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An diesem Abend spielte Olga Frohgemuth. Sie betrat als junge Königin die Bühne; ein hohes Diadem sprühte Funken in ihrem mattblonden, weichen Haar; ihr schmales, feines Angesicht war umschimmert vom Strahl vieler Edelsteine. Zwei pfauenblaue Pagen trugen ihre weiße Schleppe. So kam sie durch ein Spalier von gleichgültig jauchzenden Statisten, kam durch eine Gasse von Chormädchen, die musternd nach ihren Juwelen blickten und ihr dabei den eingelernten Gruß mit erhobenen Armen entgegenschrien. Olga Frohgemuth lächelte im Vorwärtsschreiten. Da brach draußen in dem freien Raum, der wie die dämmernde Wölbung eines mächtigen Torbogens offen vor ihr lag, ein schallendes Brausen los, schäumte wie eine Sturzwelle heran und brandete rings um sie her.
Weit rückwärts im Stehparterre preßte sich Adalbert Klinger an die Brüstung und fühlte sein Herz gegen das harte Holz pochen. Adalbert Klinger war ein Knabe, ging noch ins Gymnasium und war vor einigen Monaten hier hereingekommen, nur aus Neugierde, um die Tochter seines Professors zu sehen, von der sie in der Schule soviel redeten. Seitdem aber stand er alle Abende im Theater. Er geriet wegen seiner griechischen Präparationen in Bedrängnis, er hatte Schwierigkeiten mit der Mathematik, sein ganzes Leben war in Unrast, in Verwirrung und in Schuldbewußtsein geraten; doch vergaß er diese quälenden Knabensorgen, wenn er hier stand, wenn Olga Frohgemuth auf die Bühne kam und lächelte, und wenn dann das süße, schmerzhafte Fieber seiner Liebe ihn durchwühlte.
Dieses Fieber flog im ganzen Saal umher, es stieg an den Galerien empor, flog durch den Halbkreis der Balkons, es schauerte über das Parkett hin und ergriff alle Männer. Auch die Frauen waren aufgeregt und wie berauscht davon. Ihre Nerven sannen dem Rätsel dieses Fiebers nach, das von Olga Frohgemuth ausging und so wundervolle Möglichkeiten für sie alle in sich zu bergen schien. Vorne in der ersten Reihe saß ein junger Mann. Der wurde leichenfahl, als Olga Frohgemuths Antlitz in festlichem Lächeln aufstrahlte. Seine Züge verzerrten sich, als Olga über ihn hinwegschaute, und er griff sich mit der Hand nach dem Herzen. Diesen Kindermund, der da oben von der Bühne her lächelte, hatte er ehegestern noch küssen dürfen; diese offenen hellen Jubelaugen, die jetzt an ihm vorbeisahen, hatten ihn ehegestern noch gekannt und gegrüßt. Er wußte nicht, was ihm bevorstand, er ahnte es nur, und eine furchtbare Angst, wie vor Kummer und Sterben, schnürte seinen Atem.
Droben, in der teppichüberhangenen Loge aber saß der Prinz Emanuel Ferdinand. Sein junges Profil tauchte blond und hell aus dem Purpurschatten der Draperie; sein Uniformkragen blitzte wie ein kleiner goldener Streif, der im Halbdunkel schwebt, und seine Hand faßte das Opernglas, das auf der Brüstung lag. Er hatte danach gegriffen, als Olga Frohgemuth erschien, aber er nahm es nicht auf. Ihm war, es sei zarter, es sei liebreicher für Olga, wenn er sie nicht durch das Opernglas betrachtete. Ihm fiel plötzlich ein, daß die eleganten Herren, die ihre Mädchen auf dem Theater immerfort durch diese Gläser beschauten, irgendwie indiskret und geringschätzig sich betrugen, daß etwas Banales schon in dieser Geste lag, und er scheute sich, Olga Frohgemuth wie eine andere zu behandeln. Auch wollte er ihr sein ganzes Antlitz unverdeckt darbieten, wollte, daß sie seine Augen und seinen Mund sehen möge, wie sie selbst ihr liebes Gesicht offen und lächelnd zu ihm emporhielt.
