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Drittes Kapitel

Vor dem Hause, in welchem Olga wohnte, hielt der offene Wagen. Oben im Stockwerk standen die Balkontüren offen, und der Duft aller Blumenbeete, aller Fliederbüsche, die im Rathauspark blühten, kam wehend herein.

In dem Salon wartete der junge Mann, der gestern im Theater so viel gelitten hatte. Jetzt duldete er noch schlimmere Pein, aber er war ein wenig ruhiger, weil er fühlte, daß die Entscheidung bevorstand, und weil er doch noch eine geringe Hoffnung hegte. Man hatte ihm gesagt, das gnädige Fräulein sei nicht zugegen. Er überwand sich und antwortete dem Stubenmädchen, der Wagen sei ja vor der Türe; also müsse Fräulein Frohgemuth zu Hause sein. Danach war das Stubenmädchen wiedergekommen und hatte reserviert, ein wenig hochmütig, zugleich aber auch verlegen, gemeldet, die Gnädige sei nicht zu sprechen; und er fand darauf nur die bestürzte Entgegnung: »Ich werde warten.«

Jetzt wartete er und fühlte sich erniedrigt. Vor wenigen Tagen noch war er hier willkommen und vertraut gewesen, durfte hier wie in seinem eigenen Heim nach Gefallen gehen und bleiben. Nun aber hatte sich alles auf geheimnisvolle Weise geändert. Plötzlich und ohne Übergang war er hier ein Fremder geworden. Aus allen Winkeln und Ecken dieses Zimmers hauchte ihn Fremdheit an; sogar die Erinnerungen, die sonst alle diese Wände, Tische, Spiegel und Bilder umspannen, waren untreu und wie spurlos weggewischt. Er sagte sich, daß er gehen müsse. Seine Wohlerzogenheit bäumte sich dagegen, daß er nun aufdringlich war und blieb. Dennoch blieb er. Sein Stolz, sein gerader Wille sank in ihm zusammen, wie welk gewordenes Blattwerk. Er verzweifelte und hoffte.

Olga kam zum Ausgehen gekleidet ins Zimmer.

»Willst du etwas von mir, Eugen?«, sagte sie heiter und setzte gleich darauf ein wenig unsicher hinzu: »Ich habe keine Zeit ... leider ...«

Er fühlte wieder, daß sie nun eigentlich alles ausgesprochen habe, und daß jede Hoffnung vergeblich sei. Aber er war geblendet von ihrem Anblick, er war vom langen Warten geschwächt, und er klammerte sich an sie.

Mit erstickter Stimme, in der die Reste seiner Würde aufflatterten, begann er: »Darf man wissen, wo du jetzt hingehst?«

Sie sah ihn erstaunt an und gab sogleich Antwort: »Nein, das darf man nicht wissen.«

Der junge Mann erblaßte vor Scham, und es war, als könne er sich nicht mehr aufrecht halten. Beschwichtigend und mild wiederholte Olga: »Nein, nein, das darf niemand wissen ...« Wie man zu einem Neugeborenen redet.

Dann aber, von ihren eigenen Gedanken über die Verlegenheit dieser Minuten hinweggetragen, sang sie in leisen Rezitativen: »Nein, das darf niemand wissen ... niemand wissen ... niemand wissen!«

Dabei ging sie ins Vorzimmer, ging auf den Korridor hinaus und stieg die Treppe hinunter. Der junge Mann folgte ihr. Das Stubenmädchen, das die Tür öffnete, hinderte ihn zu sprechen. Er schämte sich, in Gegenwart dieses lauernden Gesichtes etwas zu sagen, und hielt an sich. Drunten auf der Straße will ich reden, nahm er sich vor, will zu ihr in den Wagen steigen, will sie bitten, sie nicht loslassen. Er ging Stufe für Stufe mit Olga hinunter, er hörte das seidene Rauschen ihres Kleides, das feine Klappen ihrer Schritte, atmete ihren Duft, und ein paar Sekunden lang träumte er sogar, es sei gar nichts vorgefallen und alles wie sonst. Es war eine Vision, in der ihm diese ganze Wirklichkeit unwahrscheinlich und als ein lächerliches Hirngespinst erschien.

