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In der Dorfkirche sangen die Kinder.
Es war Abend. Aber die weißgetünchten Wände hielten das Licht hier innen noch zurück, und als fände sich der Frühlingstag bei den Kindern zum Verweilen genötigt, machte er sich nur allmählich davon. Er lag erst noch zaudernd auf den lichtgelben Holzbänken. Er stieg dann mit den hellen Tönen des Liedes, das die Kinder sangen, langsam an den Pfeilern empor. Saumselig blieb er in den Bogenfenstern haften, wo er mit den gemalten Glastäfelchen ein feuriges Spiel anhob und sich zuletzt, als er alle die bunten Scheiben zu jähem Aufleuchten entfacht hatte, glanzvoll verabschiedete.
Die Kirche war ganz schmucklos. Nur der Hochaltar schimmerte in Gold und Silber, und das alte Heiligenbild darüber glühte in einem tiefen Akkord nachgedunkelter, üppiger Farben. Frisches Blattwerk umgab den Tisch des Herrn zu beiden Seiten, und die weiße Spitzendecke darauf ging wie ein helles Band von Busch zu Busch. Aus dem Laub hervor brach ein Getümmel vieler Blüten: Treibende Kirschbaumzweige. Jungerschlossener Rhododendron. Weiße Akazien, die herabgleitenden Wachstropfen glichen. Anmutig nickende Fuchsien, tief errötet, mit gesenktem Haupt. Purpurne Gladiolen. Aufrechte Sonnenblumen, prangend wie Monstranzen. Und in einem langen Streifen duckten sich sanftblaue Vergißmeinnicht demütig unter dem Tabernakel.
In zweifacher Reihe, rechts und links vom heiligen Bilde brannten auf hohen, silbernen Leuchtern die Kerzen mit schwachen Lichtpünktchen, die, ineinander flimmernd, eine funkelnde Goldschnur zu bilden schienen.
Weit über den Altar gebeugt, das Haupt in die gefalteten Hände vergraben, lag der Katechet, eingehüllt im Rauchmantel aus Brokat, der, von eingestickten Blumen und heiligen Zeichen übersät, die schmalen Schultern des jungen Priesters mit fürstlicher Pracht umgab. Zwei Schritte hinter ihm, auf dem roten Teppich, der die Altarstufen deckte, stand ein blonder Knabe im weißen Chorhemdchen und schwang aufmerksam das Rauchfaß.
Da stiegen, in raschen, dünnen Säulen, die Weihrauchdämpfe auf, lagen um das Bild wie graues Gewölk, und die Muttergottes sah lieblich daraus hervor, als habe der Himmel sich geöffnet.
Die kleine Veronika blickte unverwandt in dieses Angesicht und sang ihr Lied der holden, lächelnden Frau dort droben zu. Zurückgelehnt saß sie dabei in der ersten Bank, hielt ihr Gebetbuch in der Hand, aber ihre Augen gingen aufwärts, zum Antlitz der Heiligen und darüber hinaus zu der weißen Taube, die ihr zu Häupten schwebte.
Laut sang sie mit ihrer dünnen Stimme und hörte sich selber ganz deutlich unter allen anderen und hatte das Gefühl, als sei es so recht, als sei sie von den übrigen Kindern da nun die Allererste. Denn jetzt war sie ja auserlesen, und morgen sollte sie dorthin gehen, wo der heilige Geist mit seinem Fittig ihre Stirne berühren werde.
Oben an der Kirchendecke schossen ein paar Schwalben hin und her, flogen zutraulich tiefer und schwangen sich dann plötzlich wieder empor und nahmen sich aus wie die Wünsche der betenden Kinder, die nun verkörpert aufflatterten und an die Kirchendecke stießen.
Die kleine Veronika hörte ihr kurzes Zwitschern wie leises, eiliges Rufen durch das Singen. Sie atmete den taufeuchten Duft der Blüten, den lauen Weihrauch, der vom Altare herkam, und lächelte. Sie dachte weit über die Kirche hinaus, und als seien die Wände durchsichtig, sah sie draußen die Äcker und Wiesen und die freundlich ansteigenden Weinberge ihres Dorfes. Und weiter schaute sie jetzt von ihrer Bank aus, als man je von den Höhen der engvertrauten Landschaft zu blicken vermochte. Sie sah in ein grünes Tal, das sie nicht kannte, mit einem großen Strom, der silbern und feierlich in der Tiefe dahinging. Ganz in der Ferne aber, fast verschwimmend schon, eine ungeheure Kirche mit weitgeöffneten riesigen Toren. Dort sollte sie eingehen. Und über dem ganzen Land lag ein heller Ton wie Glockengeläute. Ein hochatmendes Gefühl tat sich in ihr auf, und ihr andächtiges Hoffen sprach es aus: ›Alles ist nah, jetzt ...‹
Dann schaute die kleine Veronika wieder zur Muttergottes und nickte ihr zu, dankbar und versöhnt. Im vorigen Jahre war es schlimm zwischen ihnen gewesen. Da hatte sie weinend vor dem Bilde auf den Knien gelegen und um eine Patin gebeten, die sie mit nach Wien nähme, ihr ein weißes Kleid schenke und sie in die Stefanskirche führe, wo der Erzbischof die Kinder firmt. Damals hatte sie wieder nichts bekommen, und es war schon der dritte Sommer ihres Wartens. Zornig war sie dann vor das Marienbild getreten und hatte unter Tränen die Freundschaft gekündigt: ›Wenn du mich nicht magst, dann will ich dich auch nicht mehr lieb haben ... Ich kann nichts dafür, nur du bist schuld!‹
Lange blieb Veronika sehr unglücklich über diesen Zwist, ging schmollend zum heiligen Florian beten, der auf einem kleinen Seitenaltärchen stand. Aber, in Gold gerüstet und mit strengem Antlitz, blieb er ihr fremd und mochte sie nicht gewinnen. Und später noch, nachdem die Buße schon getan war, die ihr der Katechet für das schwere Vergehen in der Beichte auferlegt, hatte sie nicht gewagt, die Augen zur Muttergottes aufzuschlagen. Aber heute saß sie in der ersten Bank, und während die Kinder sangen, hob sie ihre Blicke zu der lieben Frau, und die lächelte wie einst. Es war ein glückliches Wiedersehen. Veronika faltete die Hände: ›Gegrüßt seist du, Maria, ich danke dir, daß ich zur Tante Rosi darf, daß sie sich um mich annimmt. Du bist voll der Gnaden ...‹
Da brach das Orgelspiel mit Donner hervor, und über sie hinweg, von rückwärts her, rollte der Klang, der vor seiner eigenen Kraft zu beben schien. Und Veronika begann mit dem Orgelton zu zittern, denn in ihr war die Erwartung ungeahnter Dinge aufgewacht und wuchs so stark, daß ihre Pulse höher schlugen. Mit benommenem Atem schaute sie auf den zelebrierenden Priester. Er hatte sich aufgerichtet. Aber während die Orgel dröhnte und die Kinder sangen, stand er gesenkten Hauptes, wie überströmt von den Tonfluten, die alle gegen den Altar schlugen.
Veronika spürte plötzlich, wie ihr Strumpfband sich löste und wie der Strumpf rasch herabglitt. Sie erschrak, weil ihre Andacht nun dahin war. Eine Zeitlang saß sie still, wollte wieder mitsingen und den Strumpf vergessen. Aber sie fühlte sein rasches Abgleiten und wie es ihr kühl wurde an dem bloßen Bein. Da sah sie rasch und fragend zum Bild empor, und weil die Maria noch immer gütig lächelte, winkte sie ihr zutraulich und brachte dann den Schaden wieder in Ordnung. Eben erklang das Glöcklein, und wie ertappt fuhr Veronika zusammen. Der Gesang verstummte. Lautlos stille war es in der Kirche. Noch einmal zuckte durch das Schweigen der scharfe, mahnende Silberklang. Alle Kinder knieten nieder und duckten die Köpfe. Auch Veronika war niedergekniet. Aber sie senkte ihr Antlitz nicht, sie schlug nicht an ihre Brust. Sie blickte zum Altar hin, voll Sehnsucht, Aufregung und Angst. Da stieg der junge schlanke Katechet aufrecht die Stufen hinan, und bei jedem Schritt, den er langsam und feierlich tat, stieg auch die Angst in Veronika und kämpfte mit ihrem Verlangen. Schon sah sie, wie seine ausgestreckte Hand das Tabernakel öffnete. Noch einmal rief die Glocke, allein Veronika schlug die Augen nicht nieder. In ihr war nur ein einziger Wunsch: der Katechet möge sich ihr zuwenden, daß sie das Allerheiligste schaue in seinen Händen. Und nun kehrte sich der Priester zur Gemeinde, drehte sich langsam, als sei er jetzt von einer ungeheuren Last beschwert und in allen Bewegungen gebunden. Weihrauchwolken wirbelten empor und umhüllten seine Gestalt. Und wie eine aufgehende Sonne strahlte die Monstranz über alle die gebeugten Köpfe.
Nur die kleine Veronika schaute offenen Auges in die Herrlichkeit. Überwältigt von einer grenzenlosen Andacht, fühlte sie: Es ist nahe!
Vor der Kirche draußen blieb sie dann noch eine Weile stehen, indessen die andern Kinder sich verliefen. Die Dämmerung war schon ganz herabgesunken, und aus den Hütten begannen kleine Lichter zu schimmern. Der Bub, der das Rauchfaß geschwungen hatte, kam eilig aus der Sakristei. Er war barfuß und trug sein Schuhzeug in der Hand. Unversehens sprang er auf Veronika zu, klappte die Sohlen seiner Stiefel vor ihrem Gesicht knallend aneinander, daß sie erschrocken zusammenfuhr. Er lachte: »Servus, Veronika!« und lief davon. Gleich hinter ihm kam der Katechet. Sein dunkler Rock und sein hoher Zylinderhut machten ihn noch schlanker, daß er wie ein schmaler schwarzer Streif von der weißen Kirchenmauer sich abhob. Veronika ging ihm entgegen und küßte die Hand, die eben erst das Allerheiligste gehalten. Eine tiefe Ehrfurcht erfüllte sie dabei und das Bedürfnis, sie auffallend zu äußern; zugleich auch Rührung über irgend etwas, und sie küßte noch einmal inbrünstig die magere, warme, hier in der Dämmerung so weiße Hand, daß der Katechet diesen Kuß wie eine dringende Ansprache wahrnahm und stehen blieb. »Wann fährst du also nach Wien?«
»Morgen«, sagte Veronika, bog den Kopf zurück und sah ihm von unten her in die Augen. »Morgen – und übermorgen werd' ich gefirmt.«
»Sei nur brav!«
»Ja, ich will immer brav sein«, sagte sie ganz laut, und wie befreit wiederholte sie: »Immer!« denn es war ihre Sehnsucht gewesen, dieses Gelöbnis vor einem Menschen auszusprechen.
»Bist ja schon ein großes Mädel – bald aus der Schul', nicht wahr?«
»Im September werd' ich vierzehn ...«
»Schon? Na, dann bist d' auch nicht zu früh dran mit der Firmung.«
Veronika begehrte sich vollends mitzuteilen: »So lang hab' ich warten müssen! Immer hab' ich die Muttergottes bitt' ...«
»Ich weiß«, sagte der Katechet und entsann sich dabei des Zerwürfnisses der kleinen Veronika. Auch ihr fiel es augenblicklich wieder ein, und wie sie sich jetzt beide in die Augen sahen, erspähte einer in des anderen Blick die verlegene Erinnerung an jenen Vorfall. Der Katechet knüpfte ohne weiteres daran an: »Es ist nichts versäumt, mein Kind, du bist nun verständiger geworden ...« Veronika hatte jedoch die Sache nach einer anderen Seite zu Ende gedacht: »Meine Tant' führt mich zur Firmung«, sagte sie rasch. »Nämlich, meine Tant' ist in Wien. Schon seit zehn Jahren, und es geht ihr sehr gut, und sie hat g'schrieben ...«
»Ich weiß, Veronika, ich weiß«, sagte der Katechet und wandte sich ab.
Veronika erschrak, und ohne zu wissen warum, dachte sie, es sei unpassend gewesen, jetzt von der Tante zu reden. »Geh schön nach Hause«, sagte der Katechet mild und schritt an ihr vorüber.
»Ja, ja, ich geh schon,« antwortete sie demütig, »gelobt sei Jesus Christus«, und sie langte wieder nach seiner Hand. Er gab sie ihr, ohne stehen zu bleiben. »In Ewigkeit ...«, hörte sie ihn murmeln.
Dann sprang sie hurtig den sanft abfallenden Wiesengrund des Kirchhofs hinunter. Bald hatte sie den Feldweg erreicht, und noch einmal zurückschauend, gewahrte sie den wohlbekannten steinernen Engel, der über die Mauer spähte.
»Dein Kleidl is fertig«, sagte die Mutter, als Veronika in die Stube trat. Veronika ging mit freudigen Augen an das Bett der Eltern heran, darauf das weiße Firmungskleid ausgebreitet lag. Sie staunte über die vielen Rüschen, über die blauen Maschen und stieß vor Wonne ein kleines, seliges Ah hervor, als sie die zierlichen Spitzen gewahrte, die das Brustteil beinahe königlich schmückten. Aufgeregt wandte sie sich zu ihrer Mutter und war betroffen, keinen Schimmer von Festlichkeit auf ihren Mienen zu sehen. Die Mutter stand nachlässig, wie alle Tage, in derselben blauen Schürze, im selben, kreuzweis um die Brust geschlungenen roten Wolltuch, und hob eine Schüssel vom Herd. »Komm essen«, sagte sie in ihrem gewöhnlichen, müden Ton. Veronika trat an den Tisch, wo der Vater im braungestrickten Janker saß, den Rücken gebeugt in einer starken Krümmung, deren Linie sie wohl kannte, als eine trübselige, die kindliche Munterkeit beständig fortscheuchende Silhouette. Er hatte den Bierkrug vor sich, den irdenen, mit dem ausgebrochenen Schnabel, und er schnitt das Brot, das er aß, mit einem großen Taschenmesser in lauter kleine Stücke. Auch er hatte nichts Freudiges, wie Veronika einen Augenblick erwartete. Er saß da mit seiner ruhegebietenden, verdrießlichen Miene, vor der sie immer in Angst geriet.
Die Mutter stellte das Essen auf. Und als ob ihr, da sie nun in den Lichtkreis des Tisches trat, das glückliche, erschütterte Gesicht Veronikas ein Wort abzwingen würde, sagte sie zu ihrem Manne, auf das Kleid deutend: »Das is a Freud', jetzt'n.« Ein Brummen war die Antwort, während der Vater rasch seinen Löffel in die Schüssel tauchte.
Veronika aß und sah ihre Eltern dabei an. Sie blickte in der engen Stube umher. Der Schubladkasten mit den blanken Messingreifen an jedem Fach war immer die Zuflucht ihrer Sehnsucht nach Schönheit gewesen. Da stand obendrauf das Kruzifix, dann das Bild des Kaisers, so rätselhaft gefügt, daß der scheinbar goldgeschnitzte Rahmen, das rosige Antlitz, wie die ordenbedeckte Brust aus einem Stücke waren, und das ganze Werk niemals auseinander fallen konnte. Daneben standen rechts und links zwei Leuchter aus Silberglas, darinnen, aus bunten Papierkrausen aufragend, je eine bleiche Kerze. Und noch ein Porzellannäpfchen stand da, das in zierlichen Goldbuchstaben den Namen Veronika trug. Veronika überschaute zufrieden die wohlgeordnete Pracht, dann blickte sie vor sich hin auf das weiße, abgeschabte Holz des Tisches und verfolgte unter anderen kleineren eine große Furche, die der Äderung entlang lief und in einem Astloch endigte. Mit dieser Furche hatte sie immer gespielt und sie mit solcher Beharrlichkeit die Donau genannt, daß auch Vater und Mutter von diesem Einschnitt nicht anders als von der Donau sprachen. Wurde einmal unversehens Wasser vergossen, und um der Kleinen das harmlose Vergnügen zu gönnen, hatte die Mutter in früheren Tagen manchmal mit Absicht das Glas zum Kippen gebracht, dann ward es in die Furche gelenkt, wo es wie ein munteres Bächlein flink dahinschoß und rasch ablaufend durch das Astloch auf die Erde tropfte. Jetzt sah Veronika die Donau an, die vertrocknet war, dann die Eltern und zuletzt die trüb schwelende Lampe, die, mit einer angerauchten Blechblende versehen, von der Decke niederbaumelte. Und es war ihr auf einmal in der Enge hier, als sei alles nur einstweilen so, als stünde alles in dieser Stube eben vor einer wichtigen Entscheidung, und ohne weiter nachzudenken, war sie überzeugt, daß sie, von Wien zurückgekehrt, alles wunderbar verändert finden werde.
»Morgen erwartet s' dich, die Tant'«, sagte die Mutter.
Veronika sah auf und lächelte.
»Hat s' g'schrieben, dei' Schwester?« brummte der Vater.
»Ja – heut ... der geht's gut.«
»Da kann's einer leicht gut gehn ...« Ein Blick der Mutter und der Vater schwieg. Dann aber lachte er und sagte: »Das trifft a jede ...«
Veronika hatte oft in dieser Art von ihrer Tante reden gehört und sich dabei gedacht, daß sie ein müheloses, glänzendes Leben führen müsse. Sie selbst konnte sich nur ganz dunkel auf die Entfernte besinnen, die seit zehn Jahren niemand im Dorf zu Gesicht bekommen hatte.
»Lauter seid'ne Kleider hat s' ...«, hatte die Mutter einmal gesagt, und dabei war ein ungewöhnlicher Respekt in ihren Mienen gelegen.
Droben unter dem Dach in ihrer Kammer bereitete sich Veronika, die Nacht zu bestehen, wie ein Hindernis, das noch zwischen ihr und der ersehnten Wendung aller Dinge lag. Eilig hatte sie ihre Kleider abgestreift und stand nun im kurzen Hemdchen vor ihrem Bette, glättete rasch die Kissen, dann schlüpfte sie behend in die kühlen waschfeuchten Linnen, als fürchtete sie durch das eigene Säumen den Gang der Zeit zu hemmen. Da lag sie auf dem Rücken und faltete die Hände: »Vater unser ...«, hierauf den englischen Gruß, den sie immer zu ihrer Muttergottes betete und bei dessen Worten sie das Antlitz jenes Bildes stets so lebendig vor Augen hatte. Heute sagte sie noch mit Innigkeit den Glauben dazu: »Ich glaube an Gott, den Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde ...« Weil sie aber gar nicht einschlafen konnte, begann sie in der Dunkelheit eine vertraute Zwiesprache mit der heiligen Maria, mit Gott selbst, und kam zuletzt in eine muntere Unterhaltung mit jenem Engel ihrer Bekanntschaft, der ihr von der Kirchhofmauer her nachgeschaut hatte, als sie heute abend heimgelaufen war. Denn das war ein besonderer Freund von ihr. Drei Jahre lang lag der verstorbene Pfarrer nun in der Erde, und seit zwei Jahren bewachte der liebe, kleine Engel aufmerksam, mit bescheiden gefalteten Flügeln das Grab des freundlichen, alten Herrn. Veronika erinnerte sich, wie sie ihn das erstemal gesehen, als sie eines Morgens aus der Schule kam und er plötzlich schneeweiß auf dem blumigen Hügel stand, als sei er gerade erst vom Himmel herabgeflogen. Sie hatte gleich eine starke Zuneigung zu ihm gefaßt und an vielen Sommertagen mit ihm allerlei fromme und geheimnisvolle Spiele getrieben.
Nun fiel ihr ein, ob er morgen vielleicht nach Wien fliegen werde, und sie malte sich aus, wie er schon dort angelangt ist, bis sie zur Stefanskirche kommt, wie er am Altare steht oder auf dem Weihbecken, mit bescheiden gefalteten Flügeln, und sie erwartet. Alle Engel kommen morgen nach Wien, beschloß sie sofort, und vor ihren schlaftrunkenen Augen schimmerte es in der Dunkelheit wie weiße fließende Gewänder, also daß sie einschlummernd ihr Lager von Engelscharen umgeben sah. Die kleine Veronika flüsterte noch im Halbtraum. Draußen aber dampfte die Erde im Keimtrieb des Mai, und ein starker Duft kam von den Wiesen herein, in sanften Wellen, wie ein warmer, lautloser Atem.
Schon seit einer Stunde fuhr die kleine Veronika in der Eisenbahn, und es war ihr, als lägen unendliche Fernen zwischen ihr und dem Dorf. Entzückt schaute sie auf fremde Hügel, die still von weitem standen, auf fremde Wiesen und Äcker, die mit zahllosen Furchen das Gelände hinan liefen, und als der Zug aus dem blühenden Tal herauseilte, war es ihr, als wolle er sich zu dem Strom niederstürzen, der in sachter Tiefe dahinzog. Die Welt tat sich auf und begann ihr aus allen Schollen zuzurufen.
