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In diesen Tagen ereignete sich während der Unterrichtsstunde des Professors Frohgemuth der Vorfall mit Adalbert Klinger. Unnahbar und streng saß der Professor an seinem Pult, schaute aus halbgeschlossenen Augen über die Reihen der Knaben hin und hielt seinen Vortrag. Die jungen Menschen da vor ihm saßen still, ohne sich zu rühren, wie gebannt von der abweisenden Kälte des Professors. Er beobachtete sie, während er sprach. Alle sahen ihn an, zeigten ihm, daß sie aufmerksam sein wollten, aber er wußte, daß sie nur Angst vor ihm empfanden, Angst und Abneigung, daß sie auf das, was er sagte, gar nicht hörten, und daß seine Worte ins Leere fielen. Das füllte ihn wieder wie stets mit einer langsam aufsteigenden Erbitterung. Mehr und mehr reizte ihn der Widerstand, den er aus allen Knaben herausfühlte. Von Jahr zu Jahr hatte sich das gesteigert, und je länger er diese Klasse führte, je deutlicher merkte er, wie die Heranwachsenden sich gegen ihn auflehnten. Nun saßen sie einander gegenüber, er und die Klasse, wie zwei Gegner, die sich belauern. Der Professor wußte, daß er sie mit seiner Härte noch bändigen könne, wenn er sich nicht hinreißen ließe. Sie warteten alle darauf, er möge sich einmal vergessen. Dann würden sie das Joch des Gehorsams und der Furcht, das er sie tragen ließ, ungestüm abschleudern.
Während er sprach, vermißte er plötzlich ein Gesicht unter den anderen. Er suchte mit den Augen die Bänke ab, um festzustellen, wer sich ihm entzog! Richtig! Das war Adalbert Klinger, der hielt den Kopf tief herabgesetzt, daß man nur seinen dunklen Scheitel sah. Der Professor ließ sich nichts merken und redete weiter. War es möglich, fragte er bei sich, daß Adalbert Klinger dort unter der Bank einen Roman versteckt hielte, um darin zu lesen? Klinger schaute jetzt wieder auf, mit geröteten Wangen und glänzenden Augen, und stellte sich, als lausche er gespannt wie die anderen dem Vortrag.
Der Professor wandte sich weg, und tat, als habe er nichts gesehen. Es ist richtig, dachte er, der Junge liest und ist ganz eingenommen von seiner Lektüre. Der Professor Frohgemuth freute sich und staunte. Er freute sich, weil er Adalbert Klinger noch weniger leiden mochte als die anderen. Klinger war elegant und von ruhiger Sicherheit. Das mißfiel ihm. Dem Professor kam jetzt der Einfall, daß Klinger in seinem Wesen an den Prinzen Emanuel Ferdinand erinnere, und sein Haß entzündete sich sofort an diesem Vergleich. Niemals hatte er Klinger leiden können. Der wußte alles, was er gefragt wurde, hatte sich niemals störrisch gezeigt, schlug aber auch nicht die Augen nieder, wenn er vor dem Professor stand. Jetzt war an diesem Knaben eine Spur von erwachender Männlichkeit wahrzunehmen; er reifte sichtlich, und sein ruhiger Stolz wurde fester und sichtbarer. Eben deshalb aber staunte der Professor. Denn wie kam es, daß Adalbert Klinger nun heimlich unter der Bank einen Roman las?
Da war er ja schon wieder in sein verborgenes Buch vertieft; hatte das Gesicht ganz herabgeneigt und schien nicht zu hören, was um ihn herum vorging.
Der Professor stand auf. Klinger ertappen, so daß es kein Leugnen gab; darauf war nun sein ganzes Bemühen gerichtet. Ihm das Buch aus der Hand reißen, oder was er sonst dort unter der Bank versteckt hielt. Der Professor stieg vom Katheder herab, trat ans Fenster, immerfort sprechend, und blickte hinaus. Klinger rührte sich nicht. Vom Fenster waren es nur drei oder vier Schritte bis zu Klingers Platz.
