Da war jetzt ein Rauschen in der Straße wie von einem großen Ereignis, und der Professor fühlte, wie er darin hinrollte, winzig und ohnmächtig, und doch sichtbar und zur Schau gestellt. Er stieg die Treppen hinauf, seine Frau war neben ihm, Hermine und Anton folgten nach. Aber auch das Treppenhaus war von Menschen besetzt; junge Mädchen standen auf den Stufen, junge Männer gingen flüsternd auf und nieder, machten Platz, da der Professor vorbeikam, und grüßten. Ein blondes, kaum noch erwachsenes Mädchen stand oben auf dem Gang, blickte ihnen entgegen und flüsterte noch schnell mit ein paar anderen, die sich abseits hielten. Dann lief sie ihnen hastig in den Weg und reichte der Frau ein paar Blumen, atemlos vor Befangenheit, und ihr erschrockenes junges Gesicht war von plötzlichen Tränen überströmt.
Die Türe von Olgas Wohnung stand weit offen, und die Zimmer waren alle erfüllt von schwarzgekleideten Menschen. Wie der Professor eintrat, wichen sie vor ihm zurück, bildeten eine schmale Gasse, durch die er mußte; sie gingen einer hinter dem andern, so wenig Raum war vorhanden; der Professor zuerst, dann die Mutter, dann Hermine, und Anton zuletzt. Viele Hände streckten sich aus, griffen nach seiner Hand und schüttelten sie kurz und ließen sie wieder frei; viele Verbeugungen sah er und viele traurige Blicke.
Sie tauchten wieder in die schimmernde Dunkelheit des Totengemaches, sahen die funkelnden Kandelaber um den Sarg, der jetzt geschlossen war und wie ein prunkvolles silbernes Gebirge in der Finsternis sich erhob. Der schwere Duft von Blumen, Wachskerzen und Weihrauch, in sich selbst erstickend, umwallte sie wieder, und sie fühlten wieder durch die dicke Schichte dieses Duftes einen schmerzhaft weichen, peinigend öden Geruch hervordringen, der tief durch ihre Trauer drang und leise an ihr Entsetzen rührte.
Ein Herr mit einem glattrasierten, zerwühlten Schauspielergesicht stand plötzlich da: es war der Theaterdirektor, und er begrüßte den Professor wie einen alten Freund. »Ich bin tief bewegt«, sagte er flüsternd. Dabei schien es wirklich, als wolle er weinen. »Tief bewegt ...«, sagte er. »Gott gebe Ihnen die Kraft ... Gott gebe uns allen die Kraft ...« Der Professor blickte ihn an und wußte nicht, wer das sein könne. Jetzt sah er, daß einige Damen hier innen standen; lange Trauerschleier verhüllten ihre Gesichter, aber er hörte ihr halblautes Reden, und sie hatten verwöhnte, vornehme und melodische Stimmen; ihre Worte waren rein und schwingend im Vollklang. Noch andere Damen kamen herein, und er hörte sie weinen; ein singendes, zärtliches Weinen. Die eine von ihnen kam zur Mutter herbei und zog sie schluchzend an die Brust, und nun schluchzten die anderen alle mit. Dem Professor war es irgendwie, als sei hier noch eine andere Familie beisammen und trauere um Olga, eine Familie, die er nicht kannte, in der Olga fern von ihm gelebt hatte und die jetzt, wie ihm schien, vordringend sich der ganzen Trauer bemächtigte.