Als sie die Station Tulln an der Donau verließen, begann die Sonne rascher zu sinken. Das Abendrot am Himmel verlöschte in wenigen Minuten, und der Strom, der eben noch leuchtend vorübergezogen war, hüllte seine Wasser in flimmerndes Grau.
Das Coupé, darin die kleine Veronika saß, war auf einmal mit Soldaten angefüllt, die in Tulln eingestiegen waren. Auch ein Radfahrer war hereingekommen, ein ganz dünner Mensch mit einem schwarzen Leibchen, dem vorne auf der Brust ein großes Monogramm, in gelben Fäden eingestickt, prangte. Er setzte sich der kleinen Veronika gegenüber, sah sie mit trüben Augen wie bewußtlos an, nahm die Kappe herunter und begann sich eifrig von Stirn und Kopf den Schweiß zu wischen. Veronika rückte dichter an die Wand und blickte zum Fenster hinaus auf die verdämmernde Landschaft. Der Zug begann rascher zu fahren, und sie vernahm das Rollen der Räder, als käme es von drüben, von jenseits des Stromes. Das rhythmische Klingen und Schleifen brachte ihr bekannte Töne ins Gedächtnis. Die Tenne daheim auf dem Dorfe fiel ihr ein, und ihr war, als werde drüben, das andere Ufer entlang, wo schon die Dunkelheit auf die grünen Weidenbäume fiel, eifrig gedroschen. In den Lärm der Eisenbahn, der sie umhüllte, wurden die Gespräche der Soldaten verschlungen und kamen nur als ein undeutliches Gewirr von Lauten an ihr Ohr. Der Radfahrer saß ihr gegenüber, blickte aufmerksam ins Taschentuch, wischte wieder übers Gesicht damit und war ganz rot.
Plötzlich hob eine Stimme zu singen an, rauh, wie mit einem Aufschrei. Gleich darauf fielen alle Soldaten ein. Es war eine wilde, gewaltsame Weise, die im Takt mit den Rädern stampfte. Veronika fühlte sich wie von starken Armen angegriffen. Die Sehnsucht ward wieder in ihr aufgewühlt, aber dieses mutige Lied zwang sie zu einer ahnungsreichen Freude.
Draußen war es ganz finster geworden. Sie wandte den Kopf und sah beim schwachen Schein der Deckenlampe die Soldaten an, die sich umschlungen hielten oder die Fäuste erhoben und sich in schwere Rauchwolken ganz vergruben. Sie sah im halben Licht die blauen Röcke mit den roten Schnüren, die goldenen Knöpfe auf den Kappen funkeln, die schimmernden Gewehre blitzen, sah die braunen bärtigen Gesichter, die lachten und gutmütig einander zunickten, und in diesem Tumult kräftiger und froher Gestalten wurde sie von Heiterkeit ergriffen, begann leise mitzusingen, bis ihr wieder einfiel, was morgen bevorstand. Dann verstummte sie und schmiegte sich zärtlich in ihre Träume.
Später erwachte sie von einem blendenden Glanz, der ihr ins Antlitz fiel. Sie öffnete die Augen, verwirrt und verschlafen. Da war die Welt draußen von tausend und tausend Lichtern erhellt. Die Soldaten waren fort, das Coupé leer. Nur der Radfahrer ging ungeduldig von einem Fenster zum andern, setzte endlich rasch seine Mütze auf und lief hinaus. Und da fuhr auch der Zug schon in eine große, taghell beleuchtete Halle.
Veronika ging in dem Rudel Menschen, die aus allen Wagen gestiegen waren, hielt mit beiden Händen ihr Bündel und sah nichts als das kleine Gewimmel, das sie am Vorwärtskommen hinderte, und den weißen Dampf, der mit lautem Zischen zur Decke emporschoß, sich oben schnell zu Wolken ballte und dann, wieder niederstürzend, sich wie gefangen gebärdete.
Jetzt erst fiel es Veronika ein, daß sie gar nicht wisse, wie sie die Tante hier finden solle. Sie sah beklommen zur Erde und eine heftige Angst begann sie inmitten der fremden Leute zu bedrücken. Da schwand auf einmal der Geruch von Kohle, Öl und Eisen, der sie umgab, und sie fühlte sich jählings von einem üppigen Duft überströmt – die Tante! Und jetzt legte sich eine leichte Hand auf ihre Schulter. Veronika erschrak nicht, blieb ruhig stehen und hob den Blick. Eine wunderbare blonde Frau neigte sich mit lachendem Gesicht zu ihr herab.
»Nicht wahr – du bist's, mein Kind ...«
Veronika sah sie entzückt an, dann sagte sie leise: »Tante Rosi?«
»Na also, dann stimmt's ...« rief Tante Rosi und lachte vergnügt.
Veronika stand noch immer und blickte sie an. Sie glaubte ihre Mutter zu sehen, aber verklärt und jünger. Denn es war dasselbe Haar, dieselben großen braunen Augen waren es, nur daß sie in Heiterkeit glänzten, und derselbe Mund. Ja, die Stimme klang beinahe, als ob die Mutter spräche, nur sanfter und vornehmer. Und Veronika, als sie den prächtigen Hut ansah, das Gefunkel blitzender Steine und goldener Ketten, empfand Abstände, die ihr geheimnisvoll schienen und die mit der Ehrfurcht vor der Tante Rosi auch den Respekt vor der Mutter mit einem Ruck hoben. Sie bückte sich und küßte rasch die Hand der schönen Dame.
»Laß gut sein, mein Kind«, sagte Rosi und war ein wenig verwirrt. »Gehn wir jetzt, daß wir z' Haus kommen.«
Veronika schritt an ihrer Seite, völlig geborgen.
»Ist das dein Binkerl?«
»Ja.«
»Wart' ein bissel.« Rosi winkte einen Mann herbei. »Da – tragen S' das zum Wagen.«
Veronika staunte und fühlte sich sehr groß, als jetzt der alte Mann, der einen weißen Bart hatte und ganz streng aussah, ihr das Bündel nachtrug.
Dann saß sie neben der Tante in einem offenen Wagen und fuhr durch lichte Straßen, die von Menschen und Fuhrwerk wimmelten, und der Stadtlärm hüllte sie ein, daß sie davon fast betäubt wurde.
»Magst nicht dein Tücherl 'nunter tun?« fragte Rosi, »es ist ja so warm.«
»O danke, das macht nichts.«
»Gib's doch lieber weg ... weißt, mein Kind, da in der Stadt ...«
Veronika riß augenblicklich ihr rotes Kopftuch ab und saß nun in der schimmernden Haarkrone aufrecht und still neben Rosi. Es wurde kein Wort mehr gewechselt. Die Tante sah unablässig umher und musterte die Leute, blickte wohl auch oft nach jemandem zurück, und Veronika war zufrieden, still sein zu dürfen.
Der Wagen fuhr jetzt über einen reichen großen Platz. Von den Kaufladen kam das Licht bis zum Wagen heran, und man konnte die Gesichter der Spaziergänger sehen, so hell war es hier. Veronika glaubte, ein Fest werde abgehalten, und erwartete von Minute zu Minute, daß irgendwo Musik ertönen werde. Ein paar schöne Frauen, die reich geputzt einhergingen, grüßten in den Wagen, mit der Hand winkend. Tante Rosi lachte, neigte den Kopf, rief halblaut: »Servus!« Dann sagte sie zu Veronika: »Gleich sind wir da.«
Der Wagen bog in eine Seitengasse und plötzlich verschwand alles Licht und das Gewühl der Menschen. Ganz finster war es da, und hohe graue Häuser standen einander zu beiden Seiten so nahe gegenüber, daß sich die Räder beinahe an ihnen stießen. Vor einem dunklen Tor blieb man stehen. Von der Treppe her, aus der Tiefe des Hauses, kam spärlicher Lampenschimmer. Veronika sah in diesem Zwielicht wieder ein paar Frauen, sah weiße wallende Federn von den Hüten nicken, sah lächelnde Gesichter, hörte Flüstern und die Seidenkleider rauschen. Eine sagte, als sie ausstiegen: »Aha, die Roserl!« Und eine andere, die etwas entfernter stand, rief lachend herüber: »Is er da, der Firmling?« Tante Rosi war aus dem Wagen gesprungen, hatte Veronika geholfen und gab freundliche Antwort: »Freilich ist er da ...« Zwei junge Mädchen, kaum größer als Veronika, liefen herbei, mit großen Hüten und wehenden hellen Kleidern; sie neigten sich und sahen Veronika neugierig und freundlich ins Gesicht: »Hübsch ist sie!« rief die eine, wieder aufschnellend. Veronika dünkte es ein prächtiger Empfang, von all diesen schönen Frauen umringt zu sein: »Küß die Hand«, sagte sie leise.
Dicht beim Haustor stand eine Dame, die ungeheuer groß und stark war. Bewundernd schaute Veronika zu ihr auf. Aber die sagte nichts, sah sie nur gleichgültig an und trat einen Schritt beiseite. »Komm jetzt«, rief die Tante, und als sie den Flur betraten, waren wieder schöne Frauen da, mit leuchtenden Augen, die ihnen zulächelten. In der Torecke stand ein Mann mit einem Zylinderhut und flüsterte mit einem Mädchen. Veronika hörte sie hell auflachen, als sie eintrat. Dann waren die beiden still, bis Rosi und Veronika vorüberschritten. Auf der Treppe ging die Tante voran. Es waren steile, jäh sich windende Stufen. Veronika stieg freudig hinterher. »Schöne Haar' hat s'«, hörte sie jemanden sagen. Sie drehte sich um. Es war die große starke Dame, die breit im Haustor stand und ihr nachblickte.
Tante Rosi führte Veronika durch einen weiten leeren Vorraum, ging zu einer Türe und schloß auf. Dann traten die beiden in ein dunkles Zimmer. Eine laue, stark riechende Luft umschloß sie. »Wart', ich muß Licht machen«, sagte die Tante, ging zur Ampel, zog das Lämpchen heraus und schraubte es höher. Ein rosafarbener Schein ergoß sich über das Gemach und Veronika blickte bewundernd umher. Da lagen überall dunkle, prächtige Teppiche, sogar über dem Tisch. Ein breites Sofa stand da, an die Wand gerückt, ganz mit tiefrotem Samt überzogen, und nur ein weißes Bettpölsterchen glänzte auf dem blutfarbenen Grund.
»Na, mach' dir's bequem, mein Kind«, sagte die Tante. Veronika wußte nicht, was sie tun sollte.
»Leg' doch das Binkerl weg. Bind's auf.«
Veronika löste den Knoten, zog ihr weißes Firmungskleid hervor, die weißen Schuhe, die Strümpfe, und Tante Rosi half ihr alles auf dem Sofa ausbreiten.
»Is das aber fein, hörst, is das aber fein!«
Veronika lächelte glücklich.
»Wie geht's denn der Mutter eigentlich, was?«
»Danke, laßt grüßen.« Sie sprach noch immer flüsternd.
»Geht's ihr alleweil gut, ja?«
»Jetzt hab' ich s' schon so lang nicht g'sehn. Mein Gott, ich komm ja nicht weg von Wien ... na, und der Vater? ... auch g'sund?«
»Ja.« Veronika dachte erst bei diesen Fragen wieder an ihre Eltern. Beinahe staunte sie darüber, daß sie nach ihnen gefragt wurde, so fern waren sie ihr jetzt und eigentlich fremd.
Ein altes Weib kam herein und brachte das Nachtessen. Eine dicke Person mit einem ganz roten, fetten Gesicht. Veronika wunderte sich, weil sie ein Kopftuch trug.
»Na,« sagte die Alte, »das ist sie also?«
Tante Rosi legte eben Hut und Handschuhe ab. »Ja ... Was sagst, Kathi?«
Die Alte hatte die Hände auf den Bauch gestemmt und trat ganz nahe zu Veronika: »Gar so ein kleines Kind ist die nimmer«, und sie musterte sie genau. Rosi wandte sich um: »Nein wirklich ... bist ja beinah ein ausgewachsnes Fräulein.« Veronika blickte von einer zur andern und schwieg. Die Alte faßte sie unterm Kinn mit einer heißen, feuchten Hand. »Sauber is sie auch«, lächelte sie, dann zwinkerte sie Rosi zu und fuhr plötzlich mit ihrer Hand an Veronikas Brust herunter: »Schon ganz fertig!«
Rosi lachte: »Na, na, 's is nicht so arg. Wie alt bist denn, Veronika?«
»Bald vierzehn.«
»Vierzehn? Nein, wie die Zeit vergeht! Nicht zum glauben.«
Veronika fühlte sich beschämt. »Andere Kinder werden schon mit zehn Jahr' gefirmt ...«
»Da kommst noch allweil zurecht«, lachte die Alte, und Tante Rosi lachte mit: »Nein, du – da hast wirklich nichts versäumt.«
Veronika begriff das nicht. Wie konnten sie darüber so sprechen und lachen, als ob das nichts Besonderes sei? War nicht das Leben anders seit heute, seit nachmittag, seit wenigen Stunden schon? Wie nun erst morgen?
Während sie dann beim Essen saßen, klopfte es. Rosi sagte laut zur Tür hin: »Ja? Was ist?«
Die Alte rief von außen: »Bitt' schön, Fräul'n, es ist wer da«, und es lag für Veronika soviel Heimliches in dem Ton dieser gedämpften Stimme, daß sie ängstlich die Tante ansah. Rosi stand unwillig auf und ging zur Türe. Ohne zu öffnen, vorgeneigt, beinahe durch das Schlüsselloch, fragte sie: »Wer denn? Sie wissen doch, Kathi ...«, und Veronika hörte auch in ihren leise gewordenen Worten dieselbe Heimlichkeit, die ihr Bangen einflößte.
Jetzt flüsterte die Alte nur mehr: »Kommen S' ein bissel. Fräul'n ...«
Rosi sprang wütend in die Höhe: »Kreuz Teufel!« Dann schloß sie vorsichtig auf und schlüpfte hinaus.
Veronika lächelte. Kreuz Teufel! Das Wort war ihr ins Ohr geflogen wie ein Ruf von daheim. Kreuz Teufel! hörte sie oft ihre Mutter sagen, mit demselben Klang, mit demselben Ausdruck wie jetzt die Tante. Überhaupt, alle Leute zu Hause sagten: Kreuz Teufel! In diesem Augenblick erst war ihr die schöne Tante Rosi wirklich nahe und verwandt.
Von draußen drang das Flüstern der Frauen herein. Dazu das Brummen einer Männerstimme. Dann rief die Tante auf einmal ganz laut: »Wenn ich nein sag', so ist's nein! Heute nicht, absolut nicht!« Nochmals Geflüster, hierauf ein helles »Servus«, die Tür ging wieder auf, und Rosi kam zurück, murmelte etwas vor sich hin, das Veronika nicht verstand, lachte und begann zu singen.
Veronika schloß die Augen, so wohl wurde ihr bei dem sanften, liebreichen Klang von Rosis Stimme. Ihr war es, als sei diese Stimme so rosenrot wie das Licht, das von der Ampel niederströmte, und als erfülle sie wie dieses das Zimmer. Und dann löste das Lied eine tiefe Rührung in ihr. Sie fühlte es am ganzen Körper, hätte weinen mögen und freute sich doch über die Maßen, und sie wäre glücklich gewesen, wenn sie jetzt hätte mitsingen können wie gestern abend in der Maiandacht. Tante Rosi ging im Zimmer umher, legte ihren Schmuck ab und sang dazu:
»Und doch warst du mein Glück, mein ganzes Leben,
Ich hätt' geküßt die Spur von deinem Tritt,
Hätt' ja gern alles für dich hingegeben.
Und dennoch du, du hast mich nie geliebt ...«
Sie sang nur immer die eine Strophe, und wenn sie damit fertig war, begann sie von neuem, und wieder von neuem, und Veronika lauschte und wußte nicht, warum es sie trieb, im Sessel zurückgelehnt, die Arme auszubreiten. »Bist schläfrig?« Der Gesang brach ab. Tante Rosi stand vor ihr, lächelnd, mit gütigen Augen. Veronika schüttelte eifrig den Kopf. »O nein!« Und sie bat: »Sing weiter.«
»– – – – – ich hätt' ge– – küüüßt
die Spur von deinem Tritt ...«
Da kam die Alte herein, um den Tisch abzuräumen. Rosi fing sogleich an, mit ihr zu reden: »Was sagen S' zu der Zudringlichkeit?« Die Alte setzte die Teller übereinander und klapperte mit dem Besteck: »Recht ham S' g'habt, Fräul'n ...«
Rosi fuhr fort: »Ich hab's der Frau gestern schon g'sagt, wie's ist – hätt' s' mir niemanden heraufg'schickt ...«
Die Alte pflichtete bei: »So was geht ja nicht ... das wär' ja ... Na, so was ...«
Und Rosi: »Ich werd' ihr aber noch die Meinung sagen.«
Die Alte sah Veronika an und sagte dann beziehungsvoll: »Heut' ist ja nicht ein Tag wie alle Tag' ...«
»Nein«, sagte die Tante ernst und überzeugt. Rasch trat sie zu Veronika, strich ihr über das Haar, beugte sich nieder und küßte sie. Veronika schlang beglückt die Arme um ihren Hals und hielt das duftende Gesicht der Tante fest an ihre Wange gedrückt. Rosi machte sich langsam frei. »Hast mich denn so gern?« fragte sie erstaunt. Da preßte Veronika ihren Kopf an die Brust der Tante, faßte ihre Hand und küßte sie. Rosi tauschte lächelnde Blicke mit der alten Magd.
»Das is a rechte Wohltat«, sagte Kathi leise, »und a wahre Freud' hat man auch davon.«
Rosi nickte herzlich und wiegte Veronika in den Armen: »Mir is auch nicht leid, wenn noch so viel draufgeht ... ich hab' schon mehr hinausg'worfen.«
»Roserl!« Eine helle Stimme schrie von draußen. Alle drei fuhren auf. »Roserl!«
»Ja?«
»Ist dein Firmling da?«
»Ja!«
»Alsdann, wennst' morgen wegfahrst, weck' mich auf, daß ich's seh im weißen Kleidl, hörst?«
Die Alte rief hinaus: »Ich werd' Ihnen schon wecken, Fräul'n Gusti.«
»Ah, die Kathi is auch drin?«
Rosi lachte: »Ja, die Kathi ist auch drin ...«
»Und was ist? Gehst wirklich nimmer fort heut'?«
Rosi antwortete scharf: »Gib Ruh'! Du weißt es ohnehin ...«
Lautes Gelächter tönte hinter der Türe: »Na, dann gute Nacht ... bleibt's solid alle drei!« Kleider rauschten, und es wurde still.
Kathi sah nachdenklich vor sich hin: »Du mein lieber Gott! Ich bin alle Nacht solid«, sagte sie, und Tante Rosi mußte hellauf lachen. Dann sagte sie: »Alsdann gehn S' jetzt. Es ist spät! Das Kind wird ja müd sein, nicht wahr?«
»Wenn nur eine Ruh' sein möcht',« seufzte Kathi, und: »Gute Nacht.« Dann ging sie hinaus mit freundlichen Blicken auf Veronika.
»Komm, mein Kind, jetzt wollen wir uns niederlegen«, sagte Tante Rosi aus der Tiefe des Zimmers. Veronika ging zu ihr. Da war ein seichter Alkoven, den schwere Vorhänge abgrenzten. Veronika hatte von da her einen Spiegel glänzen sehen. Wie sie jetzt hinter die Gardine trat, verwunderte sie sich, wie groß dieser Spiegel war, und als die Tante die rote Kappdecke abnahm, und das Weißzeug des Bettes schimmernd frei lag, da staunte Veronika, weil sie sah, daß der Spiegel dicht über dem Bettrand sich erhob und die ganze Breite der Mauer einnahm, vom Kopfende bis zu den Füßen. Das schien ihr eine übernatürliche Pracht, und rasch flog es ihr durch den Sinn, daß Tante Rosi beim Erwachen hier sich ankleide und daß sie dank diesem wunderbaren Spiegel völlig geputzt, mit Hut und Schleier dem Bett entsteige.
