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König Pescaro war noch jung. Zweiundzwanzig Jahre. Dennoch trug er die Krone schon seit achtzehn Jahren. Als er ein vierjährig Bübchen war und sein Vater starb, hatte der glänzende Prinz Cosimo das Kind auf den ererbten Thron gehoben und an seiner Statt zehn Jahre lang die Regentschaft geführt. Nachdem Pescaro dann vierzehn geworden war, hatte er allein zu regieren begonnen. Und wenn er jetzt vom Schrei der Liebe sprach, so muß erwähnt werden, daß die Frauen in Ravellaska wirklich diese Gabe besaßen. Ihnen entrang sich im höchsten Augenblick der Lust ein Schrei, darin ihre ganze Seele sich löste und aussprach. Dieser Schrei war das Bekenntnis ihrer völligen Hingabe; er war der tönende Akkord ihres innersten Wesens, also daß ein Mann, der eine Frau in seinen Armen hielt, sie gleich in allen Tiefen ihrer Art erkannte, wenn dieser Schrei von ihren Lippen drang. Doppelten Sieg gewannen die Männer in Ravellaska, denn sie genossen zu der Wonne des Leibes auch noch den Besitz der Seele, die vor ihnen aufsprang wie eine Knospe in der Sonne, die sich unter ihren Küssen erschloß wie ein bebender Frauenmund, und mit jenem kleinen Schrei all ihre geheimen und letzten Wahrheiten hinströmte, die in Worte nicht zu fassen sind, die niemals gedacht noch gesagt werden konnten. Und nur der eine vernahm sie, der Geliebte. Auch er nur in geweihten Stunden; empfing sie in seinem entfachten Gefühl, wie nur entfachtes Fühlen sie darbringen mochte, schlürfte sie ein gleich einem kostbaren, belebenden und beglückenden Elixier. Deshalb auch war das Begehren der Männer von Ravellaska nimmer ein bloßes Trachten nach dem Körper. Wenn einer eine Frau ansah, die ihm Wohlgefallen erregte, dann sagte er: »Ich möchte ihren Schrei hören!« und es lag darin eine Sehnsucht nach ihrem Leibe wie nach ihrem Herzen gleichermaßen. Eine Lust, in der diese wundersame Melodie fehlte, eine Umarmung, aus der nicht am Ende dieser Schrei sich emporschwang, um über den Liebenden zu schweben wie die Stimme der untrüglichen Natur, wünschte kein Mann in Ravellaska. Darum gab es in diesem Lande auch keine käuflichen Dirnen. Denn weil nur liebende Hingabe diesen Schrei vom Grunde der Seele löste, und weil er durch keine Kunst der Heuchelei nachgeahmt werden konnte, hätten die Dirnen nur ihren schönen Leib der Begierde zu bieten vermocht. Das allein war aber jeglichem Manne zu wenig.
Die Dichter des Landes nannten diesen Schrei den Gesang der Liebe. Das aber war nur ein Dichterwort und traf die Sache nicht. Denn es war keineswegs ein Gesang, wenn es gleich schöner sich anhörte als die schönste Musik. Bald war es ein Aufstöhnen, bald ein kurzes Jauchzen, bald ein schmerzlicher Wehlaut, bald süß wie das Zwitschern fliegender Schwalben, bald rauh und wild wie der Schrei der kreißenden Hindin, bald sanft und schmeichlerisch wie das Miauen eines Kätzchens, dann wieder glühend und innig, wie das Girren verliebter Tauben. Manchmal auch war es ein langgezogener Ruf, der aus weiter Ferne zu kommen schien, wie Leute von anderen Ufern nach der Fähre rufen. Denn jede Frau hatte andere Töne in ihrer Brust, nach ihres besonderen Wesens Beschaffenheit. Anders schrie die Heitere als die Still-Nachdenkliche, anders die Kühle und die Heiße, die Zaghafte und die Mutige, anders schrie die an Sehnsucht Reiche, anders die Einfache, die sofort beglückt ist; anders die herzlich Wahrhafte und anders die, deren Sinn auf Treulosigkeit stand; anders die Unterwürfige und die Herrschsüchtige, anders die Streitbare und anders, die sanften Gemütes war.