Da stand wieder der glattrasierte Mann bei ihm, hatte jetzt ein ganz geschäftiges, aufmerksames Gesicht und raunte ihm zu: »Darf ich bitten ... nämlich ... Seine Exzellenz der Herr Minister wünscht Ihnen seine Teilnahme auszudrücken ...« Ratlos blieb der Professor zurück, und der Glattrasierte kam wieder, zeigte mit der Hand nach ihm und sagte irgendwohin ins Dunkel hinein verbindlich und devot: »... das ist der Vater ... Herr Professor Frohgemuth ...« Ein großer Herr mit feinen weißen Koteletten beugte sich zu dem Professor nieder und reichte ihm sanft die Hand. Des Professors Blick verfing sich an dem Monokel, das spiegelnd von der Brust des großen alten Herrn niederbaumelte. »Nehmen Sie mein aufrichtigstes Beileid ...,« hörte er den alten Herrn mit einer stolzen Stimme sagen, »... ich bin tief erschüttert ... so jung ... und so plötzlich ... es ist wahrhaft tragisch ... ich habe ... nämlich auch persönlich habe ich Ihre Tochter aufrichtig verehrt ...« Der Professor schaute vor sich hin und wußte nicht, was er nun antworten mußte. Nun schob sich wieder das glattrasierte Gesicht vor, hatte einen Ausdruck, als überbringe es eine geheime Freudenbotschaft, und flüsterte: »Herr Professor ... ich bitte ... der Herr Bürgermeister ...« Der Professor sah das populäre Antlitz des Bürgermeisters vor sich, fühlte den festen Druck einer warmen Hand, fühlte sich zutraulich an der Schulter ergriffen und hörte, was der Bürgermeister zu ihm sprach: »Es ist ein schwerer Verlust ... für die ganze Kunst ... für unsere ganze Stadt ... ja, mein lieber Professor ... so was, wie Ihr Mädel war, das kommt nicht so bald wieder ... aber schauen Sie ... wir trauern alle mit Ihnen ... ganz Wien trauert mit Ihnen ...«
Der Professor bebte; er glaubte, ein höhnischer Traum ziehe hier in flimmernder Dunkelheit an ihm vorüber und phantastische Gestalten flüsterten ihm unbegreifliche Dinge zu. Sein Denken war wie ausgeräumt; alles, was er in Jahren geglaubt und empfunden, war fort, war hinweggenommen. Die Leute waren herangetreten und hatten Stück um Stück aus ihm hervorgeholt; irgendwo aber in einem Winkel dieser Leere lag sein Denken wie gebunden und wie geknebelt. Immer mehr Leute traten heran und reichten ihm die Hand und sprachen zu ihm.
Weihrauchwolken flogen jetzt in kurzen Stößen auf und lagen träg in dieser Luft, die so gefüllt war, daß sie nichts mehr aufnehmen konnte. Eine dünne Stimme tremolierte in feierlichen Worten, und der Professor sah den Priester in weißem Chorhemd am Sarge stehen. Dann folgte das Gewirr des Aufbruchs; die Mutter stützte sich schwer auf seinen Arm, vor ihm her war das Geschiebe und das murmelnde Reden der Männer, die mühsam und mit nach abwärts gestrafften Armen die Bahre hinaustrugen. Er ging die Treppe hinunter, eingehüllt in das Geräusch der scharrenden Füße, der flüsternden Reden und des flatternden Schluchzens, das da und dort, ober und unter ihm laut wurde.
In der freien Luft draußen hallte das Geläute der Glocken über ihnen, und in die Ecke des Wagens gedrückt, sah der Professor Menschen zu beiden Seiten des Weges die Straßen säumen. Gesichter und Gesichter, die zu einem schmalen hellen Streifen über einem breiteren dunkeln Streifen ineinanderflossen. Als sie an der Kirche hielten und das Glockenläuten dröhnend über sich hatten, sah der Professor den Pomp des Leichenzuges, sah die vier Blumenwagen, die über und über farbig beladen, mit wehenden Schleifen bis weit voraus in die nächste Straße hineinstanden.
Mit tiefem Brausen senkte sich der Orgelklang hernieder, während sie in die Kirche kamen, fegte um sie her wie schüttelnder Donner, und aus der dunkel schwingenden Klangfülle stieg plötzlich hell und rein der Gesang von Mädchenstimmen empor. Weihrauchwolken flogen auf und legten blaue Schleier in dem weiten steinernen Raum; Altarkerzen funkelten wie kleine Goldpunkte. Schweigen. Dann gesprochene Worte. Eintönig und vereinsamt schienen sie langsam zur Erde zu fallen und schlugen gläsern auf die Marmorfliesen. Nun brach die Orgel wieder aus, und ihr breites erzenes Rollen war überschwebt von lichten Geigentönen, durchwirbelt vom zärtlichen Donner der Pauken und überstrahlt von dem feierlich rufenden Gold der Posaunen. Aber aus dem melodischen Gewitter des Orchesters drang jetzt eine Männerstimme hervor wie Abendsonne aus Sturmwolken, breitete sich sanft und liebreich aus und redete zu allen mit einer Beredsamkeit, die höher schien als Worte.
