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In der Rotunde wurde ein großes Frühlingsfest gefeiert. Die Leute wanderten herbei, wimmelten wie Ameisenzüge durch die Alleen und Gänge des Praters. Die kleinen Bürger kamen, um hier die großen und reichen Bürger in ihrem Glanz zu bewundern. Die reichen Bürger fanden sich ein, um den Aristokraten näherzukommen, und die Aristokraten erschienen, um hier ein friedliches und prunkvolles Herrschen wieder einmal zu kosten. Basare und Verkaufszelte waren in den Seitentrakten aufgestellt, Schaubuden und Glückstempel. Man hatte Blumengärten improvisiert und Panoramen. Man konnte hier auf dem Rigi Kaffee trinken, konnte am Strand von Ostende vor gemalten Nordseewellen sitzen und Sorbet schlürfen, oder in einer niedlichen kleinen Jagdhütte Sterz essen und sich Weltverlorenheit einbilden. Im großen Rund der Mitte aber waren Sitze im Kreis, und ein Podium war hier aufgerichtet, denn die berühmtesten Künstler der Stadt sollten da Vorträge halten, Klavier und Geige spielen, deklamieren und singen.
Durch den weiten eisernen Raum zog das Rauschen der ungeheuren Menge, die hier durcheinanderwühlend lachte und sprach und in Lustigkeit aufschrie. In lauter kleinen besonderen Wirbeln kochte die allgemeine heitere Laune und brodelte bald da, bald dort ihr Kreischen in die Luft. Der Blechklang von Trompeten zerriß den brausenden Lärm. Irgendwo in diesem unendlichen Getümmel wurde jetzt schon am frühen Nachmittag getanzt, und das Stampfen der Füße drang rhythmisch durch all die verworrenen Geräusche.
Manchmal geboten die Ordner Ruhe, Signale ertönten, es wurde still, und man hörte nur einzelne Menschenstimmen in der Weite des Raumes zerflattern. Ein Schauspieler sprach irgendeine Ballade, eine Sängerin trug eine Arie vor. Dann raschelte das Händeklatschen aus der Menge wie das Blättern eines großen Papierfächers, der aufgeklappt wird.
Olga Frohgemuth saß in dem Verschlag, der ihr als Garderobe diente, und wartete, bis man sie rufen würde, um draußen ihr Lied zu singen. Es war ein neues Couplet, und sie sollte es heute zum erstenmal vortragen. Der Direktor ihres Theaters war da und der Komponist. Der Direktor lag breit und fett in einem niedrigen Fauteuil, rieb sich das glattrasierte Gesicht und betrachtete Olga, die auf und nieder schritt. Dann blinzelte er dem Komponisten zu: »Ein lieber Fratz ... nicht wahr?«
Olga hörte es nur halb, aber sie lächelte, denn jedes Lob und jedes gute Wort traf sie so, daß sie dafür danken mußte.
Der Komponist war ein älterer eleganter Herr mit einem gefärbten Schnurrbart und einem süß gespitzten Mund. Er schaute in sein Notenblatt und sagte: »Bitte nochmals, Fräulein, bei der Stelle im Refrain ...«
»Mensch – sie hört Ihnen ja gar nicht zu,« meinte der Direktor, »... die hat ganz andere Gedanken als Ihr Lied und Ihre Stelle im Refrain ... merken Sie das nicht?«
»Es wäre aber doch wichtig«, sagte der Komponist.
Der Direktor lächelte laut: »Wichtig ist jetzt nur eins. Daß die Türe da aufgeht und Er hereinkommt. Er, der Herrlichste von allen ...« Er faßte Olga, die eben an ihm vorüberschritt, am Handgelenk: »Hab' ich nicht recht, Olga ... was?«
Olga entriß sich ihm. Draußen auf dem Korridor entstand eine kleine Bewegung, dann ward die Tür von einem Diener aufgestoßen und der Prinz Emanuel Ferdinand trat herein.
Der Direktor sprang stürmisch von seinem Fauteuil in die Höhe und machte dem Komponisten entsetzte Zeichen. Ehe der Prinz sich noch umsehen konnte, waren die beiden verschwunden.