Jetzt Vorsicht! Professor Frohgemuth redete langsam, eintönig weiter, langsam drehte er sich um, und gewahrte zu seiner Freude, daß Klinger noch immer tief über seine Heimlichkeit gebückt dasitze. Langsam, nur die Sohlen schiebend, rückte er näher. Aber der Junge neben Klinger gewahrte jetzt den beobachtenden Blick des Professors. Eine Sekunde noch, und er würde Klinger anstoßen, ihn warnen und retten.
»Klinger!«
Der Professor brüllte es, mitten in seinem Vortrag abbrechend, und sprang herzu. Wie ein Donnerschlag fuhr das in die Klasse. Jetzt stand der Professor dicht vor dem Erschrockenen, fiel über ihn her, erhaschte ihn an den Händen, die Klinger in das Bankpult vergraben hatte, und entwand ihm, was er dort festhalten wollte.
Das war kein Buch. Der Professor fühlte es tastend und hörte dabei, tief herabgebückt, an Klingers Körper sich drängend, das Herz des Knaben laut pochen wie ein Hammerwerk.
Was war das für ein Pappendeckel, den Klinger hier verstecken wollte? Der Professor richtete sich auf und zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. Er hielt Olgas Bildnis in den Händen.
Da schaute ihn plötzlich dieses frohe Antlitz an, ein Diadem prangte auf ihrem Haar, die Schultern waren entblößt; ihr Leib schien nackt aus dem Grund der Photographie wie aus einem Gewölk hervorzutauchen.
Ein unsäglicher Zorn entbrannte schmerzhaft in der Brust des Professors. Das lächelnde Gesicht da schien ihn zu verhöhnen, mitten in seiner Arbeit, mitten unter seinen Schülern. Er hatte gespürt, wie sich der Aufruhr in allen regte, als er über Klinger herfiel. Gleich einem leisen Rauschen war der Entschluß, ihm Widerstand zu leisten, durch die Reihen der Knaben gegangen. Jetzt blieb es still. Sie alle kannten das Bild, das Adalbert Klinger verstohlen betrachtet hatte.
»Sie unverschämter Bube!« schrie der Professor. Noch einen fassungslosen Blick warf er auf das Bild, dann hob er in trunkener Wut die Hand und schlug Klinger zweimal ins Gesicht.
Noch tiefer wurde die Stille im Zimmer. Alle fühlten, daß der Professor jetzt an einer Stelle seines Wesens verwundet worden sei, an welcher er kein Lehrer war, sondern der Vater eines Mädchens. Sie alle fühlten, daß man an diese Stelle nicht hätte rühren dürfen. Klinger war aufgegeben. Totenblaß stand er da, preßte die Lippen zusammen, und auf seinen weißen, geschlagenen Wangen traten rote Striche, langsam röter und röter werdend, hervor.
Während der Professor zum Katheder zurückging, zerriß er mit bebenden Händen Olgas Bild in lauter kleine Stücke. Er setzte sich und warf die Fetzen in die Schublade, gleich darauf zog er das Fach wieder heraus, raffte die Schnitzel zusammen und barg sie in seiner Rocktasche. Mit angestrengter Ruhe begann er wieder zu sprechen, nahm seinen Vortrag wieder auf. Seine Stimme war dünn, wie geborstenes Glas, kippte ein wenig, aber er beherrschte sich und sprach.
Adalbert Klinger dachte in seinem verstörten Herzen: Er weiß nun, daß ich seine Tochter liebe! Und er fühlte sich schuldig vor Olgas Vater, fühlte sich entlarvt und gebrochen.
Alle Knaben dachten: Er weiß nun, daß Adalbert Klinger seine Tochter liebt!
Eine Atmosphäre von peinlicher Scham lag über allen. Der Professor aber gewahrte mit neuem Staunen, daß Klinger ihn mit demütig reuevollen Blicken flehend ansah. Er gewahrte in den Mienen und Augen der anderen etwas, was er noch nie darin gelesen hatte: Ehrerbietung und Ergebenheit. Und er begriff es nicht. Denn er ahnte nicht, daß Adalbert Klinger für Olga in Liebe entbrannt war, er kam gar nicht auf diesen Einfall, er verfiel gar nicht auf den Gedanken, daß diese Knaben Olga bewunderten und liebten. Er hatte geglaubt, man wolle ihn hier seiner gefallenen Tochter wegen verhöhnen.