Auf der Straße aber gab ihm Olga die Hand. »Leb wohl, lieber Eugen«, sagte sie. Ihr Gesicht war ernst und wie immer anmutig verdutzt. Ihre Augen strahlten ihn an. Er half ihr willenlos, da sie einstieg. Vom Wagen aus reichte sie ihm noch einmal schnell die Hand hin. »Leb wohl«, sagte sie leise noch einmal. Und leiser: »Vergiß mich nicht ...«

Er verbeugte sich und hob den Hut und lächelte, in dem unwiderstehlichen Zwang, sich ihr gehorsam zu zeigen. Erst als die Pferde stampfend anzogen und den Wagen fortrissen, begriff er, daß dies jetzt der Abschied gewesen war.

Das ganze Gefühl von Olgas Lieblichkeit, das er in seinem Blut und in seinen Sinnen trug, brach nun hervor, aufgewühlt von dem Gedanken: Nie wieder! Er starrte die leere Straße entlang und taumelte unter einer plötzlichen Schwäche, mußte sich an die Mauer des Hauses lehnen, und ein Vorübergehender fragte ihn, ob er krank sei; so verzerrt und entstellt waren seine Züge. Er antwortete nicht.

Olga fuhr derweil über den stillen Platz der Votivkirche, fuhr die Währingerstraße hinauf, und die beiden schnaubenden Rappen zogen ihren Wagen in gleichmäßig tanzendem Lauf an den Villen von Pötzleinsdorf vorbei bis zum Wald.

Da, wo die große Wiese unter Buchen und Birken sich öffnet und der Fußweg nach Dornbach hinüberleitet, wartete der Prinz Emanuel Ferdinand. Er trat herzu, als der Kutscher die Pferde anhielt, salutierte lächelnd und half Olga aus dem Wagen. Als sie dann dicht vor ihm stand, gab er ihr die Hand, ein wenig schüchtern und doch zugleich gnädig. Mit der unmerklichen heiteren Würde, die wie Zwanglosigkeit aussah, und die alle Prinzen dem Kaiser nachahmten, hielt er Olgas lebhaftes Wesen in Schranken und leitete gleichsam das kleine Zeremoniell ihrer Begegnung.

Sie gingen eine Weile schweigsam nebeneinander her. Dann fing Emanuel Ferdinand an und besprach den Zufall, der sie beide nach so vielen Jahren wieder zusammengebracht habe. Er redete ein wenig fremd, ungeschickt, und versuchte humoristisch zu sein; er gebrauchte komische Zitate und witzige Formeln, wie sie bei den Offizieren umgehen, aber seine Aufregung bebte aus allen seinen Worten und war aus seinem fliegenden Atem hörbar. Er sagte: »Gnädiges Fräulein ...« und er sagte: »Finden Sie nicht, daß es eine gute Idee von mir war, mich gleich nach meiner Ankunft bei Ihnen zu melden ...?« Er sagte: »Mein erstes, als ich nach Wien kam, war ja, mich Ihnen zu Füßen zu legen ...«

Olga unterbrach ihn: »Ich hab' geglaubt, daß du mich schon ganz vergessen hast.« Sie schaute ihn an.

Er wurde dunkelrot, blieb eine Sekunde still und erwiderte endlich: »Du siehst ja, daß ich dich nicht vergessen habe.« Von da an sagte er du zu ihr wie in vergangenen Zeiten.

