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Der Professor hatte gefrühstückt und war eben dabei, die paar Bücher zurechtzulegen, die er für heute in die Schule mitnehmen mußte. Die Mutter, Hermine und Anton schauten zu, wie er hantierte, blickten nach der Uhr und wußten, um halb acht werde er pünktlich wie immer das Haus verlassen. Es fehlten nur noch wenige Minuten, und sie warteten ohne Ungeduld. Die Bangigkeit, die sie gestern abend um Olgas willen empfunden hatten, war jetzt beinahe gänzlich von ihnen gewichen. Durch das offene Fenster kam der linde Hauch des jungen Tages herein, die Frühsonne brach mit breitem Strahl durch die weißen Spitzengardinen, ließ die Kanten der Möbel aufschimmern und lag in einem goldenen Streif quer auf dem Fußboden. Auf dem Tisch blinkte das Frühstücksgeschirr, und in dieser ganzen Morgenstunde war ein solches Fortschreiten des Lebens, daß sie sich alle drei beschwichtigt und zuversichtlich fühlten.
Da wurde draußen an der Wohnungstür die Klingel gezogen. Sie horchten auf, sahen einander flüchtig an und meinten, es sei der Briefträger. Anton sprang neugierig hinaus, als er das Dienstmädchen aufschließen hörte. Die Mutter begann unruhig zu werden und rückte die Kaffeetassen zusammen. Eine fremde Stimme klang gedämpft herein, jemand, der draußen auf dem Treppenflur stand und sehr schnell, wie erhitzt, redete. Im Zimmer lauschten sie, ohne etwas zu verstehen, und waren gespannt.
Aus dem Gemurmel da draußen drang plötzlich ein Schrei. Anton hatte geschrien. Mit einem wehen kindischen Laut, wie vor Zeiten, wenn er als kleiner Junge geschlagen worden war. Der Professor hob die Augen von den Büchern und schaute fragend umher. Die Mutter hatte sich setzen müssen und hielt mit beiden Händen ihre bebenden Knie. Nun schrie Anton zum zweiten Male, und da brach er auch schon zur Tür herein, blaß und nach Atem ringend, stand wankend vor dem Tisch, und rief, während ihm die Tränen über die Wangen stürzten: »Die Olga ist gestorben ...« Dann wieder, jammernd und beinahe fragend, wie einer, der noch nicht begreift, was er sagt: »... die Olga ist gestorben ...« Er fiel in einen Stuhl, legte die Arme verschränkt auf den Tisch, vergrub den Kopf hinein, schluchzte fassungslos vor sich hin, und die anderen sahen nur sein dunkles Haar und seine Schultern, die wie in einem Krampf geschüttelt waren.
Der Professor war bleich geworden, und eine furchtbare Verwirrung überfiel ihn. Gleich einem Gefäß, das zu Boden stürzt und in Stücke springt, brach da irgend etwas in seinem Inneren entzwei, lag geborsten und in Scherben da und durchdrang ihn mit dem Nachhall der Vernichtung. Er hatte nichts von dieser Hoffnung gewußt, die ihm nun auf einmal entsank. Sie war ganz verdeckt und verborgen dagewesen, und er bemerkte sie jetzt erst, da sie unter Antons Worten wie unter einem Schlag und Sturz laut klirrend in ihm zerbrach. Und wie ein zertrümmertes Gefäß seinen Inhalt verströmt, fühlte er sich plötzlich überschüttet von dem flutenden Schmerz eines enttäuschten Erwartens, fühlte sein Wesen jählings bespritzt und gefärbt davon. Auch von diesem Erwarten hatte er nichts gewußt, hatte nicht gewußt, daß er irgend einer Genugtuung entgegen harrte, irgend einem fernen Augenblick entgegen lebte, der ihm groß und feierlich recht geben und ihm Verlorenes wiederbringen sollte. Das hatte tief in ihm gewurzelt, trieb nun mächtig nach oben, ward in der Erschütterung dieser Sekunde aus dem Grund seiner Seele heraufgespült und nahm ihm die Fassung.