Die Dichter sprachen viel von diesem Schrei. Wenn sie den heiß ruhenden Mittag im Walde schilderten, dann verabsäumten sie nur selten zu erwähnen, wie etwa am Saum einer besonnten Wiese der Liebesschrei aus hohem Grase aufflog in die sommerliche Luft. Und wenn sie ein Haus beschrieben, das in dunkler Nacht zu schlafen schien, dann machte es sich gut, wenn da und dort aus verschlossenen Zimmern der Gesang der Liebe durch die Türen drang oder wenn – wie sie es nannten – die Wände zu flüstern begannen. Dann gab es eine Geschichte, in der das Liebespaar dem Späher durch die Musik des Glückes sich verriet. Da ging der Geliebte hin und erschlug den Horcher nach eigenem Willen und auf Begehr des belauschten Weibes, weil jener die Laute ihrer Liebe vernommen, und weil nur einer auf Erden leben sollte, der sich dessen rühmen durfte. Ein anderes Mal wieder mußte der Horcher den Mann töten und von der Frau fortan Besitz ergreifen. Oder sie erzählten ganz einfach, wie zwei Menschen endlich einander in die Arme sanken zu ihres Wünschens Erfüllung. Aber da fanden sie unzählige Varianten, den Schrei der Liebe tönen zu lassen, und waren unerschöpflich in zarten, verschleiernden Worten.
Das Volk jedoch nahm die Sache einfach und knüpfte alle Bezeichnungen der Liebe an diesen Schrei. Wie die Männer von einer Frau sagten: ›Ich möchte sie schreien hören‹, so sprach man von einem abgewiesenen Bewerber: ›Er hat den Schrei, den er wollte, nie vernommen‹. So sagte man von einer Jungfrau: ›Sie hat ihren ersten Schrei noch nicht getan‹, oder: ›Sie hat sich selbst noch nicht gehört‹, oder: ›Sie weiß ja selbst noch gar nicht, was sie für eine Stimme hat‹. Von einem Manne, der eine Jungfrau genommen, hieß es, er habe sie singen gelehrt! Auf eine, die ohne Trauung dem Geliebten sich verschenkt hatte, gab es viele Worte. ›Für ihren Schrei hat der Pfarrer nichts bekommen‹, oder: ›Die hat nicht erst in der Kirche gefragt, ob sie singen darf‹, oder: ›Sie ist vorlaut gewesen‹, oder: ›Was wollt ihr? Sie hat sich nur verschnappt‹. Von einer alten Frau sprach man: ›Sie hat ausgeschrien‹, oder: ›Sie hat ihr Liedchen zu Ende gepfiffen‹. Und redete man von einem unerfahrenen Jüngling, hieß es: ›Was hat denn dieser im Leben schon gehört?‹. Von einem alten Mann dagegen sagte man: ›Er hört nicht mehr‹, aber er brauchte deswegen nicht eben taub zu sein. Allein die tauben Leute in Ravellaska waren noch boshafter und mürrischer als anderswo. Man begriff das hier auch und bedauerte sie. Sie bekamen keine Frauen, denn keine wollte, daß ihre Stimme ungehört und ungedankt verhalle. So waren sie die glücklosesten, liebeärmsten Männer, soweit man sie in diesem Lande überhaupt noch zu den Männern rechnen wollte. Wem aber die Huld der Frauen lächelte, dem sagten die Leute ehrfürchtig nach, er kenne viele Stimmen, und er müsse wohl einen ganzen Chor in seiner Erinnerung beisammen haben. Von dem jungen König Pescaro aber ging die Rede, er habe schon alle Engel singen hören. Denn Pescaro hatte viele Töchter des Landes geliebt. Er war ein erlauchter König, und die Strenge vielfältiger Gebräuche hielt ihn hoch und fern von allen andern seines Volkes. Das galt aber nur von den Männern. Den Frauen jedoch war er durch die Liebe beständig nahe, war ihnen durch hundert Erinnerungen und abertausend Möglichkeiten vertraut und verbunden, und es ging ein unablässig rauschender Strom von Zärtlichkeit von den Frauen zum König und vom König zu den Frauen. Wenn er durch die Straßen ritt oder fuhr, in seiner jungen, lächelnden Schönheit, und die Augen umherwarf, bald auf diese, bald auf jene, wenn die Frauen und Mädchen ihn lächelnd grüßten und er ihnen lächelnd Dank winkte, dann war ein stilles Einverständnis zwischen ihnen und dem König. Denn viele hatte er in seinen Armen gehalten, das wußte man, und noch viele würde er an sein Herz pressen, das sah man an seinen freudigen, rufenden Mienen. So war denn dieser junge, heiterschöne König eigentlich der Geliebte von allen. Der gewesene, der gegenwärtige, der künftige, der erträumte, der herbeigelockte, für alle Fälle der erreichbare Geliebte, und so kam es, daß die Frauen ihn aufrechten Hauptes grüßten, wie einen zärtlich Vertrauten, indessen die Männer tief ihre Stirne neigten, wenn er des Weges kam.