Draußen sagte der Direktor wichtig zu dem Komponisten: »Die zwei sind doch wie verrückt miteinander. Schon seit drei Wochen. Eigentlich müßten Sie das wissen; die ganze Stadt weiß es.« Er lachte unanständig. »Na, lassen Sie nur, wenn die Kleine jetzt in Stimmung kommt, wird sie herrlich singen.«
Emanuel Ferdinand war verlegen, als er sich plötzlich mit Olga allein sah. Dieser unterstrichene, übertriebene Rückzug der beiden Herren schien ihm wie eine böse Indiskretion seine Begegnung mit Olga, sein Hiersein, ihrer beider Liebe, kurz, alles preiszugeben, was der Schonung und der Behutsamkeit bedurfte. Er stand nervös und unbehaglich vor ihr. Olga aber war an solche Vorschubleistungen und an so taktlose Gefälligkeiten vom Theater her gewöhnt. Sie empfand nichts dabei, als die Annehmlichkeit, mit Emanuel Ferdinand allein zu sein. Sie hatte ihn herbeigesehnt, wie sie ihn jetzt in jeder Minute des Tages ungeduldig herbeisehnte. Sie gewahrte den Schatten von Mißstimmung, der über seine Mienen flog, nahm sein Gesicht in die Hände und küßte ihn, auf die Augen und auf den Mund. Sie sprachen kein Wort miteinander. Auf dem niedrigen Fauteuil, den der Direktor warmgesessen hatte, ließen sie sich nieder und küßten sich, wie nach einer langen Trennung. Sie berauschten sich eins am Kuß des andern, bis ihnen der Atem verging; dann sahen sie sich mit verhängten, abwesenden Blicken an, und wieder brannten ihre Lippen zusammen.
Draußen klopfte es, und der Direktor rief durch die Türe: »Kind – es ist Zeit!«
Der Prinz saß betäubt und vom Erschrecken gelähmt. Olga aber schnellte leicht empor und rief hell: »Ja!« Dann trat sie noch einmal zu Emanuel Ferdinand, beugte sich nieder und küßte ihn flüchtig auf das Haar.
Sie sprang auf die kleine Treppe zum Podium hinauf und erschien mit ihrem jubelnden, von den Küssen des Prinzen noch glühenden Antlitz über der Menge. Eine Beifallswelle schwoll ihr entgegen und brauste ringsumher zu ihren Füßen. Olga aber fing augenblicklich zu singen an. Sie mußte jetzt singen, und tat es, als ob sie allein sei. Hell und voll schwingender Kraft drang der Ton ihrer Stimme durch den Lärm. Der Komponist am Klavier lief ihr mit den begleitenden Takten erschrocken nach. Es wurde still, und Olgas Gesang schwebte frei durch die Luft. Wie ein Springquell stieg das Lied aus ihrem Herzen. Ihre Augen sangen es mit, ihr feiner, wiegender Körper, und es war solch ein Glücksgefühl in ihr, daß dieses kleine, nichtige Liedchen davon durchschimmert wurde und wie eine überirdische Freudenbotschaft in die Menge fuhr. Nun kam sie zum Refrain, nun wußte sie, daß sie ihr Kleid raffen und kokett hin und her spazieren sollte: »Ein Wiener Mädel, blond und jung ...« Aber sie trat nur einen kleinen Schritt vor, ließ mit nach außen gekehrten Handflächen die Arme sinken, sie dachte an den Geliebten, der sie eben an seiner Brust gehalten, sie schloß die Augen und sang ganz leise: »Ein Wiener Mädel, blond und jung ...« Dann in der Wiederholung des Kehrreims jauchzte sie heraus, dieselben Worte, dieselbe Melodie, mit strahlenden Augen und mit lachendem Mund. Die Menschenmasse unter ihr explodierte in Begeisterung. Wie ein Sturm tobte ihr das allgemeine Entzücken entgegen. Jetzt erst gewahrte Olga die Leute, nahm sie in ihr Bewußtsein auf. Sie wollte davonlaufen, sah sich nach der gewohnten Kulisse um, erwartete, daß die Wand des Theatervorhangs sich zwischen ihr und dem Tumult senken werde, und merkte, daß sie nun zum erstenmal hier mitten unter den Menschen stehe, umringt von ihnen, eingeschlossen von ihren Wogen. Sie stieg die kleine Treppe des Podiums hinunter, aber das Rufen und Toben riß sie wieder herauf. Da stand sie auf dem schmalen Brett, wie auf einem Kahn. Das Klavier schlug an, und Olga begann das Lied von neuem. Jetzt warf sie sich mutwillig in die Heiterkeit dieser leichten Melodie, schwenkte das Lied über die Unzähligen hin, um sie aufzureizen. Als sie den Refrain wiederholte, fielen Hunderte von Stimmen ein. Dann brüllte der Beifall noch lauter auf als zuvor. Man schleuderte ihr Blumen zu, Hüte flogen in die Luft, Tücher wurden geschwenkt. Sie mußte immerzu die Treppe auf- und niederrennen, sah bekannte und fremde Gesichter aneinandergedrängt, wenn sie herunterkam, die ihr zulachten, sie anschrien, ihr Dinge entgegenriefen, die sie nicht verstand. Fünfmal, sechsmal sang sie das Lied, stand da droben in ihrem weißen Sommerkleid, wie eine schlanke helle Kerze über all den dunklen Menschenwogen, und strahlte Lebensfreude in den riesenhaften Raum. Wie ein ungeheurer Katarakt brach der Erfolg über sie herein; sie trank den Beifall in Strömen, trank Ehre und Liebe, und Ruhm und Glück, und wurde betäubt davon.