Dann aber, wie jemand, der sein Haus vor dem herandringenden Unwetter verrammelt, schloß er alle die Zugänge zu seinem Herzen, die unter dem jähen Anprall zu klaffen drohten. Mit zusammengepreßten Lippen schaute er streng umher. Hermine stand bei Anton, hatte ihm ihre Hand aufs Haar gelegt und sah zum Vater her, mit einer bohrenden Frage in den Augen. Die Mutter hob ihren Arm zu ihm auf, als wolle sie nach ihm greifen. Der Professor fürchtete diese Berührung; er fürchtete, mit diesem leisen Anrühren könne ihm jetzt alles entwunden, könne alles von ihm abgestreift werden, was er in seinem beleidigten Herzen zwischen sich und den Geschehnissen der letzten Jahre aufgerichtet hatte. Er wollte sich verständlich machen. Er fühlte sich verirrt und allein, als sei er plötzlich vor eine Mauer gestellt, die ihm den Schritt sperrte. Er wollte seine Frau und seine Kinder mit einem starken Wort erreichen, denn sie schienen ihm fern und von ihm getrennt. Aber er konnte jetzt nichts denken und hörte sich mit einem Male sagen: »Diejenige, von der hier gesprochen wird, ist längst gestorben ... das sollte man wissen ...« Es klang gepreßt, und ein mühsam verhehltes Zittern schwebte durch die harten Worte. Er hörte sich selber sprechen. Sein Wesen war entzweigeteilt, die eine Hälfte redete gleichsam von selbst, ohne daß er es zu hindern vermochte, und die andere Hälfte lauschte erstaunt, überrascht und erschrocken.
Antons Weinen verstummte augenblicklich, und es war eine Sekunde lang ganz still im Zimmer. Dann wehte ein leises Stöhnen durch den Raum, das von den Lippen der Mutter glitt. Es kam wie von weither. Es war ein Laut, als ob er bluten würde, und es hörte nicht auf. Alle sahen, daß die Mutter reden wollte und daß sie es nicht konnte. Der Professor fühlte, daß eine vollkommene Mutlosigkeit ihn überkroch und daß er sich jetzt in alles ergeben werde.
Da sprach Hermine. »Das gibt es nicht!«, stieß sie hervor, »das gibt es nicht!« Sie war außer sich. Trotz und Drohung sprühten von ihren Mienen zum Vater hinüber. Den Professor aber riß es aus seiner Schwäche. Seine ganze Strenge erhob sich in ihm gegen die Auflehnung. Er sah jetzt nur die Tochter, die sich herausnahm, wider den Vater zu streiten; er sah nur, daß seine Weltordnung gestört und verletzt werden sollte, und augenblicklich wurde er hart.
»Du schweigst!«, herrschte er Hermine an, daß sie zurückprallte. »Niemand hat hier zu reden ... schweige!«, schrie er noch stärker, als er sah, daß sie entgegnen wollte. Je lauter er schrie, desto quälender empfand er, daß er allein sei. Er wußte, daß er den anderen weh tat, und das war wie eine schmerzende Berauschtheit in ihm, die ihn mit fortriß. Sein Schreien deckte das Stöhnen der Mutter zu, das unaufhörlich und wie aus tiefen Wunden dahinfloß. Er flüchtete vor diesem Stöhnen in eine tobende Heftigkeit, und der Schall seiner Stimme war wie ein wallender Nebel um ihn, darin er sich geborgen, aber auch festgehalten und gefangen vorkam, und den er nicht zu durchdringen vermochte.
»Was ich gesagt habe, ist gesagt ... heute wie vor vier Jahren!«, schrie er Hermine zu. »Du kannst das Haus verlassen, wenn du nicht gehorchen willst ... auf der Stelle ... du wärst ja die erste nicht, die aus dem Haus geht ..., die erste nicht ...«, keuchte er. »Wer weiß, ... vielleicht ist das eine Mode dahier ... eine nach der anderen ...«
Er raffte seine Bücher zusammen, riß den Hut von der Wand, ging stürmisch hinaus und schmetterte die Tür hinter sich zu.