Dem Professor war es, während die hellen Mädchenstimmen aufblühten, als ob hier andere Geschwister Olgas singen würden, andere Schwestern als Hermine, die hier stand und in ihr Taschentuch weinte. Jetzt, da diese weiche Männerstimme sich entfaltete und in ihrer Sanftheit mächtig wurde über alle Menschen, war ihm, als spräche ein anderer Vater Olgas, einer, der sie nicht verstoßen hatte und der jetzt Abschied von ihr nehmen durfte. Ihm schien, als sei er selbst jetzt erst atemlos herbeigelaufen und stehe nun da, ausgeschlossen und verspätet. Rings um sich hörte er ganz leise einen Namen flüstern, als die Männerstimme dort oben anfing. Er verstand ihn nicht. Er kam sich beiseitegesetzt und arm vor.
Dann war er wieder im Wagen und sah wieder die Menschen zu beiden Seiten der Straße; und draußen war der Döblinger Friedhof von einer ungeheuren Menschenmenge erfüllt. Sie standen zwischen den Gräberreihen, stiegen auf die Grabsteine und drängten sich in dichtem Spalier die Alleen entlang. Sie hoben die Arme zu der Bahre empor, die, über allen Häuptern schwankend, an ihnen vorüberzog. Frauenstimmen schrien klagend auf, rasches Weinen zerriß die Luft, und ein Murmeln von erregten Worten lief neben ihnen her. Rings um die offene Gruft stand ein Kreis von weißgekleideten Mädchen; die hielten Blumen in ihren Armen und streuten sie in die Tiefe, als die Erde den Sarg aufnahm.
Da stand der glattrasierte Mann mit einem Male erhöht über der Menge und begann mit lauter Stimme: »Olga Frohgemuth ...« Es wurde still, und der Professor empfand ein feindseliges Erschrecken, weil nun wieder ein Fremder zwischen ihn und all diese Geschehnisse trat und ihn hinderte, sich hinzugeben.
»Olga Frohgemuth ...,« wiederholte der Mann leise und in das Grab hineinschauend, »... die ganze Stadt ist herausgekommen und gibt dir das letzte Geleite zu deiner Ruhestätte ... alle sind sie hier versammelt, die Ruhm und Ansehen haben in Wissenschaft und Kunst oder Macht und hohen Rang im Leben ...« Der Mann redete weiter, mit einer zur Trauer verstellten Stimme, mit zudringlichen und gewöhnlichen Worten, aber in dem Professor klang es wieder und wieder: Alle sind sie hier versammelt ... Jetzt hörte er den Mann sagen: »An einem heiteren Frühlingstag senken wir dich in die Erde, du Unvergeßliche, die du selber ein heiterer Frühlingstag gewesen bist, ein gar zu kurzer, gar zu schnell in die Nacht enteilender ...«
Die Mutter sank mit einem wehen Seufzer in sich zusammen. Der Professor mußte sie stützen. Lautes Weinen brach überall aus, die Frauen schluchzten und riefen schluchzend: »Ja ... ja ...«, und die jungen weißen Mädchen hielten einander weinend umschlungen.
Die Stimme hob sich und schwoll in begeisterter Rührung und gefiel sich und tremolierte: »... dankbar werden wir dein Andenken ehren ... denn du bist ein Geschenk der Götter gewesen ... wie eine Griechin warst du, arglos und lieblich und nur dem Dienst der Schönheit geweiht, und so hast du unsere Stadt durchstrahlt und durchsonnt mit deiner heiteren Anmut und hast sie erfüllt mit dem Glanz deiner Schönheit ...«
Dem Professor war es, als habe ihn ein Stich getroffen. Er begann zu wanken und merkte es nicht, daß man ihn stützte. Er hörte nur, was der Mann dort sagte, und jedes Wort riß ihm eine Wunde.
