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Sechstes Kapitel

Es war ein himmelblauer Vormittag. Olga stand auf ihrem Balkon und schaute umher. Drunten lag die Straße wie ein weißer Streifen, lag der Rathauspark hingebreitet, wie ein grünes Stück Teppich mit üppigen Kissen darauf. Jenseits dieser Bäume und Bänke schimmerte der blanke Marmorbau des Burgtheaters, schimmerten die Paläste der Ringstraße. Alles funkelte und leuchtete in der Sonne und sah freudig aus.

Die Uhr am Rathausturm rückte vor. In zehn Minuten elf. In zehn Minuten mußte Emanuel Ferdinand kommen. Olga wartete jetzt darauf, den wohlbekannten Fiaker mit dem hochgestellten Wagendach vom Ring her in die helle Straße zu ihren Füßen einbiegen zu sehen. Was für ein schöner Tag fing dann wieder für sie an. Eine Stunde konnten sie da auf dem Balkon beisammensitzen; dann miteinander in dem dunklen Eßzimmer zu Mittag speisen. Nachher wollten sie zum Wettrennen fahren, Olga in ihrer Equipage, der Prinz in seinem Kutschierwagen. Abends mußte sie Theater spielen; zuletzt aber war er wiederum bei ihr. Wie ein reich gestickter Teppich lag dieser Tag hingebreitet vor ihr, und sie war im Begriffe, den Fuß daraufzusetzen.

Fünf Minuten vor elf. Olgas Herz begann laut zu pochen. Sie genoß dieses Herzklopfen und seine drängende Bangigkeit jedesmal wie eine kleine schmerzliche Wonne. Sie liebte es als einen Vorboten der Freude. Die Uhr wies auf elf, und Olga sagte lächelnd vor sich hin: »Herein!« Aber die Straße unten blieb leer. Als die Turmglocke die Stunde ausgeschlagen hatte und der Fiaker mit dem hochgestellten Dach noch immer nicht erschien, wußte Olga, daß Emanuel Ferdinand nicht kommen werde.

Sie staunte, daß dieser reiche Tag ihr zulächle und sie dennoch unbeschenkt ließ. Eine flüchtige Unruhe ergriff sie. Sie sagte sich: Emanuel Ferdinand kommt nicht! Aber ihr Warten wollte nichts davon wissen. Ihr Warten wurde eigensinnig und erstarrte. Eine Stunde lang blieb sie auf dem Balkon stehen, alles verschwamm in ihren Augen, sie sah überhaupt nur webende Schleier grellen Sonnenlichtes, aber sie blieb, über die Brüstung geneigt. Sie war guten Mutes dabei. Es gab so viele nichtige Dinge, die den Prinzen aufhalten konnten. Dennoch war plötzlich der Keim einer Ahnung in ihr, als kämen Schmerz und Kummer langsam heran. Es war ein winziger Keim, ein Pünktchen, gar nicht wahrnehmbar in ihrem Bewußtsein, trotzdem ging ein feiner Schauer davon aus, und ihr Wesen war auf einmal von einem Angsthauch wie von einem Reif überzogen.

Sie aß allein, zerstreut und schon stärker gequält. Das Gefühl, es sei etwas Schlimmes vorgefallen, ergriff sie heftiger; eine unbestimmte, gestaltlose Schuld baute sich in ihr auf, drohender und düsterer, je mehr ihre Sicherheit dahinschwand. Sie wußte, daß sie den Prinzen beim Wettrennen finden würde; allein sie zögerte und hatte Furcht, dahin zu fahren. Zuletzt aber stieg sie dennoch in den Wagen und mahnte den Kutscher zur Eile.

Eben war ein Rennen vorbei, als Olga den Platz vor den Tribünen betrat. Ihr erster Blick galt der großen Prinzenloge. Emanuel Ferdinand war nicht da. Vor dem Häuschen, in das die Jockeis jetzt die Pferde zur Wage brachten, erblickte sie ihn. Er stand in dem kleinen abgesperrten Raum, von einer Gruppe junger Kavaliere umringt. Olga stellte sich zu den Leuten, die das niedrige Gitter umdrängten, und schaute ihn an. Es war ihr völlig neu und überraschend, ihn unter Fremden wie einen Fremden zu sehen.