Olga war es, als sei alles wie früher. Ein Hauch von Noblesse, von vornehmer Geborgenheit und von Glanz ging von ihm aus, wie ehedem. Er machte dies Beisammensein feierlich und irgendwie erhaben durch seine Haltung, zugleich aber intim und herzlich durch den zärtlichen Blick seiner Augen. Das hatte sie schon als kleines Mädchen berauschend angeweht. Sie fühlte diesen süßen Taumel der Kindertage wieder; der wachte in ihr auf, übersprühte sie mit all dem Zauber der Erinnerung und ließ sie das Gegenwärtige wie eine Wiederkehr verronnener Stunden genießen. Immer war damals für sie alles Licht im Zimmer erloschen, wenn Emanuel Ferdinand weggegangen war. Dann gewahrte sie jedesmal in ihrem jungen Gemüt mit verdoppelter Härte, welch unfrohe, kahle Enge sie einschloß. Dann sann und dachte sie dem Prinzen nach und hatte in überwältigenden Bildern die schimmernde Welt vor sich, in die er entschwand, und kam sich ausgestoßen und mißhandelt vor. Vielleicht hatte sich damals jene Sehnsucht in ihre Brust gesenkt, die sie später als kaum Erwachsene zur Flucht aus dem Vaterhause trieb, zum Theater und zu all den Quellen der Freude, aus denen sie unbedenklich und durstig trank, wo immer sie ihr sprudelten. Vielleicht auch war diese schnelle irre Wanderung über große und kleine Bühnen, dieses Drängen nach dem Erfolg, nur der krause Weg und Aufstieg zu dem Prinzen gewesen, als zu ihrem Ziel. Sie wußte das nicht. Sie empfand, während sie jetzt an seiner Seite schritt, nur das eine, daß sie hieher gehöre, daß alles genau so habe kommen müssen, wie es jetzt eben kam. Sogar das Heimweh, das immer wie eine leise Unruhe in ihr pulsierte, schwand nun dahin; und die bittere Erinnerung, daß ihr Vater sie verstoßen habe, diese Erinnerung, die manchmal in ihr wach wurde, und die Olga wie alles Bittere und Feindliche nicht zu ertragen vermochte, entschlief jetzt, während sie mit Emanuel Ferdinand über die Waldwiese ging.

Der Prinz erzählte ihr von seinem Leben. Wichtig und nah bei ihr, und in einem Ton, in welchem sich sein Herz zu Bekenntnissen auftat. Vom Gymnasium weg war er in eine Kadettenschule gesteckt worden. Man hatte ihn rauh angefaßt, und er hatte es schlecht genug gehabt. Harte Worte hatte er hören müssen, hatte sogar den Arrest kennen gelernt. Und dazu keinen Freund. Dann kam er als Leutnant in eine ferne galizische Garnison, wurde krank und von der Mutter nach Hause geholt. Ein Kriegsschiff führte ihn hernach monatelang durch tropische Meere, damit er wieder zu Kräften gelange. Er hatte im indischen Dschungel gejagt und in der afrikanischen Steppe Löwen geschossen; er hatte Abenteuer bestanden und die Buntheit der Welt gesehen. Dann saß er wieder in einer kleinen Garnison in Böhmen, lebte einförmige Tage auf dem Exerzierplatz, auf der Reitbahn, im Offizierskasino. Jetzt aber durfte er endlich wieder in Wien sein. Überall jedoch hatte er sich einsam gefühlt. Es sei ihm schmerzlich, sagte er, daß er niemanden habe, zu dem er offen reden könne. »Als Mensch zum Menschen«, sagte Emanuel Ferdinand. Von seinem Rang sprach er jugendlich pathetisch, mit der Melancholie eines Zwanzigjährigen, und er nannte es »die eisige Höhe«.

Nun gab es nichts mehr zu sagen. Der sonnige Nachmittag hier im Walde spann wie eine leuchtende Dämmerung über die Wiesen. Sie gingen noch eine Weile dahin, dann blieben sie stehen, hielten einander umschlungen und küßten sich.

Olga spürte, daß er sie schonend in seinen Armen hielt. Etwas wie Ehrerbietung zögerte in seinen Händen. Sie spürte, wie in seinen Küssen Andacht war und Behutsamkeit, und ein rasches kleines Staunen durchzuckte sie. Dann aber löste sich ihr ganzes Wesen. Von dieser Liebe, die sich ihr näherte wie erstes Berühren der Unberührten, wurde sie aufgehoben. Augenblicklich war alles frühere Erleben in ihr hinweggetilgt; sie fühlte sich rein und kindlich, sie war ohne Wissen und ohne Gedächtnis.


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