Als sie zum letztenmal die Treppe hinuntergestiegen war, erblickte sie Emanuel Ferdinand. Mitten unter den Leuten war er, wurde von ihnen gedrückt und gestoßen und verbeugte sich ein wenig, aber sie las ihm die Aufregung und die Freude von den Mienen. Sie ging zu ihm, hielt ganz nahe bei ihm seine Hand zwischen ihren Händen an ihre klopfende Brust und fragte ihn dicht in die Augen: »Hast du mich lieb?« Er antwortete stumm, nur mit einer Bewegung seiner Wimpern. Da hob sie seine Hand schnell zu ihrem Mund und küßte sie. Rings um sie her war die Rotunde erfüllt von dem Gesang der Menge: Ein Wiener Mädel, blond und jung ... das flutete über die beiden hin.
Olga blieb noch eine Weile in ihrer bretternen Garderobe. Der Komponist hatte sich eingefunden und ihr überschwenglich gedankt. Der Direktor war da und sprach davon, daß sie nun jeden Abend das Lied in seinem Theater als Einlage singen müsse. Zeitungsreporter kamen, die Blumen wurden gebracht, die man ihr zugeworfen hatte. Ein Diener hielt ihr ein paar Herrenstrohhüte hin, die auf dem Podium gefunden worden waren, und fragte sie schmunzelnd, was damit geschehen solle. Olga nahm sie und schleuderte sie nacheinander wie Wurfscheiben gegen die Decke. Dieses Spiel ergötzte sie, und sie trieb es, ohne sich um die Leute zu kümmern, die in dem kleinen Zimmer beisammenstanden. Sie unterhielt sich damit, wie ein Kind sich vergnügt, während die Erwachsenen von langweiligen Dingen sprechen. Die Herren vom Festkomitee kamen und statteten ihren Dank ab. Alle sangen ihr ein Stückchen von dem Refrain vor, um ihr zu zeigen, daß sie das Lied schon auswendig wüßten, und um sie als das Wiener Mädel, blond und jung, zu begrüßen.
Als sie dann von der Rotunde fort zur Hauptallee fuhr, war das Lied ihr schon vorangeeilt. Die Leute trugen es in den sonnig warmen Spätnachmittag hinaus, durch den ganzen Prater hin, streuten es über die Wirtsgärten aus, über das Klingeln und Drehen der Ringelspiele, über das Puffen und Knallen der Schießbuden. Es wirbelte wie Staub im Wind vor den Hufen der tanzenden Rappen auf, und wo Olga in ihrem Wagen vorbeikam, hörte sie es singen, hörte sich damit empfangen.
Durch die Hauptallee spann sich jetzt das Gewirre des Wagenkorsos. Die alten Kastanien blühten, die Leute standen am Wegrand im Baumschatten, säumten als lebende Hecke die stolze Fahrbahn und schauten dem vorbeisausenden Vergnügen der Reichen zu. Olgas Wagen mußte an seiner Einfahrtsstelle das dichte Spalier erst durchbrechen. Es teilte sich zögernd; als aber die aufgestörte Menge Olga erkannte, schwenkte man lachend die Hüte, und Hochrufe schollen ihr entgegen. Gegrüßt, bestaunt, mit ihrem Namen angerufen, fuhr sie dahin. Aus den Reihen der anderen Wagen schauten die Damen nach ihr, junge Mädchen warfen ihr Blumen in den Schoß und huldigten ihr mit winkenden Augen. Sie hörte, wie die Männer einander »reizend« oder »entzückend« zuriefen, sie hörte den kleinen Aufschrei einer jungen Frau: »Ach – wie lieb!« Sie war umflossen von einer dichten, berauschenden Atmosphäre von Bewunderung und Begehren. Ihre feine, heitere Anmut war heute über alle diese Menschen hingebreitet wie ein zarter Schimmer, durchdrang wie eine duftende Essenz all die Ungezählten, die hier beisammen waren.
Olga hörte in dem Getrappel der vielen Pferde den jagenden Hufschlag eines Gespannes. Sie wandte sich, und da lenkte der Prinz Emanuel Ferdinand vom hohen Sitz eines Kutschierwagens seine Vollblutfüchse mitten durch die Wagenreihen. Wie ein prunkvoll blitzendes Wetter preschte er an ihr vorbei. Sie erhaschte nur den verstohlenen Gruß seines Lächelns.
Die Leute aber banden ihren Namen an den des Prinzen, schauten sie an, als Emanuel Ferdinand an ihr vorbeisauste, und nickten ihr herzlich zu, weil sie unter der Sprache all dieser Augen errötete. Es war, als sei auch Olgas Liebe wie ein Fest, an dem alle sich freuen durften.