Er hatte sie erblickt, aber er drehte den Kopf und tat so, als habe er sie nicht bemerkt. Erschrocken starrte sie zu ihm hinüber. Dreimal glitten seine Augen an ihr vorbei, dann entschloß er sich endlich, sie zu grüßen, streifte sie mit flüchtigem Blick und salutierte mit befangener Gebärde. Da ein neues Rennen eingeläutet wurde, verließ Emanuel Ferdinand den abgesperrten Raum vor der Wage. Mit seinem Adjutanten und einem kleinen Gefolge von Herren schritt er heraus. Die Leute sahen Olga an und wichen im Kreis zurück. Alle, die hier waren, kannten die Verbindung zwischen Olga Frohgemuth und dem Prinzen. So wurden die beiden jetzt von der wissenden Bereitwilligkeit der Gesellschaft eingeschlossen und allein gelassen, wurden einander dargereicht, ohne es gewollt zu haben. Emanuel Ferdinand sah, daß er Olga, die inmitten des kleinen Zuschauerrundes wie verlassen stehengeblieben war, nicht vermeiden konnte. Ein Schatten von Verlegenheit zog über sein Gesicht. Er kam näher, hob mit lässiger Freundlichkeit die Hand an den Schirm seiner Mütze und redete Olga an, leutselig und fern. »Ein interessantes Meeting ...«

Olga fragte ihn mit den Augen: Warum bist du nicht gekommen? Ihre Blicke fragten: Warum? stehend und drängend und so laut, daß ihm war, alle müßten es hören.

»... wirklich sehr interessant ... sehr ...«, sprach er weiter.

Sie gewahrte nichts in seinem ruhigen, verhängten Gesicht, keine Antwort, keinen Gruß, kein Zeichen in seiner gefaßten und beherrschten Haltung. Nur ein ganz feiner Zug von Kränkung und Verletztheit war um seinen Mund. Sie erspähte ihn und wurde dunkelrot.

»Jetzt kommt die Steeplechase ...«, sagte Emanuel Ferdinand über sie hinweg, legte wieder die Hand an die Kappe, mit kühler Herablassung, und ging vorüber.

Olga blieb zurück mit einem Gefühl der Vernichtung und der Hilflosigkeit, wie sie manches Mal als Kind zurückgeblieben war, wenn der kleine Prinz nach beendigtem Besuch und Spiel sich abgewendet hatte, um davonzugehen. Dann hatte sie die verschlossene und gleichgültige Miene, mit der er zur Tür hinausschritt, immer voll Bestürzung zurückgelassen.

Auf der breiten Terrasse der Prinzenloge erschien jetzt Emanuel Ferdinand, stand unerreichbar und entrückt dort oben und von dem unzerstörbaren Glanz seiner mühelosen geborgenen Existenz umgeben; und Olga löschte hier aus in der Menge.

Sie fuhr ohne Ziel im Prater und in der Stadt herum. Abends schleuderte sie sich dann in ihre Rolle, wie in eine willkommene Zerstreuung, entfachte den Beifall im Theater, um sich daran zu wärmen, entzündete Flammen von Begeisterung, um sich an diesem Aufbrausen zu betäuben. Von Minute zu Minute aber spähte sie in die teppichüberhangene Loge hinauf. Sie war leer.