»Zieh dich nur aus,« sagte die Tante, und lächelnd auf die Kissen deutend: »ich glaub', da werden wir Platz haben, wir zwei.« Veronika bewunderte die Breite dieser Schlafstatt, sie lächelte, denn auch für drei Menschen wäre hier noch Raum zuviel und es schien ihr komisch, daß man zum Schlafen so viel Platz brauche. Auf dem großen, mit Spitzen bedeckten Kissen lagen zwei kleine Polster nebeneinander. Das dünkte Veronika wie eine zärtliche Vorsorge der Tante, die heute, noch ehe sie zur Bahn fuhr, ihr Bett für den Gast bereitet hatte. Veronika streifte rasch ihr Kleid ab, hockte auf einem kleinen Sessel nieder, um sich der Schuhe zu entledigen; dann wartete sie im Hemdchen, bis es ihr erlaubt würde, das blühweiße, duftende Lager zu besteigen. Rost hatte sich auf den Bettrand gesetzt, nestelte ihre Bluse auf und sagte: »Wart' ein bissel. Laß' dich zuerst anschauen.« Sie nahm Veronika vor sich zwischen die Knie, und indem sie ihr die Arme um die Hüften legte, straffte sie das lose hängende Hemd, daß die jungen Formen dieses aufwachsenden Leibes hervortraten: »Nein, wie du schlank bist ... «, und ihr Blick lief an Veronika herunter, die dünn und geschmeidig in ihren Händen lag und sich warm anfühlte. »Aber eine Kraft hast«, setzte sie hinzu und streichelte die runden Arme der Veronika, die außen ganz goldbraun waren. »Und ab'brennt bist ...«, lachte sie, und Veronika lachte mit: »Natürlich, von der Sonne ... schau, da auch ...«, und sie hob einfach das Hemd und zeigte der Tante ihre bloßen Beine, die an den Waden braun waren bis dicht unter dem Gelenk. Da schauten dann die Knie weiß und zart heraus, wie aus Strümpfen.
»Gehst denn bloßfuß herum?« fragte Rosi.
Veronika bejahte: »Im Sommer schon. Da gehn wir alle bloßfuß, nur der Vater nicht.«
»Ja, ich weiß,« sagte die Tante, wie aus einer Erinnerung, »ich weiß. Ich bin auch so herumg'sprungen.«
Aber das kam Veronika ganz unwahrscheinlich vor.
»Und der Mutter geht's gut? Nicht wahr?«
Veronika blickte zu Boden. Irgend einen trüben Zusammenhang zwischen der duftenden in Spitzen gehüllten Tante, ihrer eigenen sonnverbrannten Haut und der fernen Mutter hörte sie aus dieser seufzenden Frage. Sie antwortete nicht.
Tante Rosi schaute das junge Mädchen an, das mit aufgelösten blonden Zöpfen vor ihr stand, dieses frische, sanft gerötete Gesicht, die kleine, derbe Nase unter der schmalen, feinen Stirne, die runden, halboffenen, gutmütigen Lippen und die großen, frommen, blauen Augen: »Veronika,« sagte sie leise, »wie du der Mutter ähnlich schaust ...«
»Du auch ...«, flüsterte Veronika schüchtern.
»Na,« rief die Tante lustig und rückte ein wenig zur Seite: »komm ins Bett herein.«
Veronika tat einen fröhlichen Sprung und schrie vergnügt auf, als sie von der Federmatratze in die Höhe geschnellt wurde. Dann fiel sie hin, lachte verwundert und wiegte sich: »Wie das hutscht!« Rosi war aufgestanden, beugte sich über das Bett und stieß die Zappelnde ein paarmal kräftig in die Federn, daß Veronika auf und nieder flog. Sie lachte und kirrte wie ein kleines Kind, schlug um sich und lag schließlich keuchend da, als Rosi von ihr abließ, um sich auszukleiden. Ein neues Staunen überkam Veronika, weil die Tante ein schwarzes Hemd trug, das vorne an der Brust mit Blumen bestickt war. Ihr wurde ganz feierlich, als Rosi zu ihr in das Bett stieg. Sie haschte nach ihrer Hand, küßte sie und sagte: »Gute Nacht.« Dann legte sie sich auf den Rücken, um zu beten. Weil aber die Tante nichts dergleichen tat, glaubte sie, der Moment sei noch nicht gekommen, traute sich nicht allein anzufangen und wartete still eine ganze Weile. Schließlich, kaum daß sie es selber wußte, übermochte sie die Gewohnheit, daß sie ein Kreuz schlug und die Hände faltete. Sogleich fuhr Rosi neben ihr empor: »Tust beten?«
Veronika entschuldigte sich: »O nein ... nur so ... ich wart' schon auf dich ...«
»Auf mich?«
»... ich hab' geglaubt, daß wir miteinander ...«
»Ja, ja«, sagte Rosi mit großem Eifer, »ja, ja!« und sie setzte sich auf, schlug ein Kreuz und begann flüsternd: »Vater unser ...«
Auch Veronika hatte sich aufgesetzt, und als die Tante so still anhob, hatte sie gleichfalls nur leise begonnen, später jedoch kam sie voll Andacht in den lauten, singenden Ton, der ihr von der Schule her eigen war, und sprach die letzten Worte mit ihrer reinen Kinderstimme, daß sie im ganzen Zimmer schallten. Dann das Amen, und mit einem schweren Seufzer warf sich Tante Rosi in die Kissen zurück, ganz auf die andere, nach außen gekehrte Seite, und vergrub ihr Antlitz.
Veronika fühlte sich bewegt und erhoben von dieser Andacht, und ließ sich behutsam auf den Polster niedergleiten. Wie sie sich aber dabei mit bloßer Brust und nackten Armen plötzlich im Spiegel gewahrte, erschrak sie, als sei ein fremdes Wesen neben ihr aufgetaucht. Neugierig rückte sie noch näher an das Glas heran. So leibhaftig mit Schultern und Armen und ganzem Körper, so als vollständigen Menschen hatte sie sich noch nie gesehen und so war sie sich neu wie eine frische Bekanntschaft. Es war beunruhigend und lustig zugleich, und dann wieder dachte sie ängstlich, sie sei gar nicht mehr allein und würde es doch nicht wagen, vor diesem Spiegelbild hier die Augen zu schließen, um zu schlafen. Sie wandte sich im Bette um, so daß sie jetzt über die Tante weg, die noch immer in die Kissen gewühlt lag, das Zimmer überschaute. Da gab es viele Dinge, die sie zuerst beim Kommen und dann während des Essens gar nicht bemerkt hatte und die nun, vom roten Ampellicht übergossen, still hervortraten. Sie musterte neugierig den Waschtisch, wo auf einer schwarzen Marmorplatte köstliches Geschirr stand, so daß Veronika Lust bekam, gleich jetzt sich zu erheben, um sich zu waschen oder doch wenigstens zu untersuchen, was die vielen geschliffenen Flaschen, Gläser und Tiegel bedeuten mochten. Vor dem Waschtisch auf dem Fußboden gewahrte sie lächelnd einen hübschen, mit Stoff überzogenen Schemel. Der war gewiß für sie vorgerichtet worden, denn die Tante mochte geglaubt haben, sie sei noch zu klein, um dort hinauf zu gelangen. Nein, so gar klein war sie doch nicht mehr. Sie drehte sich nochmals dem Spiegel zu, um sich anzuschauen, erschrak aber dennoch wieder, als ihr der bloße Leib entgegenschimmerte. Wie gebannt, betrachtete sie sich eine Weile, bis ein ungewisses Bangen sie antrieb, dieses Spiel aufzugeben. Da lag sie nun ganz still, blinzelte sich aus halbgeschlossenen Augen zu, und weil sie auch damit nicht zur Ruhe kommen wollte, besah sie jetzt das Zimmer durch den Spiegel und machte neue Entdeckungen. Sie gewahrte ein schönes Bild, das sie völlig in Anspruch nahm: Eine liegende, ganz entblößte Frau, die einen Schwan in ihrem Schoße hielt. Lange hatte sie ihr Erstaunen an dieser lieblichen Szene, so daß sie eine rasche Neigung zu dem schmeichelnden Vogel faßte und sich allerhand Vorstellungen machte, wie man wohl auch Gänse zutraulich machen oder Tauben zähmen könne, wobei ihr ein junges Kalb einfiel, das ihr daheim immer die Hände geleckt hatte und ihr manchmal mit der breiten Zunge in einem Strich über das ganze Gesicht gefahren war, und das sich dann so traurig nach ihr umgeblickt hatte, als man es vom Hofe trieb. Beinahe hätte sie wieder geweint, und wie sie immer tat, wenn sie gerührt war, schlug sie jetzt die Augen zum Himmel. Da gab es ihr aber vor Überraschung einen Ruck, denn oben in der Decke des Baldachins war wieder ein großer Spiegel eingelassen, so daß sie sich nun erblickte, als schwebe sie in ziemlicher Höhe über sich selbst. Sie mußte lachen und winkte hinaus, da winkte das Spiegelbild da oben zu ihr herab, und so hielt sie eine Unterhaltung in Gebärden, bis sie still und ohne Nachdenken dalag. Und nun fiel mit allem, was er bringen sollte, der kommende Tag auf einmal wieder in ihre Seele. Wie hatte sich doch bis zu dieser Stunde schon die Welt vor ihr aufgetan. Wie war sie heute noch daheim in der engen Stube klein und unwissend, und wie war sie jetzt erfahren und erwachsen und vieler Dinge ansichtig. Vom Morgen bis zum Abend. Ihr war, als habe das Wunder jetzt bereits seinen Anfang genommen, und darüber kam sie in ein staunendes Glücksgefühl, das sie langsam mit sanfter Müdigkeit erfüllte. Sie legte den Arm unter die Wange und schloß die Augen. Nun wurde es stiller in ihr. Draußen vor der Türe hörte sie leises Gehen, Rascheln von Kleidern und flüsternde Stimmen. Dann von drunten durch die Wände ein kurzes Gelächter, hörte tiefe Männerworte, die von irgendwoher kamen. Dann Glocken klingeln. Zuletzt drang, wie aus der Ferne, übermütiges Klavierspiel herein und machte sie beinahe wieder munter. Aber der Schlaf hatte sie schon zu fest umfangen, und so nahm sie die späte Musik nur noch in ihre Träume hinüber.
Am anderen Morgen stand Veronika in ihrem frischen weißen Kleid mitten im Zimmer und drehte sich fröhlich zwischen Tante Rosi und der alten Kathi. Sie lachte den beiden vergnügt ins Gesicht und hörte sich voll Freude loben. »Na wissen S', Fräul'n«, sagte die alte Kathi, »mit so an bildsaubern Mäderl in die Kirchen fahr'n, das is schon ein Vergnügen – da wird's nicht viele geben ...«
Und Tante Rosi hatte einen blütenfarbenen Schlafrock an und war schöner noch als gestern, und ein freundlicher Ernst lag in ihren großen braunen Augen. Sie sagte gar nichts, aber sie strich manchmal mit ihren feinen Händen über Veronikas Schulter, dann wieder über ihr Haar oder über die Wangen, faßte sie wohl auch hie und da am Arm, um sie zu drehen und zu mustern.
Veronika fühlte, wie ihr Herz immer lauter zu schlagen begann. Nur auf eines hatte sie jetzt noch zu warten: bis die Tante angekleidet ist. Dann wird sie dieses Zimmer nur mehr verlassen, um gleich von hier aus in die Kirche zu gehen. Sie stand da, und eine heftige Bangnis erschütterte sie, daß sie ihr schönes neues Kleid vergaß, das sie jetzt zum erstenmal trug, und auch vergaß, daß man sie bewunderte.
Wie eine Mauer aus der Ferne die frei dahinter liegende Landschaft nicht verhüllt, aber dem dicht Herantretenden den Ausblick völlig versperrt, war jetzt ihr Hoffen plötzlich nahgerückt, so ganz nahe, daß sie darüber gar nicht hinauszusehen vermochte, auch nicht einen Schritt.
»Jetzt will ich die Fräul'n Gusti wecken,« sagte die Alte, »ich hab' ihr's gestern versprochen ...«, und lächelnd ging sie hinaus, wie jemand, der sich auf einen Spaß freut.
Veronika setzte sich auf den Rand eines Stuhles, Während die Tante im Zimmer umherfuhr, Schränke öffnete, Kleider besah, herausnahm und überall hinbreitete.
»Da bin ich! Da bin ich!« schrie draußen die helle Stimme von gestern abend, und in der weißen Nachtjacke kam zur lärmend aufgerissenen Tür ein starkes, schwarzlockiges Mädchen hereingestürzt.
Veronika stand ehrerbietig auf, sagte leise »Küss' die Hand«, aber Gusti flog rasch auf sie zu, sah ihr eine Sekunde lang nah in die Augen, mit großen, lebendigen, schwarzen Blicken, und sprang wieder fort: »Ich bring' was! Ich bring' was!« rief sie zweimal und fuhr zur Tür hinaus wie der Blitz. Die Tante hatte nur kurz aufgesehen und gelächelt. Jetzt sagte sie, während sie den Saum eines Kleides musterte, obenhin: »Was die bringt!«
Veronika fühlte sich von Güte und Nachsicht umgeben. In diesem fremden Haus hier, von dem sie nichts wußte, wurde sie gekannt, geliebt sogar. Und die Neugierde wandelte sie an, dieses ganze Haus, das über Nacht so heimlich geklungen hatte, zu durchsuchen und in alle Zimmer zu sehen.
Indessen näherten sich die leichten Schritte und das Gerausche wieder. Die schwarze Gusti kam jetzt ganz leise herein und hielt die eine Hand auf dem Rücken, als verstecke sie dort etwas.
»Du,« sagte sie zu Rosi, »hat sie ein Kranzerl?«
Die Tante blickte vom Bett her, wo sie stand und Kleider ordnete, verwundert auf: »Was ist denn? Ein Kranzerl?« Dann rief sie: »Richtig, Veronika, hast ein Kranzerl?«
Veronika war bestürzt und schwieg. Gusti an der Tür stand wartend da und die Tante zuckte die Achsel.
»Macht nichts, wir kaufen halt eins.«
Da zog Gusti rasch die Hand hervor und hatte einen Myrtenkranz darin, mit feinen weißen Blüten. »Das soll sie nehmen,« rief sie beinahe stehend, »das hier!« Und das grüne Gewinde in beiden Händen erhoben, kam sie auf Veronika zu. Die neigte den Kopf und fühlte einen wohligen Schauer, als ihr Gusti den Kranz auf das Haupt setzte; »Mein Kranzerl is's g'wesen ...« und es lag ein so weicher Ton in diesen Worten, daß Veronika sich gerührt fühlte. Noch leiser sagte Gusti: »Ja, ja ... wie lang ist das her? Gar nicht einmal lang ... Gott, lieber Gott, wenn ich denk' ...« Und dann hörte Veronika ein plötzlich ausbrechendes Schluchzen, fühlte sich heftig umarmt und umklammert, so daß ihr in Spitzen, Duft und Seide an dieser klopfenden, heißen Brust das Sehen verging. Erschrocken spürte sie, daß Gusti am ganzen Körper bebte. Verwirrt machte sie sich frei, sah das schöne, schwarz umlockte Antlitz vor sich, von fließenden Tränen benetzt, aber sie fürchtete sich nicht. Denn in den dunklen, schwimmenden Augen, die auf ihr ruhten, lag es wie neidvolle Liebe. Beklommen aber nahm sie wahr, wie Tante Rosi sich abwandte und still die Augen wischte und wie die Alte am Tischzeug sich zu schaffen machte, so deutlich bestürzt und verlegen wie einer, den man auf frischer Tat ertappt. In diesem Augenblick wehte sie eine Ahnung an: daß es jenseits der Schwelle, an der sie nun stand, geheimnisvolle Dinge geben müsse, die das Herz mit Kummer füllen. Sie stand bewegungslos in ihrem weißen Kleid und sah alle der Reihe nach fragend an, und alle blickten auf sie und waren von diesem Kinderangesicht ergriffen, das unter Goldhaar und Myrtenkranz mit erster Blässe sich überzog.
Gusti hatte sich rasch die Augen getrocknet, fuhr Veronika liebreich über Wangen und über den Rücken und schaute sie dabei ganz nahe an, mit einem unmerklichen Versuch zu lächeln. Gleich aber schien es sie wieder zu überkommen; sie bückte sich plötzlich, riß die Hand der Veronika an sich und drückte einen warmen Kuß darauf, dann flog sie hinaus und ließ die Türe hinter sich offenstehen.
Tante Rosi saß schon vor dem Spiegel, wandte sich um, schüttelte den Kopf und wollte zur Alten etwas sagen. Diese aber ging still hinter Gusti drein, ohne ein Work, und derselbe Ausdruck von Befangenheit war wieder in ihrem Gehaben, als sie die Türe beinahe schüchtern zuschloß.
Veronika war an das Fenster getreten. Da lag die enge Gaffe in tiefem Morgenschatten. Sie schaute die grauen Häuser hinaus und mußte den Kopf weit zurücklegen. Dann erblickte sie oben auf dem letzten Sims einen kleinen Schimmer der Sonne, und darüber sah wie ein mildes Auge, ganz von ferne, ein winziges Stück Himmel zu ihr nieder. Das trieb ihr die Sehnsucht ins Freie ein, daß sie die Arme erhob, als wünsche sie aus der kühlen Schlucht, auf deren Grund sie eingeengt war, emporzufliegen. So brachte dieser Tag, der dort auf den hohen Dächern sich sonnte, ihr gleich am Anfang die Fülle des Unbekannten. Nachdenklich und bedrängt schaute sie auf ihre Hand, die zum erstenmal von Menschenlippen berührt worden war, und war mit diesem Kuß, der wie ein sichtbarer Gegenstand vor ihr lag, mitbeteiligt an dem Schicksal der Menschen.
Eine Weile später ging sie neben der Tante durch den dämmernden Vorraum, die steil sich windende Treppe hinab. Eine kleine, verborgene Türe öffnete sich, knapp neben einer Stufe, und Gusti steckte grüßend lächelnd den Kopf durch den Spalt hervor. Die alte Kathi war nirgends zu sehen.
Ausatmend trat Veronika ins Freie, von der frischen Luft angehaucht. So ganz benommen war sie von der heiligen Stunde, die jetzt gekommen war, daß sie in den feinen Wagen stieg, als verstehe sich das von selbst, und der Pracht gar nicht staunte, mit der die Tante angetan war.
Der Wagen fuhr sanft schaukelnd durch die enge, leere Gasse und nach wenigen Schritten war er auf dem großen Platz. Veronika hörte nicht, als die Tante sagte: »Das ist der Graben.« Sie war betroffen von dem Anblick der vielen Menschen, die hier durcheinanderliefen, von den vielen Wagen, die einander bedrängten, vom blendenden Sonnenlicht, das alles überflutete, und ihr war, als sei sie durch eine kleine Türe plötzlich in einen großen, menschenerfüllten Saal getreten, wo alle ihretwegen sich versammelt hatten und sie erwarteten. Sie war ängstlich und voll tiefer Verlegenheit, hielt sich ganz steif und blickte geradeaus vor sich hin auf die karierte Pferdedecke, die über dem Kutschbock hing. Neben dem Wagen liefen arme Frauen einher, hielten in hoch erhobenen Händen flatternde weiße Bänder, schrien und baten, daß Veronika Erbarmen fühlte. Sie wagte aber nicht, sich zu rühren, wandte nicht einmal die Augen. Dennoch sah sie das ungeheure Getümmel rings herum und dachte, es seien aus der ganzen Stadt alle Menschen zusammengelaufen, um dabei zu sein.
Schrittweise nur kam der Wagen vorwärts. Pferdestampfen, Räderrollen, die Tritte der Menge, Rufen, Lachen, alles vermengte sich Veronika zu einem starken Brausen, das sie aufregte. Die bunten Farben in der grellen Morgensonne, das weiße Pflaster, die gelben Omnibusse, die goldenen Lettern an den Firmatafeln bestürmten flimmernd ihre Augen, und die milde Luft trug allerlei scharfe Gerüche nach Spülwasser, Kleiderdunst, nach Pferden und Staub. Dann aber hörte sie von hoch oben her Glockengeläute. Von tausend Geräuschen der Straße verschlungen und zerrissen, kreisten die Töne im Blauen, mit ausgebreiteten Schwingen, wie Vögel, die nicht wagen, sich niederzulassen. Veronika aber lauschte herzlich zu ihnen auf, und da stieg der klingende Gesang zu ihr hernieder, drang durch das Gewirr all der anderen Stimmen und überflutete sie mit großer Melodie.
Hinter einem Hause, auf dessen Dach die blaue Erdkugel schwebte, stieg mit einem Male die Kirche zum Himmel auf. »Ah –«, rief Veronika überwältigt, und Tante Rosi wandte sich zu ihr. »Nicht wahr?«
Ganz dunkelgrau stand die Kirche da, ragte über alle Dächer gar weit hinaus, und Veronikas staunender Blick lief den Turm hinauf bis zur Spitze, wo der goldene Doppeladler in der Sonne funkelte wie eine kleine Flamme. Dann stürzte ihr Blick mit eins wieder zu den Menschen nieder, und ihr war dabei, als käme sie selbst von einem hohen Berge herunter.