Olga Frohgemuth sang ein munteres Lied mit ihrer unschuldigen, durchsichtigen Kinderstimme. Manchmal aber ward diese Stimme von einer warmhauchenden Sinnlichkeit durchschwirrt, färbte sich dunkel und blühte dann auf, wie der schwere Duft von roten Rosen. Olga tanzte, indem sie ihre Schleppe den Pagen aus den Händen nahm, zusammenraffte und hochhielt. Man sah ihre runden, feinen Glieder unter der Seide des Kleides sich regen, man sah ihre junge Brust im raschen Atem sich straffen; sah ihren entblößten Rücken, ihre bloßen Schultern, frisch und leuchtend, und in ihrer kindlichen Zartheit durchströmt von Kraft. Eine vollkommene Heiterkeit musizierte in den Bewegungen ihres Tanzes. Ihre Augen lachten, als sei sie eben erst auf die Idee geraten, zu tanzen, und freute sich der eigenen wie der allgemeinen Überraschung. Ihre Oberlippe, die ein wenig geschürzt war, gab dem Gesicht einen Ausdruck von anmutiger Verdutztheit, und das Lächeln ihres Mundes war voll Freude, wie das eines Kindes, wenn es beschenkt wird. So tanzte sie, mühelos, und als werde sie von einer Empfindung des Glückes getragen. Plötzlich drehte sie sich, schwenkte die Schleppe wie eine weiße Flamme im Wirbel um sich her, stand mit einemmal ganz vorne an der Rampe still, nahm singend die Melodie des Liedes wieder auf und endigte mit einem kleinen, flatternden Schrei.
Schmetternd fegte der Beifall hinter ihr drein, als sie davonging. Sie ließ ihn draußen auf die leere Bühne niederprasseln wie Platzregen auf ein Dach. Lachend und keuchend lehnte sie, in der Kulisse, zutraulich an der Schulter des Inspizienten, als sei das ihr bester Freund. Dann mußte sie wieder hinaus, trat hervor, und zeigte dem Sturm, der sie anbrauste, ihr Lächeln. Ohne sich zu verneigen, hielt sie einen Augenblick still und lief wieder davon und kam mit erstaunten Mienen, als sei ein frohes Wunder geschehen, zu den andern, die rückwärts standen und ihr Hin- und Hergehen im Tumult des Erfolges betrachteten.
Als sie in ihre Garderobe trat, war die Mutter da, saß in dem kleinen, grellbeleuchteten, von vielen Kleidern verhängten Raum still und gerade auf ihrem Stuhl, die müden Hände in den Schoß gefaltet, Schuldbewußtsein und Angst in den glanzlosen Augen. Auf Olgas Mienen erlosch die Heiterkeit. Wie ein kleines Mädchen, das einen Streich verübt hat, stand sie da in ihrem Königinnengewand, mit dem Diadem in den Haaren. »Küss' die Hand ... Mutter«, sagte sie leise. Die Mutter nickte. Eine Weile saßen sie still beieinander. Olga sah nach den Händen der Mutter, die braun waren und voll kleiner Runzeln; sie schaute die schmalen, verrunzelten Wangen der Mutter an, dieses gepeinigte, wie unter einer Mißhandlung mutlos gewordene alte Gesicht; aber sie wagte es nicht, ihre Hände zu berühren, noch ihre Wangen zu streicheln. Dies unbedenklich zärtliche Zugreifen von einst war vorbei, war verwirkt und versunken wie die Kinderzeit. Die Mutter schien immer, sooft sie unerlaubt und heimlich hieherkam, wie von einem anderen Ufer aus mit ihr zu sprechen, und immer war eine Scheidewand zwischen ihnen, unsichtbar und undurchdringlich.