Olga nahm ihre Ankleidefrau mit nach Hause. Es war ihr unmöglich, still und allein im Zimmer dazusitzen und zu leiden. Sie konnte nicht stundenlang Sehnsucht empfinden, Angst ausstehen und sich grämen. Sie zerbrach daran. Den ganzen Abend hatte der Wunsch in ihr gewühlt, die Mutter möge kommen. Allein die Mutter kam nicht. Einen Augenblick faßte Olga den Gedanken, nach der Mutter zu schicken, aber sie wußte, daß der Vater ihren Boten davonjagen werde. War der Vater nicht daheim, dann wagte die Mutter dennoch nicht, so spät zu Olga zu gehen. Sie getraute sich ja niemals länger als bis nach dem ersten Akt zu bleiben, wenn sie die Tochter in der Garderobe besuchte, aus Furcht, der Vater könne die geheimen Zusammenkünfte entdecken. Einen Augenblick hatte Olga noch einen anderen Gedanken. Sollte sie selbst, wenn die Vorstellung zu Ende war, in die Hechtengasse hinausfahren, in das alte düstere Haus, und wiederum wie vor drei Jahren an jene Tür pochen? Um Einlaß betteln, Verzeihung erflehen, einfach mitten in die Gefahr sich begeben, alles herausfordern, den Schmerz und Sturm über sich hinfegen lassen? Vielleicht aber würde der Vater sie heute dulden; vielleicht würde sein strenges Antlitz sich still über sie neigen, und sie würde weinen dürfen, mit dem Gesicht auf seinen Knien.

Daran zu denken aber war nur ein neues Leid zu ihren jetzigen Leiden. Gestern hätte sie noch den Mut gehabt. Ihr Glück, ihr Erfolg und ihre Liebe hätten ihr Kraft gegeben, auf den Zorn des Vaters einzudringen, ihn vielleicht zu überwältigen. Heute jedoch fühlte sie sich schwach und schuldig, fühlte sich weggeworfen und nichtig, und war zu wund, um eine unsanfte Berührung auszuhalten.

So nahm sie die Ankleidefrau mit nach Hause, ließ sie bei sich am Tisch sitzen und essen, forderte sie auf, ihr den Theaterklatsch zu erzählen, beredete selbst mit atemlosem Interesse alle Kollegen und Kolleginnen, holte Erinnerungen hervor an Premierenerfolge, an komische Unfälle und Begebenheiten, an Zank und Zwist auf den Proben und an Intrigen von Nebenbuhlerinnen. Dann spielte sie Karten mit der alten Frau, warf nach einer Stunde das Spiel wieder zusammen und holte das Domino hervor, sank endlich ermattet ins Bett und ließ die Alte bei sich sitzen. Die mußte von ihrer Glanzzeit erzählen, in der sie Choristin gewesen und mit den vornehmen Herren soupieren gegangen war, von ihrem verstorbenen Manne und von allem Unglück, das sie getroffen hatte, bis Olga zuletzt fest einschlief wie ein müdes Kind.

Den anderen Morgen saß sie im Hemd an ihrem Toilettetisch und schrieb an Emanuel Ferdinand. Der Brief war wirr, kaum verständlich, abgerissen, und die Worte drehten sich in beständigen Wiederholungen taumelnd um sich selbst. Aber Olgas ganze Sehnsucht, Angst und Unrast pulsierten in diesen Zeilen. Die Ankleidefrau, die den Brief hatte besorgen sollen, brachte ihn wieder zurück. Der Prinz war gestern abends zur Jagd nach Steiermark gereist.

Emanuel Ferdinand befand sich auf der Flucht. Er hatte Schmerzliches erlebt und war darüber in eine hilflose Verwirrung geraten. Im Jockeiklub, wo er nachts auf dem Heimweg von Olga noch eine Tasse Tee trank, hatte sich der Graf Dittersberg zu ihm gesetzt, ein alter, halb schon schwachsinniger Mann, und hatte ein Gespräch über Olga mit ihm begonnen. Der Greis war ganz harmlos begeistert von ihr, hatte sie in allen ihren Rollen gesehen und wußte das Datum anzugeben, an welchem ihr dieser oder jener Erfolg beschieden gewesen war.