Als der Wagen vor der Kirchenpforte hielt, mußte Veronika sich beim Aussteigen am Arm der Tante festhalten, so sehr zitterte sie in Furcht und Spannung. Noch einmal umfing sie mit ihren Augen die ganze Kirche und wunderte sich schnell, weil ihr das Tor, vor dem sie stand, so niedrig scheinen wollte. Das hatte sie sich anders gedacht. Groß, und mit goldenen Türen weit offenstehend, und feierliche Orgelklänge, die daraus hervorkamen, wie Lieder aus einem singenden Mund.
Da stand sie jetzt am Eingang, sah die Leute sich drängen und im Dunkel verschwinden. »Hier ist dein Bandel,« sagte die Tante, »komm' nur,« und Veronika ließ sich führen wie ein kleines Kind und betrat die Kirche mit gesenkten Augen. »Warum zitterst du denn so?« flüsterte Rosi beim Weihbecken. Aber Veronika konnte kein Wort sagen.
Dann fand sie sich vorgeschoben in einem Spalier licht gekleideter Mädchen, sah eine Gasse auf und ab sich hinziehen, gebildet von all den Kindern, die in zwei Reihen einander gegenüberstanden und sich in ihren weißen Gewändern dabei wie ein heller Saum von der dunklen Mauer abhoben, die das Gedränge der Angehörigen hinter ihnen formierte. Von oben, irgendwoher, kam das Tageslicht freundlich herein und spielte auf den Steinfliesen ganz für sich, rings umdrängt von wehenden Dunkelheiten, die den ungeheuren Raum erfüllten. Veronika hörte das Flüstern um sich, wie ein leises Rauschen. Sie vernahm das sanfte Hallen der vielen Schritte, die unaufhörlich durch die Kirche zogen. Dann erschrak sie leicht unter der Berührung von Tante Rosi, die ihr das Band um die Stirne schlang.
Sie sah die anderen Kinder an. Ganz kleine waren darunter, mit wundersam gedrehten Locken, daß sie wie Engel aussahen. Aber es regte sich doch eine Mißbilligung in Veronika, denn diese da schienen ihr gar zu kinderhaft. Auch erwachsene Mädchen sah sie, die größer waren als sie selbst und die mit ruhigen Mienen dastanden, an ihren Kleidern zupften, auf ihre Handschuhe blickten. Einige lächelten, besonders von den ganz Kleinen, beugten sich vor oder sprachen mit ihren Paten. Andere traten gar einen kurzen Schritt aus der Reihe und spähten die enge Gasse hinauf. Auch Veronika wagte es endlich, dahin zu schauen, wohin alle Aufmerksamkeit sich wandte. Dort war ein großes Gewimmel von Priestern im Ornat und von Ministranten in roten und weißen Chorröcken, und die schienen alle um ein Mädchen versammelt, das in der Reihe ganz oben stand, weit entfernt von Veronika.
Sie traute sich nicht besser hinzusehen, so sehr sie es gewollt, so gerne sie näher unterschieden hätte, was dort geschah, da doch auf den ersten Blick alles verschwommen und im Dämmer undeutlich war. Nun aber blickte sie aufwärts vor sich hin, erwartungsvoll über alle Menschen hinweg in das einfallende Licht, als müsse sie dort oben das Muttergottesbild winken sehen, das ihr daheim immer zulächelte, wenn sie vor dem Altar die Blicke erhob. Sie sehnte sich jetzt nach diesem mild grüßenden, vertrauten Antlitz. Hier oben aber sah sie nur den Rand einer hohen Säule und dahinter blinkte trübselig ein verstaubtes Fenster mit kleinen glanzlosen Scheiben. Sie bekam Lust, diese Gläser zu zählen, geriet in Verwirrung deswegen und lief mit den Augen, um sich abzulenken, die Kannelierung der Säule auf und nieder, soweit die Sonne daraufschien.
In langen Minuten wurde sie müde, fühlte sich ruckweise aufgerüttelt von der immer wiederkehrenden Erregung und dämmerte dann langsam vor sich hin.
Ein Geräusch von nahen Schritten, von murmelnden Stimmen und ein roter Schein, der ihr ins Auge fiel, weckte sie. Dicht neben ihr, zur Linken, war schon die Gruppe der Geistlichen angelangt, und die Ministranten in ihren roten Chorröcken standen bis zu ihr.
Da wurde sie munter und von ungeduldiger Andacht erregt. Jetzt sah sie schon die weißen, goldverbordeten, buntgestickten Meßgewänder der Priester vor sich und empfing die Pracht, die sich näherte, die strengen, über alles wegschauenden Mienen mit Bangen und doch wieder mit Zuversicht und hatte das Begehren, sie anzurufen, ihnen zu sagen, daß sie die Veronika sei und daß sie schon vor zwei, ja vor drei Jahren habe kommen wollen, aber es sei nicht ihre Schuld, daß sie alle miteinander hatten warten müssen, und sie hob den Kopf und rief es ihnen mit den Augen zu, suchte die Vorüberwandelnden mit den Blicken festzuhalten.
Da beugte sich ein volles, gütiges Greisenantlitz zu ihr nieder, sie sah die goldene Bischofsmütze darüber strahlend sich neigen, fühlte zwei kühle Fingerspitzen auf ihrer Stirne, davor sie erbebte, dann eine kühle, unsagbar feine Hand auf der Wange und vor ihrem Mund. Sie küßte diese Hand und haschte im Eifer danach, aber da war schon alles vorüber und nichts mehr vor ihr als die prangenden Ornate der Geistlichen, die in einer schimmernden Wand alles verdeckten. Zuletzt kamen die Ministranten wieder, und die Tante neigte sich vor und sagte lustig: »So, Veronika, jetzt bist g'firmt!«
Sie stand wieder draußen in der warm daherwehenden Luft, im Gewühl der Menschen, blickte mit Staunen um sich und konnte es nicht fassen, daß es nun wirklich solle geschehen sein, daß nichts sich weiter ereignet habe. Mit ungestilltem Erwarten schaute sie dem sonnigen Tag entgegen.
In dem glänzenden Uhrmacherladen wurde Veronika wieder getrost. Da gab es viele Dinge, die sie interessierten. Zuerst war sie erfreut von dem blinkenden Ansehen, das der enge Laden hatte. Wohin sie schaute, blickten ihr weiße Zifferblätter entgegen, wie verständige Gesichter. An der Wand schwangen Hängeuhren ihre langen Perpendikel lustig hin und her. Diese rastlos bewegte Mauer war wie in heller Aufregung. Es waren noch andere Leute da, die sich ein wenig drängten, andere kamen herein und warteten.
Plötzlich stand ein kleiner Bub neben Veronika! »Du! Ich bekomme eine goldene Uhr!« Dazu machte er eine ernste Miene. Er hatte ein dickes, rosiges Gesicht und wasserhelle Augen. Mit prüfendem Gesichtsausdruck blickte er nachdenklich überall umher. Dann nahm er den Hut ab, und fuhr sich mit der Hand vorsichtig über den strohblonden Kopf. Veronika bemerkte, daß sein Haar gebrannt war und sich in prächtigen Locken um die Schläfen legte, ferner sah sie, daß ihm der Abteil wie ein weißes gerades Schnürchen bis ganz nach rückwärts in den Kragen lief, und sie bewunderte ihn aus vollem Herzen. »Jawohl,« sagte er nochmals, »ich bekomme eine Doppeldeckeluhr aus Gold, – und du?«
Sie erwiderte leise: »Ich weiß nicht.«
Er aber hatte gar nicht darauf geachtet, sondern redete weiter: »Die ist nämlich viel praktischer, verstehst? Da wird das Zifferblatt geschont, und überhaupt, sie ist auf beiden Seiten gleich, weißt? Das ist viel schöner ...«
Veronika wußte nichts darauf zu sagen.
»Bist du auch jetzt gefirmt worden?« fragte er ganz barsch.
»Ja,« antwortete sie stolz, »gerade jetzt.«
»Na!« sagte er düster und legte den Kopf auf die Seite, »was? Nichts! Nicht wahr?« Er hatte den Kopf ganz auf die eine Schulter gedrückt, klopfte mit dem Spazierstock auf seine Füße und fuhr fort: »Garnichts ist dran – und ich bin froh, daß die G'schicht' vorüber ist!«
»Jesus!« entfuhr es ihr. Sie wollte sich sogleich von ihm abwenden, aber sie hatte doch zuviel Respekt vor ihm. Und dann lag auch in seinen Worten etwas, das sie reizte. Sie dachte, er müsse mehr wissen als sie, und sie fühlte, daß es überall Geheimnisse gab, die man ihr noch vorenthielt. Der kleine Bub vor ihr sah sie zustimmungsheischend an, und zu ihrem eigenen Entsetzen fand sie sich gezwungen zu sagen: »Ich bin auch froh, daß' vorüber ist«, aber während sie sich noch sprechen hörte, erschrak sie und gab diesen Worten heimlich in ihrer Seele eine andere Deutung.
»Hast du g'sehn?« fragte er weiter, »der Bischof hat mit dem Kopf gewackelt; ... so«, er wackelte mit dem Kopf und fing laut zu lachen an.
Veronika überlief es. Nicht Schmerz fühlte sie, aber die Ahnung eines Schmerzes, der irgendwo verborgen lag und bevorstand.
»Bekommst du eine goldene oder eine silberne?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich krieg' eine goldene! Nicht wahr, Herr Stanzinger?« wandte er sich dringend an einen alten Herrn, »ich krieg' eine goldene Uhr?«
Ein kleiner, dicker, alter Herr mit grauem Schnurrbart antwortete sehr gemächlich und mit tiefer Stimme: »Wenn du schön brav bist, sonst'n aber nicht!«
»Ich bin brav, ich bin sehr brav! Sie wissen's ganz gut,« schrie der kleine Bub, »Sie wissen es, daß ich brav bin, also krieg' ich eine goldene?«
»Ich weiß gar nix,« sagte der alte Mann, »und überhaupt, Kinder müssen bescheiden sein ...«
»Also krieg' ich eine goldene ...?« beharrte der Kleine.
»Abwarten, mein Sohn, abwarten! Wenn du's so eilig hast, erwisch' ich in der Geschwindigkeit eine aus Messing.« Und scherzend fragte er über den Ladentisch hin: »Haben S' nicht vielleicht eine alte Uhr, die was nicht geht, aus Blech?«
Da warf der Junge seinen Spazierstock und seinen Hut wütend zur Erde und brach in Tränen aus. Alle Leute im Geschäft wurden aufmerksam, hielten einen Augenblick im Gespräch inne und sahen ihn an. Er stand mitten in einem kleinen Kreis, der sich gebildet hatte, kümmerte sich um nichts und stampfte und weinte. Der Uhrmacher beugte sich vor und sagte: »Aber ... Uhren aus Messing haben wir ja gar nicht; da kann der junge Herr ganz ruhig sein.«
Der Uhrmacher hatte einen schönen weißen Bart und gütige Augen. Er sah Veronika an und sagte: »Wollen Sie vielleicht auswählen, Fräulein?« Sie geriet in Verlegenheit, weil sie nicht erwartet hatte, angesprochen zu werden, jetzt, da ihr noch schien, als sei der kleine Junge, der neben ihr zappelte und weinte, die Hauptsache und als dürfe überhaupt nichts geschehen, bevor er nicht beruhigt und zufriedengestellt sei. Aber sie merkte, daß alle Leute sich abwandten und so taten, als sähen und hörten sie nichts, und in dieser Haltung lag so viel Verurteilendes, daß Veronika auch darüber erschrak. Der Junge schien ihr für alle Zeit verloren.
»Es sind beide sehr elegant«, sagte der Uhrmacher wieder und hielt Veronika zwei Uhren hin, ganz kleine, wunderbare goldene Uhren. Die eine hatte ein emailliertes Zifferblatt mit blauen Lettern, die andere dafür trug auf ihrem Mantel ein kleines, in winzigen Rubinen leuchtendes Kreuz. Veronika stand völlig ratlos da. Daß sie auch eine Uhr bekommen werde, hatte sie in der andächtigen Spannung der letzten Tage vergessen. Jetzt erinnerte sie sich plötzlich ganz scharf, daß die Mutter manchmal davon gesprochen hatte, und wie sie auf die prächtigen Uhren sah, tat es ihr auf einmal sehr weh, daß sie sie der Mutter geben sollte, denn so war es ausgemacht worden: die Firmuhr sollte im Schrank aufbewahrt werden.
»Na, die welche g'fallt dir denn besser?« fragte Tante Rosi so ruhig, als ob es sich um eine Kleinigkeit handeln würde. Veronika sah aufgeregt bald die blauen Ziffern an, bald das rote Rubinkreuz. Auf der einen Uhr war es genau zwölf, auf der anderen halb drei. Veronika bemerkte es und vertiefte sich darin, ohne an eine Wahl zu denken, bis die Tante wieder sagte: »Na, so red' doch, wer wird denn so kritisch sein?« Da entschied sie sich rasch für die zwölfte Stunde, und es ergab sich, daß es das Rubinkreuz war. »Das Fräulein hat einen feinen Geschmack«, sagte der Uhrmacher, und Veronika wunderte sich, wie sie eigentlich das Richtige getroffen habe, denn der Mann sagte jetzt dem blauen Email alles Böse nach, behauptete, daß es abspringen müsse und daß man sehe, wie das Fräulein etwas Gutes zu unterscheiden wisse. »Fürs Auge«, sagte er von der Emailuhr geringschätzig, »ist sie ja ganz gut«, und Veronika verfiel in Nachdenken über dieses Wort.
Die Tante hielt ihr ein glitzerndes Kettchen vor das Gesicht: »Magst es?« Es war sehr hübsch und an einem Ende baumelte ein kleiner Anker mit einem Kompaß darauf. Veronika nickte fröhlich und die Tante schob ihr die Uhr in den Halskragen, daß die Kette bis auf ihre Brust niederbaumelte. Veronika spürte das kühle Gold auf ihrer Haut und lächelte. Der Uhrmacher begleitete sie höflich bis zur Türe. Sie sah noch, wie der kleine Bub mit dem Rockärmel seinen Hut putzte. Er war ganz verweint, aber der alte Herr schaute mit spöttischem Gesicht zu.
Als sie wieder im Wagen saßen, ordnete die Tante mit geschäftigen Händen allerlei Pakete und gab Erklärungen: »Schau, da sind die Mandelkuchen drin, und das da sind die Lebzelten, da ist Honig dabei und da sind die Busserl. Ich lass' dich aber jetzt nichts essen, weilst' dir sonst den Appetit verdirbst.« Veronika hatte gar kein Verlangen, von diesen Dingen zu essen. Sie hätte nur gewünscht, das große Lebzeltenherz, das sie eben von der Tante geschenkt bekommen hatte und das sie noch fest in Händen hielt, aus dem Papier nehmen zu dürfen, um es anzusehen. Es war so über alle Begriffe schön, war mit blauem und weißem und rotem Zuckerguß bedeckt, und in der Mitte trug es ein Bild, ein weißes, kleines Lamm in blauem Feld und eine Fahne darüber. Zu Hause, wenn am Kirchweihtag ein Lebzelter seine Bude auftat, lag immer ein großes Herz als Haupt- und Zierstück mitten unter all den Süßigkeiten. Doch Veronika hatte niemals gesehen, daß einer es zu kaufen und fortzutragen wagte. Jetzt aber besaß sie selbst so ein Herz, noch prächtiger und größer, als je eines aus der Kirchweih erschienen war. Nie im Leben wollte sie davon essen, sondern es immer aufbewahren. Es schien ihr grausam und unbegreiflich, daß sie es nur so in Papier gehüllt tragen sollte, und sie verlangte sehnlichst danach, es offen zu zeigen. So wie sie es jetzt hielt, war ja nichts getan damit. So gehen die Leute vorbei, dachte sie, und sehen nichts, und niemand weiß, daß sie das wunderbare Herz in ihren Händen trägt.
»Schau dich doch ein bissel um, Veronika – du kommst ja nicht alle Tag' nach Wien.«
Sie blickte rasch auf. Da fuhr der Wagen gerade über eine Brücke. Die Stadt, die sie seit gestern abend mit ihren Häusern eng umstellt hatte, lag hier auf einmal frei, und der silberklare Fluß schlüpfte in einer zierlichen Wendung herein. Veronika sah wie durch eine offene Tür in das Land hinaus, dorthin, von wo sie gestern gekommen, woher die Wellen da unten kamen, die ewig unterwegs waren und ewig eintrafen. Ferne schloß der grüne Leopoldsberg den Horizont und grüßte sie als ein stiller Freund, der über die Dächer zur Stadt hereinschaut, wie es der Veronika wohl ergehen mag.
»Schön ist's heut«, sagte die Tante. Aber der Fluß war schon verschwunden und der Berg und die Weite des Himmels, und es gab rings umher wieder nur hohe Häuser, Menschen zu Fuß, zu Wagen, überall Menschen.
Sie sprachen nun kein Wort mehr, saßen in die weichen Polster des Wagens geschmiegt und fuhren immer rascher, bis sie in den Prater kamen. Als sie im Hofe der Krieau ausstiegen, sagte Rosi, indem sie umherdeutete: »Da schau, hier is man wie am Land.« Veronika war sogleich hinter zwei jungen Hunden her, befreundete sich mit den Tauben und stand liebevoll vor dem Eichhörnchen, das in seinem Käfig große Augen machte.
»Gib auf dein Kleid acht, die Hunde werden dir's ruinieren.«
Veronika erschrak und war tief bekümmert darüber, daß sie jetzt eine Weile gespielt hatte wie ein Kind, genau so wie ehegestern noch zu Hause, als sei unterdessen gar nichts geschehen. Ist denn nichts in mir verändert? fragte sie sich. Sie war enttäuscht und mühte sich ab, in sich hineinzuhorchen, und konnte es zu nichts bringen als zu einem feierlichen Unbehagen. Und in dieser Stimmung, in der sie ängstlich auf sich achtgab, sich Mühe nahm, alles Kindische in ihrem Gehaben zu verbergen, saß sie mit der Tante dann zu Tisch und aß in steifer Haltung mit unbequemer, ermüdender Geziertheit alle die schönen Speisen, bei deren Anblick schon sie sich zu einem feineren Betragen gezwungen fühlte. Dann aber schlief sie, des Weines ungewohnt, im Schoße der Tante ein, bekam glühend rote Wangen und schlafrote Ohren.
Beim Erwachen lag sie mit dem Kopf auf einem harten Kissen auf der Bank. Außerhalb des Gartens stand die Tante vor dem Wagen und plauderte mit dem Kutscher. Veronika suchte ihre Pakete. Wo waren sie? Ach ja – im Wagen dort. Sie hatte nichts bei sich. Jetzt erst kam ihr die Uhr in den Sinn und sie fühlte sie nun auch an ihrem Halse. Sie hatte ganz daran vergessen. Nun griff sie danach und betrachtete ihr neues Eigentum. »Es ist fünf Uhr«, sagte sie dann beinahe laut und mit solcher Entschiedenheit, als verkünde sie ein Gesetz. Sie erhob sich, strich ihr Kleid zurecht und ging mit schlaftrunkenen Bewegungen zur Tante.
»Na?« lachte ihr Rosi entgegen, »schon ausgeschlafen? Da wollen wir aber gleich fort.«
Sie war ganz erfrischt und ohne jede Ermüdung, als der Wagen unter den hohen Praterbäumen dahinrollte. Mit dieser raschen Fahrt, bei der ihr die laue Luft weich ins Gesicht blies, schien ihr alles aufs neue zu beginnen. Sie lehnte sich bequemer in die Kissen zurück, fühlte sich ernst und ruhig, was sie mit Freuden wahrnahm. Unablässig rollten flinke Wagen an ihnen vorüber, und sie selbst fanden sich eingeschlossen in einer Wagenkolonne, die sich in der endlosen Allee eilig vorwärts bewegte. Beständig fuhren weißgekleidete Mädchen an ihnen vorbei, das Firmel-Kränzchen im Haar, Knaben in schwarzen Anzügen, weißen Handschuhen und hohen Hüten, wie Erwachsene. Veronika freute sich der vielen schönen Pferde, die mit mutigen Bewegungen einhertrabten, sie freute sich der vielen Menschen, die zu beiden Seiten des Fahrweges im Schatten der alten Kastanien standen und zu ihr hinüberschauten, und sie bewunderte den Sicherheitswachmann, der würdevoll und gelassen inmitten des Getriebes zu Pferde saß und über alle zu herrschen schien. Zweifellos war diese festliche Auffahrt nur für die Firmlinge veranstaltet, und die übrigen Menschen, die da zu beiden Seiten des Weges Spalier bildeten, kamen nur her, die geweihten Kinder zu sehen. Plötzlich erblickte sie den Jungen wieder, der heute früh im Uhrmacherladen so häßlich sich betragen hatte. Er fuhr soeben vorbei, und der alte Herr saß breit und lächelnd neben ihm. Sie winkte dem Knaben, ganz erfreut, einen Bekannten zu treffen. Der aber bemerkte sie nicht, denn er blickte gerade ernsthaft auf seine Uhr.