Weil nun in diesem Lande sinnreiche und tugendhafte Bräuche neben der größten Freiheit herrschten, war es ein altes Gesetz des Königshauses, daß im Palaste nur der Schrei einer Königin laut werden dürfe. Des Königs Ahne, jener Pescaro, den sie den Großen und Weisen nennen, hatte für sich und seine Nachfahren die Satzung aufgerichtet, daß Zügellosigkeit und Unfriede der königlichen Schwelle fern bleibe. Weil er aber die Triebe des Herzens weder sich noch seinen Nachfolgern zu wehren gedachte, hatte er am Ende des Königsgartens, auf einer schmalen Landzunge, die in das Meer ragte, die Favorita erbaut, das kleine Liebesschlößchen, wo jegliche menschliche Lustbarkeit dem König erlaubt war, und wo denn auch seit mehr als zwei Jahrhunderten die hübschen königlichen Freundinnen wohnten.
Unter dem jungen Pescaro hatte das kleine Marmorhaus viele Herrinnen gehabt. Sie hatten viele Monate hier gehaust, wie die Gräfin Lutetia, die üppige Frau, die den königlichen Knaben als die erste an sich gerissen. Oft waren sie nur wochenlang dageblieben, wie Katherina Dolfi, die Eifersüchtige, dann die adelsstolze, märchenhaft schöne Vittoria Varini, die jedoch so dumm war, daß sie nichts zu sagen wußte, oft auch nur kurze Tage, wie Anna, das Bauernmädchen, die aber, als sie scheiden sollte, in das Meer sprang, und der man nachsagte, sie habe, als sie in das Wasser stürzte, noch einmal aufgeschrien wie in des Königs Armen. Angela Dandolo war hier gewesen und hatte die Aussicht auf den Thron damit für immer verwirkt. Aber das blonde Kind hatte sich rasend in den König verliebt und darauf getrotzt, seine Favoritin zu werden, sich ihm zu schenken, damit er die Selbstlosigkeit ihrer Hingabe erkenne. Man sagt, der König sei in der ersten Zeit von dem Liebesschrei dieses wilden Mädchens ganz berauscht gewesen und wie in einem Taumel umhergegangen. Nach drei Monaten aber mußte sie das Liebesschloß der munteren Tochter eines Schiffsbauers räumen. Sie ging aufrecht und am hellen Tage, wie sie gekommen war, als eine Prinzessin. Kehrte in das Haus ihrer Eltern zurück und nahm sogleich wieder teil am Hofleben, als sei nichts geschehen. Überall wurde sie aufgenommen wie sonst, und es hieß seitdem nur, Angela Dandolo habe die Hingabe an den König geadelt.
Zuletzt lebte die edle Properzia Rossa in dem Marmorhaus am Meere. Aber in dieser letzten Nacht war der König gekommen und hatte sie weggewiesen. Während er sonst zu einer Verabschiedung nur einen vertrauten Diener an den Hausverwalter der Favorita sandte, kam er diesmal selbst, um seiner Freundin das Ende zu verkünden; denn er hatte Properzias sanfte Anmut sehr geliebt. Properzia Rossa hatte den König erwartet. Sie wußte von Cardinis Ankunft, und sie wußte, daß Cardini das Bildnis der Lianora von Mallorka bringe. Ihr war ja überhaupt bekannt, daß der König von seinen Räten wie vom Volke zur Ehe getrieben wurde. Allein seit in Ravellaska Könige herrschten, war es niemals geschehen, daß einer seine Braut außer Landes gewählt hätte. Alle Könige des Reiches holten ihre Frauen aus den zehn erlauchten Geschlechtern, den Wahlhäusern, wie sie genannt wurden. Properzia Rossa kannte alle die Mädchen, die für den König in Frage kamen; die drei häßlichen Töchter des Fürsten Varini, die schlanke Beatrice von Cantara, die allzu dicke, bäuerlich plumpe Enkelin des Zeremonienmeisters, Agatha Ruspoli. Und sie fürchtete keine. Am wenigsten aber fürchtete sie diesen alten Cardini, der in Mallorka seine Ränke spann und der jetzt das Bildnis der Prinzessin Lianora brachte. Der König hatte dergleichen aus Neugierde nur gestattet. Vielleicht auch, um alle, die nach seiner Heirat begehrten, hinzuhalten und zu täuschen. Niemals aber würde er eine Fremde auf den Thron erheben, die das Volk nicht lieben könnte, und die der Adel um seiner verschmähten Töchter willen hassen müßte.