»Sie interessieren sich wohl sehr für Fräulein Frohgemuth?« hatte der Prinz gefragt, nur um überhaupt etwas zu sagen, denn es genierte ihn, daß jemand so geradezu von Olga mit ihm sprach. Da war der alte Herr übergelaufen, wollte dem Prinzen beweisen, wie genau er in Olga Frohgemuths Biographie Bescheid wisse, und hatte alle Liebhaber Olgas aufgezählt, alle Geschichten, die von ihr im Umlauf waren, ihre ganze Vergangenheit, von der niemals ein Mensch zu dem Prinzen geredet hatte, und die ihm selbst nur undeutlich, nur in einem hellen Schein von Kunst und Erfolg vorgeschwebt war. Emanuel Ferdinand saß dabei, mit geschnürtem Atem, nahm ein starres Lächeln an und verbarg dahinter seine steigende Beschämtheit und war verwundert darüber, wie weh das alles tat, was er zu hören bekam.

Daheim in seinem Zimmer war er so erschöpft, daß er sogleich in einen tiefen Schlaf verfiel. Als er den anderen Morgen erwachte, saß ihm ein nagender Kummer in der Brust, an dessen Ursache er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Er wollte an Olga denken, und da bemerkte er, daß ihr Bild in seinem Innern zerstört sei. Nun fiel ihm alles wieder ein und durchwühlte ihn mit neuer Qual. Er entdeckte, daß es ihm unmöglich sei, jetzt zu Olga zu gehen. Seinen Gram hätte er nicht verbergen können, und mit ihr davon zu sprechen, war er noch weniger imstande. Ihm war etwas Kostbares vernichtet worden: dieses kleine Mädchen, mit dem er in fernen Kinderzeiten gespielt hatte, die behütete Tochter seines Lehrers, an die zu denken er in seinen aufwachenden Jünglingsjahren für vermessen hielt, und die dann in seinen Armen lag, als hätte sie auf ihn gewartet. Wie viele fremde Hände griffen jetzt in diese zarte Empfindung und zerrissen sie, wie viele fremde Gesichter drängten sich dazwischen, und wie viele Stimmen von einem fremden und verhaßten Klang wurden nun laut.

Er wollte sich erst beschwichtigen, wollte erst alles allein auskämpfen, ehe er wieder zu Olga ging. Als er sie aber beim Rennen plötzlich sah, ergriff ihn, während er mit ihr sprach, eine solche Pein, daß er nur mühsam an sich hielt. Aus den Wurzeln seiner Mannheit stieg ein qualvoller Zorn in ihm auf. Er war nach ihrer Begegnung in die Prinzenloge gegangen, um allein zu sein; aber seine Phantasie war nun erwacht, begann zu fiebern, tauchte in Olgas Leben unter und folterte ihn mit all den Bildern, die sie daraus hervorholte. Zu Hause befahl er seine Abreise und fuhr mit dem Abendzug nach Steiermark in sein einsames Jagdhaus, nur um sich in Sicherheit zu bringen, um sich an einen entlegenen Ort zu bannen, wo er davor bewahrt blieb, etwas Unbedachtes zu tun. Vielleicht würde er sich mit allem, was er nun wußte, abfinden; vielleicht diese Liebe überhaupt in sich ersticken, Urlaub verlangen und, irgendwo im Ausland umherschlendernd, Olga zu vergessen suchen. Vielleicht würde er auch zu Olga zurückkehren, sich mit ihr aussprechen und ihr verzeihen. Er wußte noch nicht, was geschehen würde, er war verstört und wollte erst mit sich selbst in Ordnung kommen. Olga mußte so lange warten.

Aber Olga konnte nicht warten. Als der Vater sich von ihr abwendete, hatte sie das Theater, hatte den einwiegenden Trost der hellen, von Beifall durchrauschten Abende, hatte einen lockenden Weg vor sich, war von einer wunderbaren Erwartung entfacht und gestärkt. Nun war all ihr Erwarten in Emanuel Ferdinand erfüllt. Jenseits davon gab es keinen Trost, gab keinen Weg und kein Erwarten mehr. Nun war sie zum zweitenmal verstoßen, aber nun besaß sie nicht mehr die Kraft, es zu ertragen. Zum zweitenmal sollte sie ihr Leben allein anfassen und vorwärtstragen, aber jetzt hatte es einen Sprung, es zerbrach wie Glas und sie hielt nur noch die Scherben davon in ihren mutlosen Händen.