»Schau,« sagte die Tante und richtete sich lebhaft auf, »da kommt wer vom Hof.«
Hohe, goldgeschirrte Pferde mit nickenden, stolzen Köpfen näherten sich. Veronika sah den Kutscher und Bedienten in seltsam geformten goldbortigen Hüten und dann sah sie auf hellen Atlaskissen ein junges, märchenhaft feines Mädchen, das sich nach allen Seiten hin grüßend verneigte. Im Nu war sie vorbei. Veronika blickte hinter sich und sah die schneeweiße, schöngebogene Peitschenschnur über den Lakaien schweben und sah das blonde Haupt der kleinen Prinzessin sich immer wieder neigen, während alle Leute den Hut zogen. »Das war die Erzherzogin Elisabeth«, sagte die Tante und hatte etwas Bewunderndes in ihrer Stimme und in ihren Mienen.
Veronika jedoch fühlte sich im tiefsten beschämt und wußte nicht warum. Der Anblick dieses prunkvollen, lächelnden Geschöpfes war berückend gewesen, und dennoch kam sie sich nun so merkwürdig verarmt vor. Sie wandte sich rasch zur Tante: »Wie alt ist sie denn?«
»So alt wie du ...«, sagte Rosi, und Veronika errötete beglückt.
Der Kutscher schmunzelte, als Tante Rosi ihm zurief: »Fahren wir in den Wurstelprater.« Von weitem schon hörte Veronika vielfache Musik, und als sie den Wagen verließ und in das Gedränge hineinschritt, das, von hundert Stimmen lärmend übertönt, wie eine große Welle ihr entgegenkam, ward sie wieder von jener aufgeregten Erwartung befangen, die sie heute früh empfunden hatte. Von dem Geschrei der Ausrufer und von den bunten Bildern vor den Buden ward ihre Aufmerksamkeit bald dahin, bald dorthin gezerrt.
»Astarte, die Königin der Luft!« brüllte jemand neben ihr. »Astarte! Astarte! Astarte!« Ein starker Mann stand vor einer Bude und schrie immerfort mit rotem Gesicht: »Astarte, die Königin der Luft!« Er sah Veronika streng an, daß sie erschrak, als sei sie einem Befehle ungehorsam gewesen. »Kommen Sie herein! Bitte hereinspazieren!« rief er ihr wütend zu. Sie fürchtete sich. Der Mann aber tobte: »Was heißt denn das? So was muß man sehen!« Und es schien, als wolle er jemanden ermorden. Veronika stand still. Um nichts hätte sie gewagt, hier vorbeizugehen. Der wilde Mann kam sogleich näher, direkt auf sie zu, und sagte ganz sanft: »Bitte näherzutreten, mein Fräulein, eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges.« Und mit einem flehenden Blick schritt er ihr voraus. Veronika folgte mechanisch, lachend ging die Tante hinterdrein. Ein Vorhang, der prunkvoll schien, hob sich, und sie waren in einem dunklen Raum. Die Stimme einer unsichtbaren Frau sagte: »Bitte die Herrschaften, Platz zu nehmen. Die Vorstellung wird sogleich beginnen.« Veronika wurde festlich gestimmt, noch mehr aber, als nun ein Klavier zu spielen begann. Vor ihr wurde es plötzlich hell, und in rotem Atlashöschen stand ein hochfrisiertes, ernstes Mädchen auf dem Podium. »Erlaube mir vorzustellen,« sagte die Stimme der unsichtbaren Frau, »das ist Astarte, die Königin der Luft, aus Berlin, die sich schon vor Prinzen und Königen produziert hat.« Veronika blickte ehrfürchtig zu ihr auf und erinnerte sich an die junge Erzherzogin. Vielleicht war sie eben hier gewesen. Während sie sich in den Anblick Astartens vertiefte, ihre bloßen Schultern und Arme und die Goldfransen ihres Trikots bewunderte, sagte dieselbe Stimme: »Astarte, verschwinde,« und sofort verschwand die Erscheinung. Nur ein fahler Lichtschimmer blieb an der Stelle, an der sie gestanden. »Astarte, zeige dich wieder«, und augenblicklich ward das hochfrisierte Mädchen sichtbar mit derselben gleichmütigen, ruhigen Haltung. Nun begann das Klavierspiel von neuem, und Astarte flog im Kreise der Lichtscheibe umher, drehte sich, schien wie ein Fisch in einem Glase zu schwimmen, hatte den Kopf nach unten gekehrt und hing schwebend im leeren Raume, richtete sich wieder auf und stand zuletzt in der ersten Stellung da, gleichgültig, ruhig, mit trüben Augen ins Leere starrend. Veronika war von großer Bewunderung ergriffen. Als sie die Bude verließen, ging sie lebhaft vor der Tante her. Nach kurzen Schritten aber blieb sie entsetzt stehen und ein kleiner Schrei entfuhr ihr. Da ruhte auf einer dünnen Säule ein halbes Mädchen, ohne Bauch, ohne Füße, ohne Arme, hilflos und elend, und ein lächelnder junger Mann mit aufgedrehtem Schnurrbart stand daneben und jubelte: »Die Dame ohne Unterleib! Schau'n Sie sich das Weltwunder an. Das kostet nichts! Dafür verlangen wir kein Geld.« Veronika blickte bestürzt zu ihm auf, aber auch das Mädchen da droben lächelte, sie hatte trotz ihres fürchterlichen Zustandes prunkvoll gebrannte Stirnlöckchen und schien völlig getröstet. Da wandte sich Veronika verzweifelt zur Tante: »Um Gotteswillen! Kann sie denn leben?«
Rosi lachte laut auf: »Das ist ja ein Schwindel! Du dummes Mädel du!«
»Schwindel?« fragte Veronika, »wenn sie keine Füße und keine Hände hat?«
Rosi lachte noch mehr: »Nein, das darfst du nicht glauben. Die hat grad so viel Hände und Füße und ist überhaupt genau so gesund wie du. Ein Schwindel ist das, weiter nichts.«
Veronika wurde sehr nachdenklich: »Und die Astarte, die Königin der Luft? Ist das auch ein Schwindel?«
»Natürlich.«
»So? Aber sie ist doch die Königin der Luft?«
»Na ja ...«
Veronika begriff das nicht. Warum zeigte man diese hier ohne Arme und Beine, wenn sie doch gesund war, warum ging man zur Astarte, und warum wurde Klavier gespielt drinnen und die Prinzen und Könige kamen, das hatte die unsichtbare Stimme gesagt, und dann war es so wunderschön.
»Schau lieber da her!« rief Rosi. Auf einem erhöhten Podium standen einige ganz winzige Menschen.
»Kinder!« schrie Veronika.
»O nein! Das sind Zwerge! Die werden nie größer, bleiben immer klein.«
Veronika lief herzu. Ein kleines Männchen stand da, mit einem schwarzen Schnurrbart und war aber nur so groß wie ein dreijähriger Bub, neben ihm eine Dame, nicht höher als der Mann. Veronika sah nun, daß sie beide alt waren, gelbe, traurige und faltige Gesichter hatten. Darüber war sie ein wenig betroffen, denn sie erschienen ihr überaus zierlich und sie dachte sogleich, es müsse ein rechtes Glück sein, immer so klein zu bleiben und so lieb. Augenblicklich hatte sie den Wunsch, mit ihnen zu spielen, und als der Ausrufer eine kleine goldene Karosse zeigte und dazu sagte: »Dieses hier ist der Wagen, in welchem die Herrschaften da alle Tage spazieren fahren«, erfüllte Veronika aufrichtiger Neid. Plötzlich fielen ihr Märchen ein. Die Zwerge! Schneewittchen! Und sie empfand eine heftige Freude. Es gibt also wirklich Zwerge. Da sind sie ja, hier vor ihr, und es ist wahr, daß sie unermeßliche Reichtümer haben und in goldenen Kutschen fahren. Nun sieht sie es ja selbst mit eigenen Augen. Zum ersten Male an diesem Tage fühlte sie befriedigtes Wünschen, gestillte Erwartung, und zum ersten Male, während sie sich jetzt ihre Märchen bestätigte, war ihr, als wisse sie nun wirklich mehr als gestern.
Später gingen sie noch zum Meerestaucher. Als der große, finster blickende Mann den Helm aufsetzte, in den Bottich stieg und im schmutzigen Wasser verschwand, meinte Veronika wieder, daß ihr Wissen nun sich erweitert habe, und war in ihrer Seele zufrieden. Sie gedachte mancher Dinge, die sie in der Schule gelernt hatte, deren Wirklichkeit aber nie für sie in Betracht gekommen war, ja, an die sie niemals recht geglaubt hatte. Jetzt aber empfing auf einmal alles, was sie gelernt hatte, durch den Meerestaucher wirkliches Leben. Sie stand am Rande des Kübels, und für sie weitete er sich zum Meere, denn auch, daß es ein wirkliches Meer gab, wußte sie erst in diesem Augenblick ganz bestimmt, und vor ihren Gedanken breitete sich eine unendliche, ruhevolle Wasserfläche aus, die sonnig dalag und über den tapferen, zur Tiefe getauchten Menschen schwieg.
Die ersten Lampen glänzten schon, als Veronika mit ihrer Tante von den Buden sich entfernte. Sie ließ sich vom Schnarren der Leierkästen, vom Gedröhne der Blechorchester, von all dem heiteren Rufen und Schreien umfangen wie von einer lieblichen Musik, und in diesem durcheinanderstürmenden Lärm schien ihr eine Kraft eingeschlossen, die sich überstürzend herandrängte. Sie war von einer zuversichtlichen Heiterkeit erfüllt und schritt beinahe tanzend einher.
»Magst dich ringeln lassen?«
»Ja, o ja!« Und sie gingen zum Ringelspiel, wo ein dicker kurzhalsiger Mann mit einem breiten, glatten Froschgesicht stand und brüllte, bis ihm die Augen aus dem Kopfe traten: »Einsteigen! Einsteigen! Abfahrt nach Berlin, Paris, London!« Eine Lokomotive wartete, blitzblank, hinter ihr kleine offene Wagen im Kreise. Dann wieder scheckige Pferde, die sich bäumten, die Ohren hochgespitzt hielten und aus großen Glasaugen wild umherzublicken schienen.
Veronika wollte auf ein Pferd. Ohne sich helfen zu lassen, sprang sie hinauf, saß kühn im Sattel mit baumelnden Beinen, wiegte sich hin und her und griff nur leicht nach dem Kränzchen, ob es sich nicht verrücke. Dann schaute sie zufrieden und lachend nach allen Seiten. Eine rasende Musik setzte ein. Langsam fing das Spiel an, sich zu drehen. Die Tante stand in der Tür mit anderen Leuten und winkte, und dann verschwand sie. Es war wie ein Abschied. »Nach Paris! Nach London!« sagte sich Veronika vor, und im Fluge blickte sie zu dem Chinesen auf, der in der Mitte sich sachte um sich selbst drehte und dabei feierlich die Hände emporhob. Sie hatte ihn jetzt erst bemerkt. »Nach Amerika!« In diesem Geknatter und Gestampfe, in dem Dröhnen und Klingen lag die ganze Welt vor ihr offen, und sie war überzeugt, daß genau soviel Lärm nötig sei, wenn jemand auf die Reise ginge. Die Drehungen wurden rascher, immer rascher. Veronika flog jetzt sausend dahin und sah von allen Menschen nichts; nicht mehr die Tante, niemanden. Alle verschwommen zu einer undeutlichen, zitternden Masse. Ihr Holzpferd bäumte sich, und Veronika schleuderte sich im Sattel mit behenden, fischartigen Bewegungen umher. Sie war nun allein mit sich, zum ersten Male an diesem Tage, und horchte jetzt auf all ihren Reichtum, ohne ihn in seinen Einzelheiten zu betrachten. Sie überschlug ihn nur geschwind bei sich und nahm die tolle Fahrt, in der sie ihre Lustigkeit schießen lassen konnte, mit unter die Güter auf, die ihr zugefallen waren. Sie warf den Kopf zurück und jauchzte leise. Sobald sie aber bemerkte, daß ihre Stimme von der donnernden Musik verschlungen wurde, schrie sie lauter und lauter und gab sich zuletzt in einem langanhaltenden singenden Jubelschrei, der sich der dröhnenden Melodie anpaßte und in ihr verflatterte. Sie war wie in einem plötzlichen Rausch, und da sie bisher alles, was ihr begegnet war, still hingenommen hatte, schien es, als wolle nun erst ihr Denken zu tönen beginnen.
Das Ringelspiel ging langsamer und die Musik brach so plötzlich ab, daß Veronika, die sich mit ihrem Jauchzen dahinter versteckt hatte, jetzt, im Stiche gelassen, hörbar wurde, wie ein zwitschernder kleiner Vogel, der einem Orchester obsiegt.
Heiß und rot glitt sie von ihrem Rößlein herab, stand eine Weile noch benommen da, flog aber, kaum sie Rosi erblickte, dieser entgegen und warf sich heftig in ihre Arme.
»Na, so komm halt jetzt ...,« sagte die Tante und herzte sie ein wenig, »du bist ganz echauffiert.«
Es war dunkel geworden und ringsumher kam aus allen Gärten und Buden der blendende Glanz vieler Lampen. Von den alten Bäumen herab strömte ein frischer Laubgeruch. Veronika ging mit wankenden Knien neben der Tante. Noch drehte sich der Boden unter ihr, und ein Beben war im ganzen Körper von jener Fahrt zurückgeblieben. Sie hing sich an Rosis Arm: »Ach, ich bin noch ganz hin, Tante,« seufzte sie gelöst, »aber schön war's ...«
»Natürlich, alle Kinder tun gern ringeln ...«
Veronika war bestürzt darüber, das eben Erlebte so herabgedrückt zu hören. Ist denn alles vergebens gewesen und sie immer noch ein Kind? Warum hatte sie die Tante hergeführt und sie aufs Pferd setzen lassen, wenn das ein Kinderspiel war? Sie wußte doch, was sich heute zugetragen hatte. Allerdings, Veronika erinnerte sich, auch ganz kleine Kinder im Ringelspiel gesehen zu haben. Allein dergleichen war sie jetzt schon gewöhnt. Auch in der Kirche waren diesen Morgen kleine Kinder gewesen. Überdies: die hier eben, die hatten ja in einem Wagen gesessen, aber nicht allein, auf einem Pferd. Veronika wurde dennoch sehr traurig.
Wie ihr Körper im Taumel geblieben, der noch von der kreisenden Fahrt in ihr weiter schwang, so waren ihre Gedanken jetzt langsam durcheinandergeraten. Sachte wollte in ihr eine Enttäuschung aufdämmern, aber schon das Vorgefühl davon nahm sie mit solcher Angst wahr, daß sie sich heftig dagegen zur Wehr setzte und nichts hören wollte. Es war, als sei sie leise von jemandem angesprochen worden, den sie über die Maßen fürchtete und der nun bei ihrem Erschauern ohne ein weiteres Wort im Dunkel verschwand. Veronika ging weiter und ließ dieses entsetzliche Gefühl zurück. Für sie blieb es hinter ihr liegen, gerade an dem Ort, an dem sie soeben vorbeigegangen war, an der Laterne dort, neben dem Grasweg, bei der finsteren Bude. Aber eine übermächtige Langeweile breitete sich in ihr aus, erfüllte sie mit Schläfrigkeit und übergoß überall alles mit einem faden, bleifarbenen Flimmern. Sie kämpfte vergebens dagegen an. Immer leerer wurde es ringsumher, leblos und erstarrt, als sei aus diesem mit Musik und Lichtglanz, mit Buden und Menschen gefüllten Garten die Luft entwichen und die Wärme. – Veronika hing schwer am Arm der Tante und fühlte sich einsam, mißhandelt, eingeschüchtert und müde. Von allen Liedern und Märschen, die hier gespielt wurden und die vorhin so fröhlich auf sie eingedrungen waren, vernahm sie jetzt gar nichts als ein andauerndes, freudloses Blechrasseln, das sie betäubte. Nur die Sehnsucht, die seit der Marienandacht zu Hause tönend in ihr aufgewacht war, ging noch als eine schlichte Melodie in ihrer Seele weiter, und nur diese hörte sie jetzt, aber ganz von weitem, wie verweht.
»So, da ist der Eisvogel,« sagte die Tante, »na, und der Kutscher is auch da.« Während sie in den hellen Gasthausgarten traten, fragte Veronika, neugierig umherschauend: »Wo ist der Eisvogel? Geh, wo denn? Ich möcht' ihn sehn ...«
»Na, da ist er, – – wir sind ja da, beim Eisvogel.«
Veronika begriff, daß der ganze Garten Eisvogel heiße, aber sie beschäftigte sich mit dem wunderbaren Namen. Vielleicht ist einmal einer da g'sessen, dachte sie, und blickte über die vielen weißgedeckten Tische, als könne sie jetzt doch noch irgendwo einen Eisvogel sitzen sehen. Viele Menschen waren an den Tischen, gingen suchend dazwischen durch, und über allen tönte ein fröhliches Gläserklirren, lag ein frischer, lauer Speisenduft. Veronika erblickte jetzt die Damenkapelle und war sofort bezaubert. Weißgekleidete junge Mädchen, die Geige spielen, Flöte blasen und sogar die Trommel schlagen, das erschien ihr beinahe erhaben. In dieses Schauspiel ganz verloren, wußte sie nicht, was ihr besser dünkte, in einem goldenen Wagen durch den Prater fahren und sich nach allen Seiten hin verneigen, oder im weißen Kleid mit einer blauen Schärpe hier in dem prächtigen Garten stehen, die Geige spielen und die Trommel schlagen.
Als sie schon eine Weile saßen, sagte Veronika: »Ich möchte Geige spielen lernen, oder Trommeln ...«
Die Tante begriff: »O nein, mein Kinderl,« sagte sie, »das is nix.«
Diesmal erlaubte sich Veronika einen Widerspruch: »Wieso denn? Warum is das nix?« Tante Rosi antwortete nicht gleich. Sie streifte die Handschuhe ab, rekelte sich ein wenig und sah ermattet aus. Dann schaute sie mit lächelnden Blicken herum.
Veronika aber wollte Antwort haben: »Warum is das nix? Sag' doch, Tante, warum? Das ist doch sehr schön ...«
Rosi schaute sie gütig an: »Bist halt noch kindisch ...«, und als sie bemerkte, daß Veronika tief errötete und traurige Augen machte, fuhr sie fort: »Ich mein' ja nur ... du hast halt nicht die Erfahrung ... das da,« und sie deutete mit einer kurzen Handbewegung auf die Spielenden, die mit Pauken und Trompeten einen Marsch schmetternd ausklingen ließen, »das sieht ja ganz schön aus, so bum bum tschindadara! Ja, aber die armen Mädeln haben ein schweres Leben ...«
Veronika sah neugierig hin. Nun fielen ihr die ernsten Gesichter auf. Alle spielten das lustige Stück und schauten dabei angestrengt, fast düster in die Notenblätter und viele waren bleich. Eine hatte einen Zwicker auf und war schon alt. Sie blies die kleine Flöte mit vorgebeugtem Kopf und mit sehr gespitzten, verdrießlichen Lippen. »Ein schweres Leben«, wiederholte Veronika leise.
Rosi nickte: »Ja, ein leichtes Geschäft ist das nicht ...«
Veronika wendete sich zu ihr und fragte unvermittelt: »Und du, Tante, was hast denn du für ein G'schäft ...?«
Rosi schrie beinah auf: »Ich ...?!« Sie schöpfte Atem, zupfte sich an der Halskrause und sah Veronika von der Seite an. Seit sie dieses blühende Kind bei sich hatte, schien es ihr ausgemacht, daß die Kleine da um alles wisse, wie man in diesem Alter eben um solche Dinge ein Ungefähres weiß, und daß sie darüber schweige, wie jeder darüber geschwiegen hatte, den sie seither vom Dorf daheim gesprochen. Veronika aber saß da und schaute sie mit hellen Kinderaugen wichtig an und tat eben den Mund auf, um ihre Frage zu wiederholen.
Rosi bekam Angst. Langsam wurde sie rot, immer mehr, daß ihr hübsches Gesicht bis unter das Stirnhaar sich färbte.