Das Schweigen bedrückte Olga, und sie rührte sich ein wenig. »Ich hab' dich nur fragen wollen ...«, begann die Mutter mit ihrer seufzenden Stimme ..., »ich hab' dich nur fragen wollen ...« Sie stockte. Vor sich hinschauend, wie jemand, der beständig seinen Kummer vor sich sieht, redete sie weiter: »... ob du nicht heute ... ob du vielleicht ... ob dich vielleicht jemand gesehen hat ...?«
»Der Vater!« rief Olga leise und erschrocken. Dann aber mit einer kleinen Hoffnung im Ton: »Hat er was erzählt ...?«
»Kein Wort ...«, entgegnete die Mutter, immer vor sich hinschauend. »Er ist nur so bös und zornig nach Haus gekommen, heute mittag ...«
»Kein Wort ...«, sagte Olga, und mit einem Anflug von Trotz fuhr sie fort: »Ich bin ja gestorben für ihn ... Man darf ja nicht reden von mir zu Hause ...«
Die Mutter nickte. »Er hat's verboten ... du weißt ja.«
Olga begann laut zu weinen, wie ein Kind, das sich angestoßen oder im Fallen weh getan hat. Mit herabhängenden Armen und erhobenem Gesicht weinte sie und rief fassungslos schluchzend: »Vater! Vater!«, während ihr die großen hellen Tränen stromweise über die Wangen in den Mund liefen.
Die Mutter saß still.
Olga sah die enge Wohnung vor sich, den Vater in der Stube mit harten Schritten auf und ab gehen, sah ihn auf dem Sofa liegen und schlafen, wie er nach Tisch pflegte. Sie sah den einen Pantoffel auf der Erde liegen, der ihm gewöhnlich vom Fuß fiel, sah die weißbestrumpfte bloße Sohle sich regen, wurde von der Erinnerung durchzuckt, wie es sie immer als eine ungeheure Lust und eine furchtbare Gefahr gereizt hatte, diese Sohle zu kitzeln – und ein schneidendes Heimweh zerriß ihr das Herz.
»Vater ...«, schluchzte sie. Aber die helle Tränenflut, die aus ihrem innersten Gefühl so leicht und so reich hervorbrach, hatte auch die Eigenschaft, all die Traurigkeit gleich mit sich wegzuwaschen und fortzuspülen.
Olga wurde ruhig, trocknete ihr Gesicht, stand auf und begann ihr Diadem, ihre Halskette, ihre Armbänder, ihren ganzen Schmuck sorgsam und andächtig abzulegen. Sie hakte ihr Königinnenkleid auf und streifte es von den Hüften, daß es wie ein weißer Wellenschaum mitten auf dem Boden lag. Da stieg sie daraus hervor, im Hemdchen, löste ihr Haar, trat vor den Spiegel und brachte die vom Weinen zerflossene Schminke mit flinken, ernsten Handgriffen wieder zurecht.
»Wie geht's der Hermin'?« rief sie der Mutter zu.
Die Mutter seufzte.
»Und der Herr Lehrer Plaschek ...?« rief sie weiter.
»Wenn man wüßte, wann er wirklich Professor wird ...«, sagte die Mutter.
»Ah was, darauf soll man nicht warten«, rief Olga. »Jetzt dauert das schon lang genug ...« Sie begann sich zu kämmen. »Die Hermin' hat ja mich, wenn sie was braucht ...«, lachte sie.
»Ja«, sagte die Mutter.
»Und der Anton ...? Was macht der Antonioooh ...?« sang Olga.
»Ich hab' dich noch was fragen wollen ...«, fing die Mutter an.
Olga wandte sich zu ihr.
»Was denn?«
»Ich hab' dich fragen wollen ... was nämlich ... es steht heute in der Zeitung ...«
»Emanuel!« Unbedacht war ihr's entschlüpft.
Jetzt sah die Mutter auf. Da stand Olga vor ihr, halb nackt in dem dünnen, verschobenen Hemd, und von ihrer zarten Brust stieg langsam eine feine Röte auf, über Hals und Kinn und Wangen, bis an die lichten Haare, stieg und flammte immer heißer und dunkler.
Die beiden schauten sich an, es war ganz und gar still, in dem engen Raum, und nur dies Erröten geschah, wie ein Ereignis.
Olga flüsterte: »Mutter ...« Dann aber fiel sie über die alte Frau her, lag in ihrem Schoß, umklammerte ihren Hals mit den Armen und barg alle Scham und alles Glück, das ihre Mienen überströmte, wühlend und schmiegend an der Brust der Mutter.
Die hielt den warmen, sprühenden Körper des Mädchens umfangen, drückte ihn an sich und schaute über sie fort ins Leere, immer auf denselben Punkt.
Die elektrische Klingel schreckte die beiden auf und löste sie voneinander. Es ward an die Tür gepocht, und Olgas Garderobefrau trat ein.