Als nun am letzten Abend der König auf sich warten ließ, da bebte Properzia wohl ein wenig. Wie sie aber die Fackelträger durch den nächtlichen Garten heraneilen sah, da jubelte sie und rief: »Er kommt! Er hat das Antlitz dieser Lianora geschaut und kommt zu mir!«
Und dann war der König eingetreten, war mitten im Saale stehen geblieben, hatte sie ernst, beinahe fremd angeschaut, und mit einer gerührten, feierlichen Stimme hatte er gesagt: »Ich liebe von heute an Lianora, die Prinzessin von Mallorka, und ich bitte Euch, verlaßt dieses Haus noch in dieser Nacht. Ich bin selbst hier, meinen Beschluß wie meine Bitte Euch zu verkünden. Möget Ihr darin einen Beweis meiner Freundschaft für Euch ersehen.«
Properzia vermochte keine Silbe zu erwidern. Sie kämpfte nur mit ihren Tränen, weil sie wußte, daß der König sich von weinenden Frauen sofort und mit dem größten Unwillen abzuwenden pflegte. Sie fragte nur nach einer Weile: »... Noch in dieser Nacht?« Und der König antwortete leise, aber bestimmt: »Noch in dieser Stunde!«
Da vermochte sie nichts mehr über sich und brach in lautes Schluchzen aus. Pescaro aber saß zwei Sekunden später im Sattel und ritt heimwärts.
Vor Tagesanbruch ward Cardini, der Gesandte, auf seinem Schiffe geweckt und ihm bedeutet, er möge sofort ins Schloß fahren, der König erwarte ihn mit Ungeduld. Der Greis bekam einen furchtbaren Schrecken, denn er lebte in der beständigen Angst vor seinem Sturze. Da nun seine Späher ihm verraten hatten, der König sei diesen Abend bei der Properzia gewesen und habe gleich nach seiner Rückkehr mit aller Heftigkeit nach ihm begehrt, glaubte sich Cardini verloren und fiel in Ohnmacht. Kaum aber war er wieder zur Besinnung gelangt und gelabt worden, traf ein zweiter Bote ein mit dem Befehl, der Gesandte möge sich bereit halten, vom Schlosse aus sogleich wieder an Bord zu gehen. Diese Nachricht war die beste Stärkung für den alten Cardini. Jetzt erst wußte er, was dies alles zu bedeuten habe, und legte voll Hast die Prunkgewänder an.
Sogleich ließ er auch seinen Pagen wecken, und Angelo Dossi stand zitternd dabei, als im dämmernden Thronsaal der König mit jubelnder Stimme zum Fürsten Cardini redete: »Ich liebe dieses Mädchen! Alles ist bereit, und du kannst sofort absegeln. In acht Tagen bist du in Mallorka. Zwei Tage gebe ich meiner Braut, von ihrem Vater Abschied zu nehmen. Dann aber ist es mein Befehl, daß sie dir folge. In acht Tagen bist du hier. Leb' wohl, Cardini. Ich danke dir in achtzehn Tagen.«
Cardini stand wie stets in seinem Purpurmantel versunken und schaute mit nachdenklich bewegten Mienen zu Boden. »Mein gnädiger Herr,« sprach er leise, »es ziemte sich, daß ich der Prinzessin dein Bildnis bringe. Sie wird es verlangen.«
»Ich habe keines,« sagte der König, »das letzte, das mein Antlitz zeigt, ist dort unten.« Er brach ab. Dann erhob er sich, zog ein Goldstück hervor und reichte es dem Fürsten. »Hier,« sprach er, »nimm dieses. Es ist das rechte. Es gibt nicht zu viel und nicht zu wenig von mir. Nicht die Farbe der Natur und nicht den Blick des Auges, aber es weist doch die Bildung meiner Züge, und vor allem, es zeigt ihr, daß ich ein König bin. Es ist von meiner Macht und meiner Person ein Zeichen. Gib es der Prinzessin und sage nichts weiter. Sie wird mich verstehen.«
Der Gesandte nahm das Goldstück und tat es in das Kästchen. Der Knabe aber hatte mit leuchtenden Augen zum König aufgeblickt. Jetzt kniete er nieder, setzte das Kissen ab und breitete die Arme.
»Angelo Dossi?« fragte der König.
»Eine Gnade.«
»Rede, Angelo Dossi!«
»Erlaube, Herr, daß ich die Schleppe der Königin trage, wenn sie zu Schiff steigt, wenn sie hieher ans Land kommt, und wenn sie dann an deiner Seite vor den Altar tritt ...« Angelo Dossi war bleich geworden und vermochte nicht weiter zu reden.
Der König sah ihm voll Ernst in die bittenden Augen; dann legte er ihm die Hand auf die Locken und entgegnete: »Du bist Page der Königin bis zum Abend der Hochzeit. Dann aber zur Garde. Du wirst ein Mann, Angelo Dossi!«
Als die Sonne emporstieg, kam die Barke wieder, den Greis und das Kind zu holen. Und die beiden fuhren über die funkelnden Wellen zum Schiff hinaus, gefolgt vom Schmettern der Brautfanfare und von den Blicken des Königs, der auf der Altane stand.