Veronika neigte sich vor, legte beide Hände auf den Tisch und sagte: »Du bist ja so reich, Tante, nicht wahr? Und arbeiten tust du auch nix, was?«
Einstweilen rettete sich Rosi in diese Frage und antwortete, beinahe flüsternd: »Wer hat dir denn das erzählt, daß ich nix arbeit'?«
»Na, der Vater sagt's immer, du arbeitest nix und hast das schönste Leben ...«
Rosi schüttelte leicht, wie abwehrend, den Kopf. Sie wünschte sich von irgendwoher eine Hilfe herbei gegen die Scham, die sie überfallen hatte und aus der sie keinen Ausweg wußte.
»Na alsdann, sag' doch, Tante, was bist du denn?« klang die frische Stimme der Veronika. Dabei schob sie das Gesicht ganz nahe herzu. Rosi tastete mit unsicheren Händen in das blonde, bekränzte Haar der Veronika: »Mein Kind ...«, sagte sie mit erstickenden Worten ...
»Jesses, die Roserl!« hörte sie plötzlich rufen. Aufatmend fuhr sie empor. Ein großer Mann mit einem weißen Strohhut, den dicken Bauch in einer weißen Weste vorgestreckt, kam rasch zum Tisch heran. Er lachte laut und mit tiefer, unbefangener Stimme: »Ja Roserl, wie kommst denn du da her?«
Rosi lächelte befreit: »Wie soll ich denn herkommen? Siehst denn nicht, ich bin ja gar nicht da.«
Der Mann nahm den Strohhut ab und brüllte vor Lachen. Dann wischte er mit dem Taschentuch über den Kopf. Er hatte eine große rote Glatze. Auf einmal hielt er inne, und die Hand auf dem blanken Schädel, daß ihm die Zipfel wie eine Haube in die Stirne hereinhingen, sagte er zu Rosi flüsternd: »Ja, was ist denn das?« und er deutete auf Veronika, ohne diese aber anzusehen, gleichsam nur mit dem breiten Rücken: »Was ist denn das? – Bist einig'sprungen?«
Rosi setzte sich wieder: »Warum nicht gar! – Das hab' ich gern getan. Ein G'schwisterkind is. Von zu Haus«, fügte sie stolz hinzu.
Der Mann blickte nun Veronika prüfend an. Seine großen, weißen Zähne schimmerten freundlich aus dem roten Schnurrbart. »Ist's erlaubt, Fräulein?« fragte er höflich, aber mit so listigen Augen, daß Veronika dachte, er müsse einen Scherz gemacht haben. Dann ließ er sich langsam auf einen Stuhl nieder, ächzend, als koste ihn das die größte Mühe. »Na weißt, Roserl,« sagte er dann, »wenn mich das Fräulein gar so viel sekkiert, daß ich dableiben soll, so setz' ich mich halt her ... damit ich Ihnen den Schlaf nicht austrag'«, wandte er sich wieder an Veronika. Er reichte ihr, da sie ihn freimütig ansah, seine Hand über den Tisch und sagte gewonnen: »Na, sind wir wieder gut, was?« Es war eine große, braune Hand mit vielen dicken goldenen Ringen, und Veronika fühlte, daß sie sehr warm und weich war. »So ein Handerl, so ein kleines«, sagte er und sah verwundert auf Veronikas Hand herab, die in der seinigen verschwunden war. »Und ganz rot von der Sonn'!« Er neigte den Kopf, fuhr mit dem Schnurrbart darüber hin, als wollte er Veronikas Hand küssen. »Meiner Seel',« fuhr er fort, »man g'spürt noch die frische Luft.« Dann rasch aufsehend, erkundigte er sich: »Alsdann, heut sind S' g'firmt word'n, was?« Veronika nickte. »Das is recht«, sagte er lebhaft und ganz erfreut, als ob ihm ein Glück widerfahren sei. »Das is recht, mein Kind, und schön is', was? Na, ich gratulier', ich gratulier'.« Er drückte ihre Hand noch einmal herzlich fest und ließ sie dann frei.
Veronika war entzückt. Der erste Mensch, der ihr Glück gewünscht hatte. Der Erste, der ihr zeigte, daß sie nun anders war und der sie die Ehre des Tages fühlen ließ. Sie rückte auf ihrem Sessel und richtete sich höher auf. Dann sah sie, wie er sie genau betrachtete, und glaubte, er bestaune sie so recht in ihrer Freude. Er wandte sich zu Rosi, mit leisen Worten, die aber hörbar blieben, weil er nicht imstande war, die Kraft seiner Stimme völlig zu dämpfen: »Du, schön ist dir das Mädel! Wirklich, sauber, – und ganz fertig!« Hierauf neigte er sich noch näher zur Tante und wisperte etwas, das im Gebrumme undeutlich blieb. Rosi flüsterte gleichfalls und fügte nur, die Hand auf das Herz legend, etwas lauter hinzu: »Meiner Seel', Leopold, wenn ich dir sag' ...« Leopold warf nochmals prüfende Blicke auf Veronika und sagte dann: »Na freilich, man siecht's ja, man siecht's ja ...!«
Dann aßen sie fröhlich miteinander und Leopold machte viele Scherze, über die Veronika lachen mußte. Er fragte sie, ob sie auch eine Uhr bekommen habe, verlangte sie zu sehen, und als Veronika sie ihm hinhielt, rief er: »Wo denn? Wo denn? Ich seh ja nichts ...«
Veronika sagte: »Aber da. Da liegt sie ja!«
Er tat, als ob er die Uhr suche: »Wo denn? Ich seh noch alleweil nichts ...«
Nun zeigte Veronika mit dem Finger darauf: »Da – da liegt sie«, sagte sie entschieden.
»Opla!« rief er und stellte sich übermäßig erstaunt. »Das is ja gar keine Uhr. Das is ein roter Floh!« Er schlug rasch mit der hohlen Hand darüber, als ob die Uhr wirklich davonspringen könne und als wolle er sie fangen. Dann legte er die seinige heraus. Ein großes, dickes, goldenes Ungetüm, das wie gefesselt an einer schweren Goldkette hing. Es war ein Doppelgehäuse, und er ließ den Deckel springen. Veronika mußte gleich an den Buben von heute früh denken. »Na, da schauen S' her, Fräul'n, woll'n S' tauschen? Ich gib's Ihnen, ... na?« Veronika starrte die andere Uhr an, neben der ihre eigene wie ein Punkt sich ausnahm. »Na, so tauschen wir«, sagte Leopold so einladend, daß sie anfing, die Sache zu überlegen. Er merkte das und fügte ernsthaft hinzu: »Wissen S', Fräul'n, da nehmen S' Ihnen dann einen Dienstmann, daß er's Ihnen nachtragt, die Uhr.«
Er wollte sie wieder einstecken, aber Rosi hielt die Kette fest und besah die Anhängsel. Veronika beugte sich vor, und auch Leopold duckte sich und schaute zu, wie Rosi die goldenen Niedlichkeiten durch die Finger gleiten ließ. Alle drei saßen sie so da, friedlich mit zusammengesteckten Köpfen, in einer Vertraulichkeit, die Veronika als Ehre empfand. Stück für Stück bewunderten sie. Ein kleiner Hund war da, ein Schweinchen mit roten Augen, ein Pferd, das durch ein Hufeisen sprang, ein Pilz mit blauem Emailkopf.
»Und das Kreuzl da, das werd' ich Ihnen schenken, Fräulein«, sagte Leopold, löste es ab, und da lag es, von der übrigen Gesellschaft befreit, allein und funkelnd auf dem Tisch. Veronika nahm es in die Hand und liebkoste seine glatten Kanten. Sie schaute Leopold ungläubig an. »Na ja, wirklich, ich schenk's Ihnen ...« Sie war ganz glücklich, begriff die Sache nicht und trotzdem erschien es ihr selbstverständlich, ja, sie fühlte sich sogar berechtigt, alles anzunehmen. Dennoch dankte sie nur leise und schüchtern und blickte Rosi dabei an, ob sie es auch erlaube. Tante Rosi beachtete sie aber gar nicht. Sie hielt zwischen zwei Fingern alle Anhänger, klirrte damit und hielt sie Leopold hin und mit so heftiger Bitte sah sie ihn dabei an, daß Veronika in Erstaunen geriet. »Na, und mir gibst du nix?« fragte Rosi.
Veronika wunderte sich noch mehr. Die Tante wollte von jemandem etwas geschenkt haben?
»Mir gibst du nix?« wiederholte Rosi dringend. Leopold schwieg, lächelte und wiegte den Kopf. Veronika bekam auf einmal Angst, er könne nein sagen, und sie glaubte, das müsse dann furchtbar sein, denn die Tante sah so aus, als hinge ihr ganzes Wünschen daran.
»Geh, was willst denn von dem Kram?« fragte Leopold ruhig.
»Das da schenkst mir!« Und sie hielt ihm das Schweinchen vors Gesicht, daß es mit seinen roten Augen Leopolds Nase anzublicken schien.
»Das möchst'?«
Im Nu hatte Rosi es abgelöst, warf die Kette hin und befestigte das Schweinchen an ihrem Armband. Veronika wartete noch immer, daß Leopold ja sage. Noch gehörte das goldene Ding da gar nicht der Tante. Was tut sie denn? dachte Veronika. Sie nimmt es sich einfach, ohne daß er's erlaubt. Er wird gewiß böse sein. Rosi hielt ihre Hand empor, ließ das Schweinchen baumeln und sah es an. Leopold wippte mit einem Finger, daß es stärker hin und her pendelte, dann neigte er sich flüsternd zu Rosi und fragte sie etwas.
Sie fuhr auf: »Heute? Du bist verrückt!«
Veronika wußte sich's gar nicht zu erklären. Erst hatte sie ihm was weggenommen und jetzt schrie sie ihn grob an.
Leopold blickte mißvergnügt auf Veronika, und Rosi sagte eifrig zu ihm: »Morgen, weißt du, wenn ich wieder allein bin ...«
Da klopfte er an sein Glas und rief: »Zahlen!«
Rosi scherzte: »Deswegen kannst du doch dableiben.«
Als der Kellner kam, fragte Leopold: »Was habt's denn g'habt?« und er zahlte alles. Vorher aber wandte er sich freundlich an Veronika: »Möchten S' vielleicht noch was essen, Fräulein?«
Der Kellner war gegangen, lächelnd und dankend. Leopold raffte mit seinen großen, weichen Händen das Silbergeld zusammen. Die dicke Brieftasche lag auf dem Tisch. Rosi griff danach und öffnete sie.
»Laß stehn«, sagte Leopold mit leichter Verdrießlichkeit. »Laß doch stehn!« Und Veronika dachte: Jetzt wird sie ihm das Geld wegnehmen.
Aber Rosi schaute nur so von der Seite mit einem blinzelnden Auge hinein und rief: »Je, das viele Geld!« Dann gab sie die Tasche ruhig zurück, und Leopold schob sie, die Zigarre im Mundwinkel drehend, mit Ächzen in die Brusttasche.
Wer ist der Leopold? fragte Veronika indessen bei sich. Er ist sehr reich. Und augenblicklich fiel ihr der Vater ein, mit der braungestrickten Jacke, den knochigen, schwarzen Händen und dem arbeitsmüden, gekrümmten Rücken. Wie würde er zu Leopold sprechen? Tante Rosi sagt du zu ihm, nimmt ihm das Glücksschweinchen von der Kette und schaut in seine Börse. Würde der Vater auch du zu ihm sagen? Kennt ihn der Vater? Leopold! Sie hatte nie von einem Leopold sprechen gehört.
»Aber ich werd' euch was anderes sagen, Kinder«, rief er plötzlich.
Kinder? dachte Veronika, er ist gewiß aus der Verwandtschaft.
»Ich werd' euch was anderes sagen, fahr'n wir zum Ronacher, was?«
Rosi widersprach: »Jetzt noch zum Ronacher? Es ist gleich neun Uhr, die Veronika muß schlafen gehen.«
Schlafen gehen? Veronika war sehr erschrocken. Also ist dieser Tag wirklich schon zu Ende, und das war alles?
Leopold bemerkte ihr angstvolles Gesicht. »Lächerlich,« sagte er, »das Fräul'n ist gar nicht schläfrig. Wir führ'n s' noch zum Ronacher, das hat sie g'wiß noch nicht g'sehn.« Dann, wie um Rosi zu bestimmen, fügte er bei: »Der Eugen ist dort, mit der Mali, und der Ferdinand hat auch g'sagt, daß er hinkommt.«
Die Tante zögerte noch: »Du weißt ...« und sie warf einen bedeutsamen Blick auf Veronika, »nein, nein, es ist besser, wir fahren zu Haus.«
Er beruhigte: »Aber woher denn? Was kann ihr denn g'schehn? Gar nix!« Und nochmals bekräftigte er laut: »Gar nix kann g'schehn, lächerlich!«
Sie standen auf und verließen den Garten. Ein fescher Marsch wurde eben wieder gespielt, und Veronika wiegte sich in der von Fröhlichkeit geschwellten Melodie, während sie hinausspazierte. Da ging die Musik mit einem Akkord plötzlich in die Volkshymne über, alle Leute applaudierten, und über das Klatschen und Rufen hinaus stieg das »Gott erhalte« süß und feierlich zu den Bäumen. Veronika schaute noch einmal die Mädchen auf dem Podium an. Sie saßen in ihren weißen Kleidern mit den blauen Schärpen, spielten und trommelten ernsthaft und wie bewußtlos und schienen eben jetzt sehr angestrengt von der festlichen Stimmung, die sie verbreiteten.
Als die drei auf die Straße traten, lag der Garten klingend hinter ihnen, und Veronika sang draußen den Schlußrefrain laut mit.
Es war eine sausende Fahrt aus dem dunklen, menschenerfüllten Prater in die Stadt. Veronika saß zwischen Rosi und Leopold und fühlte ihr Haar, vom Luftzug angeweht, flattern. Sie war ganz erfrischt und munter, sich selbst überlassen und wie allein, Rosi und Leopold mit ihren halblauten Gesprächen blieben dahinter. Flüchtig nur dachte sie an zu Hause, an den kleinen, grünen Hügel, auf dem die Kirche stand, an ihre eigene enge Kammer. Vater und Mutter schienen ihr wie im Nebel, weit weg. Dann kam die Frage in ihr auf, was nun geschehen solle, wenn sie wieder daheim sei – und rasch tauchte sie in die Gegenwart dieses Tages, der wie eine Reihe von Jahren mit seinen reichbeladenen Stunden hinter ihr lag, gab sich der Fahrt hin und der Erwartung.
Dann hielt der Wagen in einer Säulenhalle. Veronika sah einige grellfarbige Plakate, einen Portier, der herankam, die Mütze zog, ihnen beim Aussteigen half, die Türe öffnete, als habe man sie erwartet. Die sanft ansteigende Treppe war mit roten Teppichen bedeckt, und eine rauschende Musik war hier schon vernehmlich. Veronika begann schneller zu gehen. Bald darauf trat sie mit Rosi und Leopold in eine Loge und sah den glänzenden Saal vor sich. Eilig, aber entzückt trank sie diese neue Pracht mit einem Blick, dann wurde sie allsogleich von einer Dame, die auf der Bühne singend umhermarschierte, gänzlich gefesselt. Sie war wunderschön, trug ein tief ausgeschnittenes Kleid und zog eine lange gelbe Schleppe hinter sich her. Ihr lachendes Gesicht erinnerte an Tante Rosi, und Veronika nahm sogleich ihre Frage von früher wieder auf: »Nicht wahr, Tante, du singst auch da?«
Rosi antwortete jetzt nicht darauf: »Setz' dich nieder und hör' nur recht gut zu«, sagte sie dringend und wies Veronika auf einen Sessel, der vorne an der Brüstung stand. Sie selbst hielt sich mit Leopold ein wenig rückwärts. Veronika nahm es wie eine Aufgabe und paßte scharf auf. Sie horchte die Worte aus dem Gesang hervor, aber sie verstand sie nicht; sie strengte sich besser an, vergeblich, und zur Tante sich umwendend, sagte sie, wie zur Entschuldigung: »Ich hör' zu, aber ich versteh' nichts.«
Leopold erwiderte beruhigend: »Na ja, mein Kind, das ist halt französisch.«
Von jetzt an war Veronika doppelt aufmerksam. Daß es Menschen gäbe, die eine andere Sprache reden, schien sie erst jetzt zu erfahren. Was ist das? Sie sagen alles, was sie wollen, forschte sie bei sich, und man weiß nichts davon. Sie können laut reden, ohne daß man sie hört. Und als die Sängerin dann mit Kußhand und Verbeugung abging, applaudierte Veronika lebhaft. Alle Leute klatschten, aber die Sängerin kam nicht. Sie zeigte nur ihr Gesicht in der Vorhangspalte und lachte, und die Leute klatschten noch mehr. Da verschwand sie, steckte nur das Bein heraus und zappelte damit. Veronika konnte sich nicht beruhigen über diesen Scherz. »Hast g'sehn, Tante, was die gemacht hat? Hast es g'sehn?«
Die Musik begann sogleich wieder, und zwei Clowns kamen. Sie hatten furchtbare Gesichter, die Veronika abscheulich dünkten. Sie hielten aufgeregte, schreiende Gespräche miteinander, die Veronika wieder nicht verstand. Sie begriff aber, daß sie um einen Tisch stritten, und so grausam schlugen sie sich darum, daß Veronika meinte, sie müßten zugrunde gehen. Allein es geschah nichts dergleichen. Der eine hatte ein Brett gefaßt und schmetterte es dem anderen von rückwärts gegen den Kopf. Der blieb jedoch ruhig auf dem Tisch sitzen und rauchte behaglich weiter, als wäre nichts geschehen, indessen das Brett zersprang und die Splitter umherflogen. Nach einer Weile erst ging er weg und rieb sich die Stirne. ›Jetzt ist ihm nicht gut geworden‹, dachte Veronika. Derweil nahm der Missetäter vergnügt den eroberten Platz ein, bis der Vertriebene zurückkam, ein riesiges Beil schwingend. »Nein«, schrie Veronika entsetzt auf, aber schon hatte er zugeschlagen, die Axt saß dem anderen im gespaltenen Schädel und blieb drin stecken. Veronika glaubte, ein Mord sei geschehen, aber der Ermordete hatte die Axt in der Glatze stecken und rauchte weiter. Dann balgten sie sich noch schrecklich und fielen zuletzt über den Tisch her, rissen ihm die Beine aus und setzten sie an den Mund. Und nun begannen sie auf den Tischfüßen eine wundersame Weise kunstvoll zu blasen.
Veronika war über diesen Ausgang sehr betroffen und konnte sich nicht erklären, weshalb sie untereinander gerauft hatten, warum sie sich so gräßliche Verletzungen beibrachten und weshalb sie auf Holzfüßen spielten und nicht lieber auf richtigen Trompeten, da sie doch so schön zu blasen verstanden.
Wieder hatte die Musik begonnen. Ein Herr in einem Samtrock trat auf und begann auf einer grauen Tafel mit erstaunlicher Schnelligkeit zu zeichnen. Veronika sah prächtige Landschaften entstehen, mit Dörfern, dichten Wäldern und hohen, schneebedeckten Gebirgen dahinter, oder Meeresküsten mit aufgehendem Mond, und sie wunderte sich nicht allein über die Raschheit, mit der all das hervorgebracht wurde, sondern weil sie damit zugleich erfuhr, daß die Maler ihre Bilder im Theater anfertigen, während die Musik dazu aufspielt, und sie nun glaubte, es sei ein Gebrauch dieser Künstler, ihre Geschicklichkeit also zu üben.
Unterdessen hörte sie jemanden ganz laut »Servus, Roserl« rufen, und umblickend gewahrte sie, wie eine starke rothaarige Dame mit großem Federhut lebhaft über die Tante herfiel. Leopold streckte die Hand aus und berührte ganz leicht den breiten Rücken der Dame. Sie schnellte sogleich empor, zeigte ein weißes, großes, lachendes Gesicht und schrie: »Ah, mit'n Leopold bist da! Je! Ich bin auch mit mein' Alten da.« Und sie wandte sich um, gegen den Gang hinaus: »Wo is er denn? Wo is er denn?« Hinter einer Gruppe von befrackten Herren kam in hellem Sommeranzug ein kleiner, außerordentlich fetter Mann herbei, der, einen Strohhut schwingend, oftmals hintereinander »Schamster Diener« sagte. Er hatte eine tief ausgeschnittene Weste, und wie ein Blutstreif lief eine rote, dünne Krawatte vom Hals das weiße Hemd herab in den Bauch hinein.
Leopold sah über die Achsel zu ihm hin: »Servus, Prinz Eugen«, sagte er, und Veronika fühlte sich enttäuscht. Ist das ein Prinz? Prinz Eugen hatte ein bartloses, ganz rotes Gesicht und keuchte laut. Seine Augen quollen weit und in ewigem Erstaunen aus dem Kopf. Sie waren blutunterlaufen, was Eugen ein Ansehen gab, als habe er mit schweren Übelkeiten zu kämpfen. »Schamster Diener«, sagte er, neigte sich zu Rosi herüber und versuchte ihr unters Kinn zu greifen.