Auf dem Weg zur Schule machte der Professor Ordnung mit sich selbst. Hatte er diese ganzen Jahre her nicht immer daran festgehalten, daß Olga für ihn und die Seinigen tot sei? Dieses Kind hatte ihm damals, als sie aus dem Elternhause floh, all die Jahre des Beisammenseins, des Aufwachsens, der Sorge und Erziehung, den ganzen Schatz von gegenseitiger Neigung und Nähe, den er in ihrem Gemüt aufgespeichert wähnte, vor die Füße geworfen. Was er für Olga in seinem Herzen hegte, das hatte nun nicht mehr zu den Trümmern gepaßt, die da vor ihm auf dem Boden lagen, das war nun auch entwertet, sinnlos geworden und zerstört. Er kam sich gescheitert vor, verleugnet als Vater, in seiner ganzen Menschlichkeit bloßgestellt und ruiniert, weil nun ein Kind an ihm vorbei, über ihn hinweg, ins Leben hinaus entsprungen war.
Um sich zu retten, hatte er damals, beinahe aus seinen Instinkten heraus, sich von Olga abgewendet, hatte sich entschieden, die Davongelaufene zu verwerfen, Schluß zu machen mit ihr, einen Sargdeckel über sie zu legen und sie wie eine für immer Dahingeschiedene zu betrachten. Schlimmer noch und strenger war er zu Werke gegangen, hatte, als die Zeit verging und Olga nicht zurückkam, ihr ganzes Dasein gewaltsam in sich ausgelöscht, alle Erinnerungen an sie verwischt, alle ihre Spuren in seinem Haus getilgt, und sich geübt, wenn seine Gedanken in die Vergangenheit schauten, über Olgas Gestalt hinwegzusehen, wo immer sie auch auftauchen mochte. Ihr rosiges Daliegen in der Wiege, ihr lallender Kinderjubel, mit dem sie ihm einst ins Herz griff, ihr unschuldiges kleines Gesicht, das immer lachte, ihr helles Singen durch das ganze Haus, als sie größer wurde, all das hatte er in sich begraben, und das war nicht leicht gewesen. Er war hart geworden in diesem Kampf, alt und in sich selbst verkrochen.
Aber das war nun ausgekämpft, war nun durchgelitten. Sollte er diesen Kampf heute zum zweitenmal aufnehmen, zum zweitenmal der Trauer und dem Schmerz sich öffnen? Sollte er jetzt sagen: Meine Tochter ist gestorben ..., und damit zugeben, daß sie bis heute gelebt habe? Da würde der Vater, der sein Kind hatte verstoßen wollen, gerade so zuschanden werden, wie vordem der Vater, der sich's eingebildet hatte, er könne sein Kind zum Gehorsam zwingen. Zum zweitenmal würde er an Olga scheitern.
Mit festen Schritten betrat er die Schule. Ganz zugeschlossen war sein Gesicht und in allen Zügen verhärtet, und hart gingen seine Augen über die Klasse hin.
Wenn er sprach, dann schwoll manchmal durch die strenge Kälte seiner Stimme das Atmen einer gewaltsam geschnürten, heißen Bitterkeit. Der Professor merkte, daß sein Inneres wie kochend überlief, und seine Mienen wurden noch starrer.
Da fühlte er sich von irgendwoher angeschaut, fühlte sich berührt und belauert von zwei spähenden Augen. Er wandte sich schnell danach um, und Adalbert Klinger senkte wie ertappt das Haupt. Eine Sekunde lang betrachtete er Klinger aufmerksam und war betroffen, denn Klinger saß da wie einer, der jeden Moment zusammenzubrechen droht, verstört und leichenblaß und als ob der Boden unter ihm wanken würde. Im Herzen des Professors stieg ein jäher Zorn auf, der ihn aber gar nicht ergriff und ihn nicht mit sich fortriß, sondern gleich wieder spurlos verlöschte. Erstaunt darüber und geschwächt davon, bestieg er das Katheder, setzte sich nieder, verschanzte sich hinter dem Pult vor dem Knaben dort, der ihm abstoßend und aufregend erschien, und dem er sich jetzt doch wieder auf eine unerklärliche Weise verbunden fühlte.