»... Freude hast du gegeben, Olga Frohgemuth ... Freude und Licht und wieder Freude zu spenden, warst du herabgesendet ... und jetzt, da du so furchtbar schnell von uns scheiden mußt, jetzt gewahren wir, daß es ohne dich dunkler sein wird hier auf Erden ...«
Der Professor raffte sich auf und trat ein paar Schritte nach rückwärts. Die Leute ließen ihn vorbei, ohne ihn zu sehen. Er tauchte unter in dem Gedränge, hörte die Stimme des Redners hinter sich her verhallen, und ihm war, solange er sie hörte, als würde er von hier verwiesen. Aber dann achtete er nicht mehr darauf; er trug einen solchen Tumult in sich davon, daß er nur nach innen horchte, auf alle die Stimmen, die sich in ihm erhoben, durcheinanderschrien, riefen und klagten. Immer rascher ging er durch die Alleen des Friedhofs, an den vielen Gräbern vorbei, die wie lauter kleine, zierliche Blumenbeete in der Sonne prangten. Bei dem breiten Gittertor blieb er betroffen stehen. Da glitt am anderen Rand der Straße der Wiesenabhang sanft hinunter; in der Talsenkung zu seinen Füßen ruhten die weißen Dörfer eingebettet in blühendes Gefilde, und drüben schwollen die Weinhügel mild empor zum dunkeln Wald des Kahlenberges. Aufgefächert lagen die Berge vor ihm, behaglich hingebreitet, daß er alle Kuppen sah bis zum Dreimarkstein. Und aus dieser sonnbestrahlten Landschaft schimmerte ihm vom blauen Himmel her, vom tiefen Grün der Wälder, von den hellen Wiesen und von dem weißen Aufblinken der umbuschten kleinen Häuser ein Lächeln entgegen, das er zu erkennen glaubte. Einst hatte er dieses Lächeln auf einem sanften Kindergesicht gesehen; nun war dies Kinderantlitz erloschen und in der Erde vergraben; das Lächeln aber schwebte hier über dem Gelände, aufgelöst und lebendig und wie zurückgekehrt zu seinem ewigen Ursprung. Er legte die Hand vor die Augen, wandte sich ab und schritt gegen die Türkenschanze zu. Er wagte es nicht, dieser Landschaft ins Gesicht zu schauen.
Sie war hergesendet, um Freude zu verbreiten, dachte er, und ich bin der einzige gewesen, der sich nicht an ihr freute, der sie verwarf und ein Ärgernis an ihr nahm. Er ging weiter und weiter und wiederholte sich immer dasselbe. Oben bei den Häusern, die um die Sternwarte stehen, schaute er zur Stadt herunter, die fern und von blinkendem Dunst umwölkt sich hinbreitete. Dort unten haben alle sie gekannt, dachte er, und alle haben sie verstanden; ... und bei mir ist sie aufgewachsen, mein Kind ist sie gewesen ... alle ihre Tage habe ich sie um mich gehabt, habe ihre Stimme gehört, in ihre Augen gesehen, und habe sie nicht verstanden ... nicht verstanden ...
Eine Griechin! Er rief es laut, er schrie es sich zu, er stieß sich das Wort vor die Stirne, und er brach in seinem Innern davor zusammen. Hatte er darum zu kleinen Jungen in der Schule gesprochen, hatte ihnen von Griechenland und vom Kultus der Schönheit leere, papierene Dinge erzählt ...? Hart fiel es ihm ein; die Erinnerung daran peitschte auf ihn los ... hatte er von all dem Wunderbaren wie ein Wichtigtuer gesprochen, und nun mußte ein fremder Mensch mit einer fremden Stimme ihm enthüllen, was Olga gewesen, mußte es an ihrem Grabe ihm erklären, daß sie ein Geschenk der Götter war ...
Was hatte er mit dem Geschenk der Götter angefangen? Befleckt ward es durch seine Gedanken, beleidigt und mißhandelt von seinem Zorn. Mit einem Male sah er Adalbert Klingers blasse Züge vor sich und erschrak so sehr, daß er zur Seite wich, als träte ihm der Knabe hier entgegen. Der hatte sie geliebt in seinem jungen Herzen, der hatte sie in seinem edlen kindlichen Geist begriffen und genossen. Er hatte ihr Bild bei sich getragen und jeder Gefahr getrotzt, um Olgas Angesicht betrachten zu können. Der Professor erinnerte sich, wie er jenes Bild aus Klingers Händen gerissen, er erinnerte sich, wie er eng an Klingers bebenden Leib sich gedrängt, wie er ihn überfallen hatte, und ihm war, als höre er jetzt wieder das Herz des Knaben pochen. Dieses Herz war nun still für immer, war mitten durchgeschossen, weil es nicht mehr leben wollte, als Olga gestorben war. Der Professor sah Klingers bleiche, geschlagene Wange, er sah die brennenden Augen auf sich gerichtet. Dieses feine, schmerzgeadelte Kinderantlitz hatte er in seiner blinden Wut geschändet, und der Knabe hatte es stumm erduldet, um Olgas willen.
Eine heiße Liebe zu Adalbert Klinger brach in ihm hervor, so wild und ungestüm, als habe sie lange schon gegen die Fessel, die ihr auferlegt war, gerungen. Ganz wund und blutig vor Sehnsucht war diese Liebe, schrie auf nach dem Knaben, griff mit tastenden Händen nach ihm in die leere Luft und wurde rasend an der beständigen Antwort, die vom Bewußtsein herkam: Zu spät. Auch das war versäumt, war nicht erkannt, war mißverstanden worden.