Leopold fing den Arm auf und sagte: »Obacht!« Nun erst bemerkte Eugen die kleine Veronika und starrte sie einige Sekunden an. Seine Augen fragten so heftig, daß Mali sagte: »Das ist g'wiß dein Firmkind, Roserl? Was?« Und ohne die Antwort abzuwarten, erklärte sie dem sprachlos dastehenden Eugen: »Aber ich hab' dir's ja erzählt, die Rosi ist Firmpatin ... Siehst denn nicht ... das weiße Kleid, das Kranzerl ...?« Eugen begann seinen Strohhut gegen Veronika zu schwenken: »Ah was,« schrie er laut, »der Prinz Eugen sieht schon das Kranzerl und das weiße Kleidl. Aber schön ist das Fräul'n, das g'firmte, das sieht der Prinz Eugen auch ...«
Alle lachten, und auch Veronika stimmte ein. Da begann er wieder seinen Hut zu schwenken und sich zu ereifern: »Das is aber ein ganz ausg'wachsenes Madl ... hörst, Leopold ..., schau's an ... was? Wie die g'stellt ist?« Und zu Veronika gewendet, fuhr er sie an: »Heut erst san S' g'firmt worden? Freilich, was denn? Wer's glaubt ...« er musterte sie von oben bis unten, und Leopold sagte ermahnend: »Ob du an Ruh' geben wirst ...«
Mali schrie auf: »Ich bitt euch, was sagt's zu mein' Alten ... möchst nicht vielleicht anbandeln da?«
Der Vorhang teilte sich wieder, die Musik begann. Langsam kam ein großes Schwein heraus und darauf saß ein buntgekleideter Mensch, der mit einer komischen, tiefen Stimme erklärte: »Das Schwein Odol!« Das Wort Odol klang dabei wie ein gepreßtes Ächzen. Veronika wollte den Spaß nicht allein genießen, als sie sich aber nach der Tante umsah, war sie nicht in der Loge. Rosi und Leopold saßen mit Mali und mit Eugen rückwärts im Korridor an einem Tischchen, tranken und unterhielten sich. Veronika fürchtete, sie könnten alle das seltene Schauspiel versäumen, deshalb stand sie auf, um sie zu holen: »Tante, ich bitt' dich, komm ... ein Schweinderl ist da ...«, sagte sie, aus der Loge tretend.
Wiederum lachten alle, und Mali rief: »Was brauchen wir denn ein Schweinderl? Wir haben ja den Prinz Eugen ...« und sie schlug den fetten kleinen Mann vor die Brust. Eugen riß den Mund auf, denn das Lachen drohte ihn zu ersticken. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, und er winkte eifrig mit der Hand, als hielte er noch seinen Strohhut. Sie waren alle sehr lustig, und Veronika wußte nicht warum. Sie wunderte sich nur, daß keiner zuschauen wollte. Auf einmal bemerkte sie einen hochgewachsenen, schwarzbärtigen jungen Mann, der hinter Leopolds Sessel an der Wand lehnte und sie mit weißen Zähnen anlächelte.
Sie schaute ihn an und dachte: ›Den kenn' ich auch nicht.‹ Er nickte ihr leicht zu und kam hinter dem Tisch hervor.
»Warten Sie, Fräulein, ich werde mir meinen Freund Odol ansehen.« Er trat mit ihr in die Loge.
›Wieso sagt er denn: sein Freund Odol?‹, dachte Veronika und setzte laut hinzu: »Der Mann heißt aber nicht Odol.«
Er lächelte wieder. Es war wie ein heller Blitz in seinem dunkeln Bart. »Ja, ja! Der Mann ist auch nicht mein Freund, aber mit Odol bin ich sehr gut, per du sogar ...«
Sie blickte ihn ungewiß an. Er beugte sich jetzt über die Brüstung und wandte sich aufmerksam der Bühne zu.
Veronika schaute nicht mehr auf die Bühne, sondern sah nur immer ihn an. Er hatte ein ganz weißes Gesicht und eine feine gerade Nase, die ganz blaß war. Darunter aber begann dieser tiefschwarze Bart, der wellig bis zur Brust herabfiel. Er sieht aus wie der Teufel, dachte Veronika. Dann aber betrachtete sie sein Haar, das weich und gleichsam zärtlich um die weiße Schläfe sich legte. ›Nein, wie der Teufel g'wiß nicht‹, dachte sie weiter, und wurde gerührt, als habe sie ihm bitteres Unrecht getan.
Er fühlte ihren Blick und wandte sich ihr freundlich zu, und dieses schimmernde Lächeln ergriff sie wie eine große Gnade. Sie hielt es mit ihren Mienen fest, aber er drehte sich wieder weg und blickte zerstreut im Saale umher. Da fühlte sich Veronika plötzlich wie verstoßen. Sie entdeckte mit einem Male, daß sie viel mit ihm zu sprechen hatte. Sie wollte ihn nach Odol fragen, und ob Eugen wirklich ein Prinz sei, und ob er gehört habe, wie man hier auf Tischfüßen geblasen, aber die Stimme versagte ihr, daß sie sich nur einige Male räusperte, und dann befiel sie eine tiefe Hoffnungslosigkeit.
Tante Rosi rief: »Ferdinand, Ferdinand!« Er stand gelassen auf: »Da bin ich schon«, und ging hinaus zu den anderen, ohne etwas zu sagen. Veronika war es, als sei ein Unglück geschehen, und sie bildete sich ein, die Tante habe Ferdinand absichtlich gerufen. Das kam ihr schlecht von der Tante vor, und sie ward ganz erbittert darüber. Überhaupt, niemand kümmerte sich um sie, niemand war gut zu ihr. Jetzt wußte sie es. Niemand war gut zu ihr. Daran lag es. Er war aufgestanden und war einfach weggegangen. Sie saß allein in der Loge, konnte nichts sehen und nichts denken, nur der schmerzhafte Wunsch lag in ihr wie eine Wunde, er möchte wieder hereinkommen, neben ihr sitzen und mit ihr sprechen. Furchtbar langsam vergingen ihr die Minuten. Sie horchte nach rückwärts zum Tisch hin und hörte alle durcheinandersprechen, Leopolds weiche Stimme, das Zwitschern von Tante Rosi, das Keuchen des Prinzen Eugen, und Mali kreischte laut, nur ihn hörte sie nicht, und eine große Ungeduld befiel sie, daß sie aufspringen und hinlaufen wollte, aber eine ungewisse Absicht, sich zu peinigen, hielt sie fest.
Sie wollte weinen und getraute sich nicht. Aber sie stellte sich vor, wie alle herbeikommen würden, angstvoll und erschrocken, bei ihren Tränen, und würden fragen und in sie dringen und sie streicheln und trösten, und sie wurde sehr gerührt bei diesen Gedanken. Ihre Sehnsucht aber stieg.
Plötzlich stand die Tante hinter ihr: »Komm, Veronika, es ist spät.« Sie empfand einen solchen Gram bei diesen Worten, daß sie nichts sagen konnte. Gehen? An diese Möglichkeit hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie stand auf und blickte zu Ferdinand hinüber. Er lehnte wieder an der Wand, sah zerstreut umher, und sie fühlte sich von Abschiedsweh zerrissen.
Leopold kam herbei und Mali. Sie hatte rote erhitzte Wangen, stürzte auf Veronika zu und drückte sie an sich: »Ka Spur, mein Kind, was? Ka Spur? was? Jetzt schon z'Haus gehn?« Veronika klammerte sich hilfesuchend an sie, und Leopold sagte ärgerlich: »Geh, mach' keine G'schichten, Roserl! Nur a Stund' noch. Was ist denn dabei ...?«
Draußen war Eugen sitzen geblieben und winkte stürmisch mit der Hand: »Net fad sein! Net fad sein!«
Leopold berührte Veronika an der Schulter, ganz leise und behutsam: »Nicht wahr, Fräul'n, Sie sind nicht schläfrig?« Mit nassen Augen sah sie zu ihm auf, jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. In ihren Mienen lag eine solche Angst und ein solches Bitten, daß Leopold ganz betroffen davon wurde: »Aber nein, mein Kinderl, wir gehn noch nicht schlafen«, sagte er beschwichtigend, und zu Rosi gewendet: »Alsdann, es is gar nix dabei – sei nicht so dumm.« Hierauf nahm er Veronika an der Hand und trat mit ihr aus der Loge. Eugen raffte sich keuchend, stöhnend und mit den Armen rudernd aus seinem Sessel. Er schien begeistert und hatte Lust, Veronika an der anderen Hand zu nehmen. Mali drängte sich herzu: »Komm,« sagte sie, »wir bleiben«, und er hielt die Arme ausgebreitet, ließ sich in die Brust schlagen und keuchte vor Vergnügen.
Veronika bemerkte, wie Ferdinand dazu lächelte. Sie sah seine milden, gelassenen Mienen, seinen dunkeln, beschatteten Blick, und ihr war, als habe er unendliche Nachsicht mit allen Menschen und als verzeihe er auch ihr. Sie wußte nicht genau, was er ihr zu verzeihen hatte, aber sie fühlte sich beglückt.
Sie schritten alle den Gang hinunter, und es machte Veronika stolz, daß sich die Leute nach ihr umsahen und sie neugierig betrachteten. Rosi ging neben ihr, faßte sie um die Mitte und fragte: »Bist du wirklich nicht schläfrig?« Und da sie lachend den Kopf schüttelte, meinte Rosi: »Na, wennst' dich nur gut unterhältst ...« Der Kellner stieß eine Tür auf, und ein nettes, kleines Zimmer zeigte sich. Eugen schrie: »Ja beim Souper – im Schahmber separäh!« Dann setzte er entrüstet hinzu: »Zuerst die Damen! Die Damen haben den Vortritt!« Und er sah alle mit aufgerissenen Augen wichtig an.
Veronika war schon in das Zimmer getreten, hatte in den Spiegel geschaut, das Klavier bemerkt, die roten Samtfauteuils um den weißgedeckten Tisch und das schmale Sofa bewundert. Da hörte sie, wie Mali mit ihrer breiten Stimme sagte: »Ja, was ist denn, Ferdinand? Sie werd'n doch nicht z'Haus gehn wollen?« Mit einem Sprung war sie wieder an der Tür. Leopold hatte Ferdinand beim Arm gefaßt und redete ihm zu. Eugen stand dabei und schaute die beiden von unten herauf mit vorquellenden Augen an.
Ferdinand lächelte mild alle im Kreise an und schüttelte den Kopf: »Laßt's mich gehn, meine Herrschaften, es ist ja schon spät.« Mali fuhr zankend auf ihn los. Er hob abwehrend die weiße Hand und blickte sie ernst an. Veronika zitterte, aber Tante Rosi sagte gutmütig: »Geh, bleib da, Ferdinand, wir wollen singen, bleib bei uns.« Eugen schrie: »Ja, singen! Der Prinz Eugen wird den Prinz Eugen singen. Was, da bleibst?« Ferdinand sah ihn von der Seite an, aber Leopold wandte sich ab und brummte unwillig: »Alsdann, wenn du gehst, gehn mir halt auch, hol's der Teufel!« Und er setzte seinen Hut auf. Ferdinand hielt ihn fest: »Na, stören will ich euch nicht ... aber nur eine Stunde!« Er trat ins Zimmer, während alle Bravo riefen. Veronika drückte sich an die Tür und ließ ihn herein.
Man setzte sich und zwei Kellner füllten die Gläser. Rosi sagte zu Veronika: »Du! nicht viel trinken! Das is Champagner!« Veronika nippte nur. Ihr schien es, als ob sich dieser Wein wie etwas Lebendiges im Munde bewege, und es schmeckte ihr nicht. Sie setzte das Glas ab und betrachtete Ferdinand. Er saß grade und ruhig ihr gegenüber, rauchte eine dünne Zigarette, die als ein heller Streif auf seinem schwarzen Bart hing, und sah lächelnd umher. Auch ihr lächelte er zu, aber sie hielt den Blick nicht aus. Mali knöpfte ihren Kragen auf und ließ den weißen Hals und das Doppelkinn sehen: »Ah!« rief sie, »heiß ist mir! Einschenken!« und sie schlug mit dem Glas auf den Tisch. Eugen kam herbei, holte ein kleines Eisstück aus dem Kübel und wollte es ihr in den Nacken stecken. Sie kreischte laut, sprang auf, drängte Eugen an die Wand und stieß ihn mit der Faust in die Brust. Rosi beschwichtigte sie: »Aber still sein, jetz'n! Hört's lieber zu.«
Leopold nahm eine ernste Miene an und begann herrlich zu pfeifen. Alle lauschten. Er trillerte und flötete wie eine Amsel. Veronika hörte diesen zarten Vogelgesang und schaute zufrieden auf Ferdinand. Nach einer Weile jedoch fuhr Eugen dazwischen und fing zu brüllen an: »Prinz Eugen, der edle Ritter, wollt' dem Kaiser wiedrum kriegen Stadt und Festung Belgerad ...« Er schnappte nach Luft, und sein keuchender Atem riß das Lied in Fetzen. »Hörst denn nicht auf«, sagte Mali, die sich Luft zufächelte: »Tu lieber krähn.« Eugen stellte sich auf die Fußspitzen, drückte das eine Auge zu, so daß das andere nur noch mehr hervorzustehen schien, und schrie laut: »Kikeriki!« Dabei schlug er mit den Armen wie mit Flügeln und wiegte den Kopf. Man lachte, und Veronika sah wiederum das blitzelnde Lächeln Ferdinands.
Leopold war ans Klavier getreten und spielte jetzt einen Walzer. Tante Rosi hob die Kleider und drehte sich lustig umher. »Komm, Ferdinand,« rief sie, »tanzen wir!«
Er blieb zur Freude Veronikas sitzen und sagte nur: »Es geht ja nicht, da herin.«
»Die Donauwellen,« rief die Tante, immer tanzend, Leopold zu, »bitt' dich, die Donauwellen!« Und er begann die Donauwellen. Nun flog Rosi mit wehenden Röcken ganz erhitzt um den Tisch herum und sang mit frischer Stimme den Walzer mit. Dann blieb sie, schnell atmend, vor Veronika stehen, riß sie vom Sessel auf und fragte: »Kannst du tanzen?« Zuerst war Veronika bestürzt und meinte, Ferdinand müsse sie auslachen, aber kaum sie im Arm der Tante hing, gab sie sich dem Rhythmus hin.
Rosi hielt die leichte Gestalt an sich gepreßt und drehte sich wiegend mit ihr durch das Zimmer. Veronika war wie berauscht. Plötzlich brach das Spiel ab, Tante Rosi fiel mit einem schreienden Seufzer in einen Sessel und ließ Veronika stehen. Alles drehte sich noch mit ihr. Sie schwankte, Ferdinand streckte den Arm aus und stützte sie. Ohne ihn zu sehen, erkannte sie ihn und hielt sich bebend an seine Brust geschmiegt, bis er sie sanft von sich abdrängte. Da ging sie auf ihren Platz zurück, wagte nicht aufzuschauen und setzte sich bekümmert.
Unterdessen war Mali wieder mit Eugen in einen Streit geraten. Er wollte sie durchaus zu trinken zwingen, und wie sie sich sträubte, hatte er ihr den Wein über das Kleid gegossen. Sie schrie auf, und während Eugen noch lachte, faßte sie ein volles Glas und schüttete es ihm mitten in das Gesicht, daß er blasend, stöhnend und spuckend nach rückwärts fiel. Sein Atem klang wie ein Röcheln. Bald aber richtete er sich wieder empor und begann zu singen: »So san mir Landsleut ...« Alle fielen ein. Dieses Lied kannte Veronika, und fröhlich sang sie mit. Man hörte ihre Stimme hell aus den anderen heraus. Mali lächelte ihr zu, und Rosi fuhr ihr, singend, über die Wangen. Leopold unterbrach das Lied: »Die Veronika hat die schönste Stimm',« sagte er, »wie ein Glöckerl. Sie sollt' doch was singen.«
»Wirklich«, stimmte Ferdinand bei. »Man hat sie ja am meisten gehört.« Er sagte es zu Leopold, und Veronika begann sogleich mit großem Eifer. Sie sang das Kirchenlied, das sie zuletzt daheim, am Vorabend ihrer Abreise, mit den Kindern gesungen hatte. Es war ganz still geworden, und ihre Stimme klang hell und weich durch das Zimmer. Tante Rosi war gerührt: »Das kenn' ich auch,« rief sie leise, »das kenn' ich auch«, und sie fiel mit ihrem frischen Sopran ein. Beide sangen das Lied zu Ende. Dann klatschten die Männer Beifall. Ferdinand hatte damit angefangen. Veronika wollte das Lied sogleich von vorne beginnen, aber Mali sagte: »Das ist, wie man's bei die Wallfahrten hört.«
Rosi entgegnete: »Lächerlich! Von der Maiandacht ist's.«
»Bitte,« rief Mali gekränkt, »Sie werden mir was erzählen, wo ich alle Jahr' nach Mariazell geh.« Und geringschätzig setzte sie hinzu: »Ich kenn' sowieso das Lied, sehr gut sogar kenn' ich's.«
Am Klavier schlug jetzt Leopold ein paar Akkorde an und ging in eine Weise über, an die Veronika sich dunkel erinnerte. Wo war das nur?
Alle stimmten begeistert ein:
»Und doch warst du mein Glück, mein ganzes Leben ...«
Gestern hatte es die Tante gesungen vor dem Schlafengehen.
Leopold drehte sich, weiterspielend, zum Tisch her: »Geh, Ferdinand, magst net?« Und Rosi und Mali baten: »Ja, ja, der Ferdinand soll's allein singen.«
Ferdinand machte ein ernstes Gesicht, legte den Kopf zurück, daß der schwarze Bart weitab in die Luft stand, und hob mit einer gelinden, leise zitternden Stimme an:
»Weißt, Liebchen, du ...«
Regungslos lauschte Veronika. Der warme, bebende Gesang überrieselte sie, drang durch ihre Kleider über Nacken, Rücken und Brust, zärtlich, wie leise Berührungen. Jetzt nahm Ferdinand einen Aufschwung mit der Stimme und kam zum Refrain: »Und doch warst du mein Glück, mein ganzes Leben ...« Die Wiederholung sangen alle mit. Veronika vermochte es nicht. Sie kämpfte mit den Tränen.
Auf dem Sofa balgten sich Eugen und Mali. Er schrie: »Dir ist heiß! Dir ist schrecklich heiß!« und versuchte, ihr die Bluse zu öffnen. Sie lachte und kreischte, wehrte sich, fiel zurück und schlug mit den Beinen herum. Ihr Fuß lag plötzlich auf dem Tisch. Veronika blickte auf den schwarzen Strumpf und auf den ausgeschnittenen Lackschuh. Er lag da, und rührte sich, als wolle er sich hier oben einmal umschauen. Niemand achtete darauf.
Leopold hatte Tante Rosi in eine Ecke gedrückt, stand vor ihr und redete auf sie ein. Sie schrie jeden Moment laut, als ob sie gezwickt würde. Dann trat sie an den Tisch, mit aufgelöstem Haar, roten Wangen und glänzenden Augen. Sie gab Ferdinand einen Klaps in den Rücken: »Einschenken!«, nahm das volle Glas und stürzte es in einem Zug hinunter. Leopold zog sie zum Klavier hin, setzte sich und nahm sie auf den Schoß. Sie schrie und lachte durcheinander, er küßte sie langsam, und sie sträubte sich. Dann aber warf sie ihren Arm um seinen Hals und preßte sich an ihn. Beide saßen jetzt still, in Küssen versunken. Auf dem Sofa wälzten sich Eugen und Mali, wortlos, mit kurzem Stöhnen. Ferdinand sagte zu Veronika: »Nur wir zwei sind allein, was?«
Sie sah nur ihn, blieb von allem, was hier geschah, unberührt, und lächelte: »Wir zwei!«
Er sah sie erstaunt an. Dieses unbefangene, freie Mädchenantlitz verwirrte ihn. Dann stand er auf und ging um den Tisch herum, kam zu ihr und beugte sich herab: »Was wollen wir da machen?«, flüsterte er leise, ganz nahe an ihrem Ohr.
Wiederum gab sie ihm munter die Frage zurück: »Ja, was wollen wir machen?«
›Wie ist denn das mit ihr?‹ fragte er sich, richtete sich auf und begann langsam im Zimmer hin und her zu gehen. Der Rauch lag in schweren blauen Dämpfen in der Luft. Veronika saß aufrecht da, schimmernd in ihrem weißen Kleid, mit strahlenden Augen, die sie vor seinen raschen Blicken nicht niederschlug. Er trat nochmals zu ihr, näherte sein Gesicht dem ihrigen. Sie fühlte, daß er schwer atme; er war verlegen und erregt, starrte sie eine Weile ratlos an: ›Warum schaut sie so?‹, dachte er benommen. Wie eine Frau schaut sie. Er nahm unerwartet ihre Hand und sagte knabenhaft: »Lieb sind Sie!« Sie lächelte und entgegnete herzlich: »Sie auch!« Er ging rasch von ihr fort, an die andere Seite des Tisches, und trank ein Glas Wein. Dann lief er wieder im Zimmer auf und ab.