Wie in einem wüsten Traum irrte sie durch den Tag. Sie schickte nach Eugen. Plötzlich erinnerte sie sich seines blassen, gramentstellten Gesichtes, das in jener Stunde wie in Luft zerflossen und verschwunden war, als sie davonfuhr, um den Prinzen zu treffen. Vor wenigen Wochen erst war das gewesen. Mit einer Ungeduld, die völlig im Zwecklosen umherflatterte, erwartete sie jetzt, Eugen zu sprechen. Als er aber kam, verbot sie, ihn einzulassen. Er stand zitternd im Vorzimmer und erhielt den Bescheid, abends, nach dem Theater, wolle sie mit ihm beisammen sein. Dann wurde er noch auf der Treppe zurückgerufen und das Stubenmädchen sagte ihm, er müsse aber noch andere Leute einladen. Er fragte: wen?, mußte wieder warten und hörte dann eine ganze Menge Namen, Schauspieler, Sängerinnen, Offiziere, und auch der Saal bei Sacher wurde ihm bezeichnet, wo die Gesellschaft sich versammeln solle.

Olga fürchtete sich davor, den Abend wieder allein zu sein. Eigentlich verging ihr der Tag nur in der Angst vor den leeren Abendstunden. Jetzt, da sie sich davor bewahrt hatte, einsam zu Hause zu sitzen, die Nacht langsam vor sich hindunkeln zu sehen und in die Finsternis zu weinen, wurde sie ein wenig ruhiger. Sie fuhr ins Theater mit der jählings ausbrechenden Hoffnung, dort werde sie einen Brief von Emanuel Ferdinand finden, eine Depesche werde da sein, irgend eine Botschaft von ihm. Sie spielte ihre Rolle in der beständigen Aufregung, es müsse eine Nachricht kommen. Dann wollte sie nach Hause, wollte die Gesellschaft bei Sacher sitzen lassen und ausruhen. Sooft sie von der Szene abging und die gemalte Tür aufstieß, dachte sie daran, daß jetzt der Brief da sein müsse. Sie ließ den Beifall verbrausen, rannte in ihre Garderobe, um nachzuschauen.

Als dann die Vorstellung zu Ende war, überschrie sie ihr enttäuschtes Hoffen mit einer erzwungenen Munterkeit, suchte lachend und singend ein prächtiges Ballkleid aus ihren Schränken, ließ sich frisieren und anziehen und fuhr zum Souper. Ungestüm trat sie in den Saal, und der lärmende Zuruf, mit dem sie empfangen wurde, tat ihr wohl. Sie saß neben Eugen an der langen Tafel; ihr gegenüber ein junger Leutnant, den sie nicht kannte, und der sie beständig mit aufgerissenen Augen anschaute, wie eine Erscheinung. Olga bemächtigte sich des Gespräches, lachte und erhitzte sich, trank wie eine Verdurstete eisigen Champagner und sang laut alle ihre berühmten Lieder.

Eugen wagte es nicht, sie anzurühren. Alle lasen es ihm vom Gesicht, wie er litt und wie er hoffte: nur Olga kümmerte sich nicht um ihn. Er rief sie manchmal ganz leise und ganz nahe an ihrem Ohr beim Namen. Sie hörte seinen tiefen Kummer, hörte seine Verzweiflung aus dem Klang seiner Stimme und lachte jedesmal bitter auf. Ihr war, als ob sie sich selber höre, als vernehme sie ihren eigenen Gram, der sie da anredete: Olga! Zugleich aber empfand sie es mit Lust, daß auch ein anderer leiden müsse, und daß sie sehen konnte, wie auch ein anderer unglücklich sei. Es schien ihr, sie würde damit eine Art Vergeltung üben, könne sich damit irgendwie zur Wehr setzen.