Was hatte er überhaupt verstanden? Nie hatte er sich herabgebeugt über die offenen Seelen der Kinder, die vor ihm aufblühten, wie man sich über Blumen beugen soll, die man pflegt. Nie hatte er des wunderbaren Duftes geachtet, den sie atmeten; hatte niemals wachsen lassen und sich entfalten, was aufwuchs. Er hatte immer nur seinen eigenen Willen zu sehen verlangt, wie er sich in den anderen bewegte, hatte nur den Gehorsam für sein eigenes Gebot von der Jugend gefordert und war fremd vor ihr gewesen, streng und kalt.
Aus der Gartenstille des Währinger Cottages kam er heraus in die lärmenden Straßen der Vorstadt und schritt hastig dahin im Gewühle der Menschen, als suche er jemanden, blieb stehen und schaute hinter sich, als erwarte er, jemand komme ihm nachgelaufen, hole ihn ein, und alle Not werde damit ein Ende haben. Dann wieder schlich er achtlos und wie verloren, zögernden Schrittes, als sei es ohnehin vergeblich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. War er nicht gestern noch vermessen genug gewesen, zu glauben, Olga sei vom Geschick ereilt worden, weil sie sich ihrem Vater widersetzt hatte? Nun sah er, der Himmel hatte sein Geschenk zurückgenommen, weil es an einen Unwürdigen verschwendet war. Ihn selbst hatte eine Strafe getroffen, ihn und keinen andern.
Stundenlang war er umhergegangen, hatte den Heimweg gefunden, ohne es zu wissen, war gleichsam einem inneren Gesetze folgend durch alle die Menschenbäche bis hieher gesickert und erkannte nun die Straße, die zu seiner Wohnung führte. Mit Schrecken dachte er jetzt an seine Frau, dachte an Hermine und Anton. Was hatte er ihnen angetan! Still und geduldig mußten sie es hinnehmen, daß er sie mißhandelte, daß er zwischen ihnen und Olga stand und ihrer Sehnsucht alle Türen verrammelte. Sie hatten mehr gelitten als er, denn kein Groll war in ihnen gewesen, in den sie sich hätten flüchten können, wenn ihr Verlangen nach Olga rief, kein beleidigtes Rechthaben war bei ihnen, darin sie unterkriechen und ihre Gedanken an Olga verbergen konnten. Ihr einfaches Denken hing rein und treu an der Verstoßenen; ihr unbeirrtes schlichtes Empfinden begehrte zärtlich nach der Tochter, nach der Schwester, und er hatte sie alle beraubt, hatte sie um ein Glück gebracht, das nie wiederkam. Schuldig und elend stand er vor ihnen da, schuldig und elend vor Olga, die nun draußen auf dem Friedhof ruhte, vor Adalbert Klinger, den sie nun begraben würden, vor all der Jugend, die er ohne Güte hatte beherrschen wollen.
Seine Schritte wurden langsamer, und er fühlte, daß er niemandem mehr unter die Augen treten durfte. Da war nur noch ein Rest, der ihm jetzt blieb: umkehren und hinuntergehen durch alle die bekannten und durch alle die fremden Straßen zur Donau hin, und mit einem Schwung über die Brücke. Dann war alles vorüber, und dies verspielte Leben hatte ein Ziel. Seine Schritte wurden langsamer. An den Tod dachte er ohne Scheu und ohne jedes Grauen; nur daß er jetzt umwenden sollte, eine andere Richtung nehmen, fiel ihm nicht ein. Der Vorsatz schwebte kraftlos in ihm, hatte keine Gewalt und trieb ihn nicht. Nichts in ihm hatte jetzt Bewegung und Kraft mehr; er sah auf diesen Plan mit einem undeutlichen, abirrenden Denken, verweilte mit dämmerndem Grübeln bei leblosen Worten, die vor ihm auftauchten, und der Schwung über das Brückengeländer erschien ihm irgendwie als ein Hindernis. Unaufhaltsam ging er dabei weiter, immer näher seiner Wohnung zu. Seine Knie vermochten sich nicht mehr zu straffen; ein unterwürfiges Nachgeben war in seinem Körper, ein wehleidiges Wissen, daß seine Schultern nichts mehr tragen konnten, und ein schmerzhaftes Verlangen, in einem gewohnten Stuhl zu sitzen und den Rücken anzulehnen.
Er fühlte, daß er ein alter Mann sei, und trat ins Haus.