Sie sprang auf und verlangte, der Tisch solle weggeräumt werden, damit man tanzen könne. Als Eugen mit ihr einen Walzer begann, riß sie sich nach wenigen Schritten von ihm los. »Nein,« rief sie, »mit dir – nicht.« Es war ihr unerträglich, daß er seinen Arm um sie schlang und daß sein Atem ihre Wange streifte. Sie gewahrte den Leutnant, der sie immer noch bewundernd anstarrte, und winkte ihn heran. Er kam ganz verstört vor Befangenheit. Ehe er sie um die Mitte nahm, stammelte er: »Mein gnädiges Fräulein ... es ist mir ... was für eine Ehre für mich ... eine so große Künstlerin ...« Sie schaute ihm kurz und eindringlich in die jungen Augen, lehnte sich dann mit einem Ruck an seine Schultern und sagte schroff: »Tanzen wir.« Als er sie behutsam zu drehen begann, preßte sie seine Hand und befahl: »Rascher!« Dann riß sie ihn mit sich fort, bis er schwindlig wurde und taumelte. Sie ließ ihn stehen und sank einem andern an die Brust und als dieser erschöpft war, stand wieder der Leutnant vor ihr. Während sie mit ihm tanzte, sprach er auf einmal unbefangen und herzlich: »Es tut mir leid, daß Sie unglücklich sind.« Getroffen hielt Olga inne und fragte schüchtern: »Wer hat Ihnen das gesagt?« Er blickte sie an und antwortete: »Niemand. Ich sehe es.«

Sie lachte laut auf, schwenkte sich im Kreise und rief überlaut, als wollte sie eine Rede halten: »Kinder, ich fahre nach Hause! ... Kinder ... ich habe genug!« Sie wiederholte: »Ich habe genug, ich habe genug ...« Sie war erhitzt, ihre Wangen brannten und ihr Atem keuchte. Ein unaufhörliches lärmendes Lachen hatte sie ergriffen und zerriß ihre Worte. Alle sahen jetzt, daß sie außer sich geraten war.

»Meinen Mantel ...«, rief sie. »Rittersmann oder Knapp' ... meinen Mantel!« Sie wußte nicht, wie ihr das eingefallen war, und lachte auf. Eugen hängte ihr den Mantel um. Sie merkte, daß er seinen Hut in der Hand hielt. »Nein,« schrie sie kreischend vor Lustigkeit, »du begleitest mich nicht! ... Niemand begleitet mich ... Rittersmann oder Knapp' ... niemand! Ich habe genug! Ich habe genug!«

Plötzlich trat sie vor, sah mit ihrer verdutzten Miene und mit irrenden Augen umher, verbeugte sich und begann in ruhigem Ton: »Ich bin eine Verstoßene. Ich muß es freiwillig eingestehen, ich bin eine Verstoßene. Das ist die Wahrheit. Mein Vater hat mich verstoßen, meine Mutter hat mich verstoßen, ... mein Geliebter hat mich verstoßen ... Jetzt muß ich gehen, ... erst muß ich weinen, dann muß ich mich daran gewöhnen ... Ich habe die Ehre.« Sie verbeugte sich und schlüpfte hinaus.

Eugen, ein paar von den Damen und ein paar Herren liefen ihr erschrocken nach. Aber sie wehrte ab. Als sei sie nun wieder ganz zur Besinnung gekommen, sagte sie: »Was wollt ihr denn? Mir ist doch nichts.« Und alle waren überrascht, wie gelassen und beinahe hochmütig ihre Stimme nun auf einmal klang. Dann gab sie Eugen verbindlich die Hand und lächelte ihn an: »Ich danke dir ... es war sehr lieb von dir.«

Alle begleiteten sie an den Wagen. Sie winkte ihnen zu und fuhr davon. Bei der Opernecke aber rief sie zum Kutscher hinauf: »In den Prater ... und schnell fahren!« Der Kutscher wandte sich zu ihr und sagte bedenklich: »... aber Fräul'n ... mir scheint, es kommt ein Wetter ...«

Sie erwiderte kurz: »Das macht nichts.«


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