Veronika betrachtete ihn nicht mehr, sondern schaute vor sich hin; sie fühlte sich unendlich erhoben und reich.
Mali raffte sich vom Sofa empor, blaurot im Gesicht und taumelnd: »Gib mir den Hut«, zischte sie Eugen zu. Ferdinand sprang hin und setzte ihr den Hut auf. Sie befestigte ihn unsicher mit der Nadel. Er hing schief. Eugen hielt sich stöhnend an die Tischkante: »Leopold!« rief er, »wir gehn, ... hörst?« Dann stieß er sich ab und wankte keuchend hinaus.
Rosi glitt von Leopolds Schoß herunter. Sie konnte nicht stehen. Leopold fing sie wieder auf, und sie stützten sich gegenseitig.
Alle gingen nacheinander hinaus, zur Treppe.
Rosi hielt dabei ihren Hut in der schlaff niederhängenden Hand. Ihr Kopf fiel bei jedem Schritt nach rückwärts. Sie sang: »Und doch warst du ...«, aber stimmlos, leise kreischend. Leopold brummte, und zerrte sie mit sich, und hielt sich schwankend am Geländer.
Erschrocken ging Veronika hinterher. Aber Ferdinand beruhigte sie mit seinem schimmernden Lächeln. Als sie das Tor erreichten, fuhr Mali mit Eugen davon. Eugen schwang müde seinen Strohhut und röchelte einen Gruß. Eben half auch Leopold der Tante in den Wagen, sie fiel beinahe in die Kissen. Dann stieg er zu ihr. Veronika sah es von der Treppe aus und begann zu rufen. »Tante Rosi!« schrie sie, daß es im Vestibül hallte. Aber Ferdinand riß sie plötzlich zurück: »Sei doch ruhig! Um Gotteswillen!«, bat er.
Veronika war sofort still.
Der Wagen war fort, als sie auf die Straße traten. Eben bog er um die Ecke und verschwand.
»Führen Sie mich nach Haus?«, fragte Veronika flüsternd und suchte sein Gesicht in der Dunkelheit.
»Nein,« sagte Ferdinand, »du bleibst bei mir.« Und da sie erstaunt zu ihm aufblickte, beugte er sich nieder und küßte sie sanft auf den Mund, daß sie seinen Bart wie ein weiches Seidentuch fühlte.
Als sie in einem Wagen saßen, fröstelte Veronika. »Mir ist kalt«, murmelte sie und schmiegte sich enger an ihn. Er legte den Arm um ihren Leib, den sie allen Berührungen hingab, und dachte dabei: ›Spürt sie nichts? Oder weiß sie nicht, was das bedeutet? Wieso hab' ich sie überhaupt bei mir?‹ Er legte den Mund an ihr Ohr: »Du gehörst mir! Ja?«
Veronika rührte sich nicht. Sie lachte nur leise, weil ihr das ein glücklicher Gedanke schien.
»Ja – ich gehöre Ihnen.«
Er wußte nichts zu sagen.
Dann blieb der Wagen stehen. Veronika stieg aus, sah das Haustor an und sagte zweifelnd: »Aber da wohn' ich ja gar nicht?«
Er schloß auf und erwiderte schroff: »Aber ich!«
Sie zögerte: »Und die Tante ...«
Da ergriff er sie bei der Hand und sagte heftig: »Komm jetzt, der Kutscher schaut schon.«
Als sie mit lächelnden Augen in den Kissen lag, die goldenen Haare wie einen Schimmer um Haupt und Nacken, stand er vor ihr und tat in seiner wägenden Erfahrung, in seiner Angst und in seiner Begierde viele Fragen bei sich, während er auf sie niederschaute. ›Was ist sie? Wieso liegt sie hier in meinem Bett, ohne sich zu wehren, ohne sich bitten zu lassen, und ist doch beinahe noch ein Kind ... und heute erst gefirmt worden ... so erzählen sie ... ist sie wirklich unschuldig, ist das überhaupt alles wahr? Freilich, eine Patin wie die Roserl ... die Roserl!‹ Und dann streichelte er sie mit den Blicken und dachte: ›Wie eine Blume ist sie, so duftend und so frisch.‹ Und bückte sich, sie langsam, ganz langsam zu genießen, und küßte sie leise und oft.
Sie aber legte die Arme um ihn, frei, zufrieden und in heiterer Zärtlichkeit. Dann aber erbebte sie, wie sie an seiner warmen Brust sich plötzlich entzündete, und ein rascher Schrei flog zur Decke empor.
Später war sie befreit und lauschte besinnungslos und ergriffen dem verklopfenden Herzschlag, der aus der Brust, an der sie ruhte, unverstandene Dinge zu ihr redete. Fühlte sich allein gelassen, dämmerte in berauschtem Erstaunen dahin und versank in die unermeßliche Tiefe eines traumlosen Schlafes.
Der erste Sonnenstrahl, der in das Zimmer fiel, weckte Veronika wie ein leiser Ruf. Sie sah Ferdinand mit tief in die Kissen gewühltem Antlitz schlafen, aber es litt sie nicht länger. In ihr war eine geschäftige Eile, die sie nicht still bleiben ließ. Als solle das Leben jetzt sogleich erst wirklich beginnen, und als habe sie keine Minute zu verlieren, stahl sie sich fort. Immer lächelnd, machte sie sich im Zimmer zu schaffen, ordnete Ferdinands hingestreute Kleider und zog sich selbst an.
Dann setzte sie sich angekleidet auf den Bettrand und schaute mit liebevollen Augen still auf den Schläfer. Sie rührte sich nicht. Aber er erwachte endlich vor ihren Blicken, und als er sie vor sich sitzen sah, im weißen Firmungskleid, das Kränzchen auf dem Kopf, fuhr er verblüfft empor und staunte sie mit schlaftrunkenen, wirren Blicken an.
Sie lachte zu diesen fragenden, unbehaglichen Mienen, glaubte ihn zu beruhigen und sagte innig: »Nein ... ich geh' nicht fort, ich bleib' bei dir immer und ewig.«
Jetzt erst ward er vollends munter: »Was sagst du da?«
Sie wiederholte: »Immer bleib' ich jetzt bei dir«, und hatte ein glückliches Gesicht.
In ihm begann sich wütend ein großes Bedauern zu rühren, aber entnüchtert und schlaff, wie ihm zumute war, wußte er nicht, was er tun sollte.
Veronika sah ihn mit leuchtend frischen Augen an, und das machte ihn noch mehr verlegen. Was wird geschehen? Unannehmlichkeiten und Scherereien, und er bekam Angst. Sein Mißtrauen erwachte wieder, und während er blinzelnd zu Veronika hinüberschaute, sagte er für sich: ›Dumm! Dumm ist man zuweilen.‹
Sie aber saß ratlos vor ihm, schaute ihn nur immer an mit einer Zärtlichkeit, die er nicht ertragen konnte, weil sie ihm von gestern schien, und gestern eben vorüber war.
›Es war ja sehr hübsch,‹ sagte er unter diesen Blicken für sich, ›aber jetzt könnte sie doch wissen ... und überhaupt‹ ... »Geh hinaus!« sagte er plötzlich zu Veronika ziemlich barsch, und weil er ihr verwundertes Gesicht sah, wiederholte er sanfter: »Geh ... ich möchte mich anziehen«, aber er wandte sich ab, während er sprach, so befangen war er.
Sie erhob sich gehorsam und ging mit ihren Kinderschritten ohne Eile zur Tür. Von dorther wandte sie sich noch einmal zurück. Er nickte ihr ungeduldig zu, und sie verschwand. Im Vorzimmer blieb sie stehen. Hier war es noch ganz dunkel, und sie hielt sich am Türrahmen und wartete, bis er sie wieder rufe.
Ferdinand war kaum allein, als er aus dem Bett sprang und sich am Waschtisch mit kaltem Wasser übergoß. Während er sich abrieb und bürstete, überlegte er: Ach was, das wird nur so eine Rederei von ihr sein: bei mir bleiben; überhaupt, er würde sich gar nicht weiter einlassen. Rosi hatte das fein gemacht. Das war ein Geschäft, weiter nichts. Aber wenn man jetzt Dummheiten mit ihm probiert, dann wird man eben an den Unrechten kommen. »Ein Schwindel ist's, diese ganze Geschichte mit der Firmung«, sagte er, im Zimmer umhergehend, und auf einmal wurde es hell in ihm. ›Natürlich, so war es! – Halt!‹ und er sprang plötzlich zum Nachttisch. Ein rascher Verdacht war in ihm entstanden. Nein, die Uhr lag da, die Kette. Er öffnete die Brieftasche, zählte sein Geld, nichts fehlte.
Also schön! Und jetzt überlegte er. Was soll ich ihr geben? Er nahm, was ihm nötig schien, steckte es beiseite, ... so ... und dann, sie mit einem Wagen heimschicken, aber gleich, noch bevor es spät wird und die Leute im Hause erwachen. So! Noch hatte er seine Weste nicht zugeknöpft, als er sie hereinrief, mit dem Wunsch, alles nur bald los zu sein.
»Mein Kind«, sagte er gleichgültig, »du wirst nach Haus wollen.«
»Nach Haus? ...«
»Nun ja, zur Tante also –«
Sie sah ihn ganz erschrocken an: »O nein! Nein, ich will ganz gewiß nicht.«
»Ja, aber ...«
»Ich bleib' bei dir.« Sie warf sich ihm an den Hals und sah zu ihm auf. Alles, was sie sprach, klang so selbstverständlich, so überzeugt und so einfach. »Ich bleib' bei dir.«
»Aber das geht ja nicht.« In seiner ratlosen Verwirrung war ihm dieses Wort entfahren. Sie trat blitzschnell zurück und schaute ihn mit solcher Verzweiflung an, daß er sie rasch an sich zog und in seiner Not anfing, auf sie einzureden: »Ich meine ja nur ... weißt du ... du mußt doch erst zur Tante, ... nein, sei nur ruhig ... aber ... du mußt doch deine Sachen holen.«
Ja richtig! Sie überrannte ihn beinahe, wie sie jetzt eilte. »Augenblicklich hol' ich mir alles!« Dann lachte sie, klatschte einmal in die Hände und lief zur Tür. »Komm! komm mit!« Er griff zum Hut. ›Was bleibt da übrig ... ich schick' sie jetzt nach Haus und geh dann später hin, um mit Rosi ein ernstes Wort zu sprechen.‹
»Ich führe dich zu einem Wagen«, sagte er. »Du holst dir alles, und der Tante sagst du, ich lass' sie grüßen.«
Sie fügte sich willig und schritt neben ihm die Treppe hinab. Als sie im Wagen saß, wollte sie großen Abschied nehmen. Er winkte ihr lächelnd, bedeutungsvoll; gab dem Kutscher die Adresse und trat aufatmend zurück.
Während sie die enge finstere Treppe hinaufstieg, dachte sie: ›Bei ihm ist's viel schöner!‹ Und wie sie dann vor der kleinen Türe stand, mit dem Gefühl eines Boten, der an Ahnungslose wunderbare Nachricht bringen soll, und an der Schwelle einmal noch zögert, sich einen Augenblick zu weiden an der Unwissenheit derer, die hinter dieser Türe sind und nicht harren, da strich Veronika in Glücksgefühlen mit den Händen an ihrem Leib herunter, atmete tief und breitete die Arme aus.
Dann drückte sie geschwind auf die Glocke, und als die alte Kathi öffnete, fuhr sie rasch und lachend in das dunkle Vorzimmer.
Kathi aber hielt sie an: »Jetzt kommen S' ...? na warten S'«, sagte sie drohend. »Na, sowas, sowas, das war noch nicht da!« Und als Veronika an ihr vorbei zu Rosis Zimmer wollte, vertrat sie ihr den Weg: »Bleiben S' da, verstehn S', Sie Nichtsnutzige! Sie!« Dann ging sie selbst schlurfend und brummend zur Tür. – Veronika stand betroffen und wußte nicht, was das bedeuten solle. Rasch dachte sie: ›Wenn ich erst alles erzählt habe, werden sie sich freuen.‹
Kathi klopfte laut an die Tür: »Machen S' auf, Fräul'n Rosi, die Kleine ist da.«
Drin tönte ein Gepolter, und Kathi wandte sich heftig an Veronika: »Freuen S' Ihnen! Sowas!«
Im nächsten Moment ward die Tür aufgerissen. In einem roten Hemd, Arme und Schultern frei, mit gelösten Haaren, bebend vor Zorn, stand Tante Rosi in der Tür.
»Wo warst?«
Veronika war so erstaunt, daß sie erst nicht sprechen konnte. Diese leise gezischte Frage betrübte sie und brachte sie aus der Fassung.
»Wo warst?«
Veronika dachte: ›Sie ist bös, weil sie glaubt, ich bin herumgelaufen und hab' nicht nach Haus gefunden.‹
»Beim Ferdinand war ich, Tante, er laßt dich grüßen.«
Rosi stieß einen Schrei aus und warf sich auf Veronika: »Beim Ferdinand? So!« Und sie schlug sie mit weitausholender Hand ins Gesicht.
»Da hast du für'n Ferdinand – und da hast du fürs Grüßenlassen!« Noch einmal klatschte die flache Hand in Veronikas Gesicht.
Die alte Kathi schrie auf: »Jessas, Fräul'n Rosi, sein S' g'scheit, um Gotteswillen!«
»Ich derschlag' sie, ich derwürg' sie!« heulte Rosi.
Veronika taumelte unter den Schlägen. Alles tanzte vor ihren Augen. Sie hatte schluchzend die Hände erhoben und fühlte, wie sie jetzt mit geballten Fäusten geschlagen wurde. Sie zitterte vor Traurigkeit. Überall wurden Türen aufgerissen, und im Nu war das Vorzimmer voll Frauen, die im Hemd herbeiliefen und Veronika ansahen.
Eine große Gestalt schob sich zwischen Rosi und Veronika und schleuderte die Tante mit einem Stoß gegen die Tür.
Veronika stand befreit in dem Kreis. Es war die große, dicke Dame, die am ersten Abend beim Haustor gewesen und ihr Haar gelobt hatte. Jetzt stand sie da, riesenhaft in einem langen weißen Hemd, ruhig und breit, und blickte ernst auf Veronika herab.
Hinter ihrem Rücken zeterte die Tante: »Pfui Teufel! Ich werd' ihr zeigen, mit an' Mannsbild in die Wohnung gehn!«
Eine spöttische Stimme sagte: »Ein schöner Firmling!«
Veronika erbebte vor diesem Spott und sah auf. Alle lachten, aber bei der Tante brach die Wut nur noch stärker los. »Ich werd' dir geben! So ein Vieh!« Und sie versuchte wieder auf Veronika einzudringen. Aber die Dicke hielt sie mit einem einzigen Griff zurück. »Auslassen! Auslassen, sag' ich dir!« kreischte Rosi, »ich muß ihr noch eine geben! Weil sie gesagt hat: der Ferdinand laßt mich grüßen!«
Ein riesiges Gelächter erhob sich.
Rosi zappelte unter den Händen der Dicken.
Die anderen begannen jetzt zu sprechen: »Wie ich so jung war, hab' ich noch nicht einmal g'wußt, was ein Mann ist«, und eine Kleine in einem schwarzen Hemd schrie laut: »A Gemeinheit is das! Aber da sieht man's, wie schlecht sie am Land sind!« Andere stimmten bei: »Aja, die glauben, sie versäumen etwas!«
Aus der Tiefe des Vorzimmers kam Gusti gestürzt: »Wo ist sie, das Luder, das elende!« rief sie von weitem und überschrie sich. »Der hab' ich mein Kranzl 'geben! Her mit mein' Kranzl auf der Stell'!«
Eine allgemeine Entrüstung brach los: »Da schaut's her! Ganz keck tragt sie das Kranzl!« Und ehe noch Gusti zur Stelle war, streckten sich viele Hände nach Veronika aus. Zornig stürmten sie von allen Seiten auf sie ein, rissen ihr im Nu den Kranz aus den Haaren, zerrten und zausten sie und zeterten durcheinander.
Veronika war blaß geworden, rang nach Atem und versuchte zu fliehen. Die Tante aber, aufgestachelt von dem Tumult, und in ihrer Wut von der allgemeinen Zustimmung bestärkt, wollte sie aufs neue erreichen. Sie weinte laut vor Zorn. »Umbringen tu' ich sie!« Die Dicke versuchte Rosi wieder zu halten, haschte nach ihr, aber wie rasend schlug die um sich, zappelte, und jetzt ging mit einem Riß das Hemd entzwei, daß Rosi nackend entsprang. Veronika duckte sich und empfing zuckend den Streich.
Da sagte die Dicke mit ihrer tiefen, gleichgültigen Stimme: »Vielleicht hat er ihr was ein'geben.«
Rosi ließ ab und warf die Arme empor: »Der Schuft! Der miserable! Ich geh' zur Polizei! Zur Polizei geh' ich!« Und weinend fuhr sie fort: »Das hat man davon, wenn man ein gutes Herz hat! Da hab' ich mich ang'nommen um das G'schwisterkind, a goldene Uhr hab' ich ihr 'kauft und 's Kleid machen lassen, und gleich am ersten Tag ... Aber nein! Was sag' ich denn! Die war schon früher schlecht, schon am Land draußen, und ich – na! Wenn ich denk', wie ich dumm war, ich bin gestern eigens solid g'wesen ... Sie wissen's ja, Kathi, was? Wie der Alte kommen is, am Abend, was?«
Kathi stimmte ernsthaft bei: »Durchaus hat er zu der Roserl wollen«, und die Kleine bestätigte: »Der, was dann zu mir 'gangen is?«
»Ja,« sagte Rosi boshaft, »derselbige, der geht ja sonst nie zu dir!«
Veronika blickte umher. Von welchen Dingen sprach man jetzt? Sie sah die Tante nackend dastehen und ihrer Nacktheit nicht achten, sie sah diese verschlafenen Weiber hier, gewahrte auf einmal, als sähe sie jetzt erst ihre Gesichter, die Müdigkeit ihrer Züge, die Frechheit ihrer Augen, sah, wie sie hier in aufgeputzten Hemden standen und ihre Blößen hervorkehrten, spürte, wie sie alle denselben lauen Geruch ausströmten, hörte, wie sie sich Männernamen gegenseitig zuwarfen, in Worten, die sie nicht begriff, und plötzlich war ihr, als stünde sie selber nackt vor den Augen Ferdinands. Und als müsse sie sich vor ihm bedecken, schlug sie die Hände vors Gesicht. Und sie erinnerte sich an das, was hinter ihr lag, sie fühlte, daß alle hier darum wußten und daß es hier so viel anderes bedeute. Furchtbar begann sie sich jetzt zu schämen, und nun erst fing sie an laut aufzuweinen, fassungslos, schreiend, keuchend, mit vor die Brust gepreßten Händen. »Marsch hinein!« sagte Rosi, »drinnen werden wir weiter reden.« Und sie stieß sie in ihre Türe.
Veronika zuckte jetzt unter jeder Berührung Rosis zusammen, als ob sie von etwas Ekelhaftem angegriffen würde.
Schluchzend floh sie in das Zimmer und fiel erschöpft auf das große Sofa. Dort verbarg sie ihr Antlitz.
Rosi schloß hinter ihr zu und verhandelte weiter mit den anderen.
»Vielleicht hat er ihr was ein'geben ...!«
Draußen redeten sie laut und durcheinander, mit kreischenden Stimmen. Veronika hörte nicht hin und wollte nicht hören. Aber sie vernahm, wie Rosi oft und laut »Polizei!« schrie, und ihr war dabei, als müsse sie vor diesem Wort auf und davon gehen. Was war mit ihr geschehen, daß man nach der Polizei rufen wollte? War sie so schlecht? So furchtbar schlecht? Und wird man jetzt Männer holen, die ihr die Hände binden und sie ins Gefängnis führen? Und warum sollte ihr das geschehen? Sie grübelte darüber, verfiel in Angst und fühlte, daß sie in häßliche Dinge verwickelt sei. Dann aber, auf einmal kam ihr die Erinnerung: Ferdinand wartet! Sie richtete sich geschwind auf und trocknete ihre Tränen.
Ja, er wartet, und sie hat versprochen, daß sie zu ihm zurückkommt, daß sie bei ihm bleiben wird – immer und ewig! Und sie wird ihre Sachen zusammennehmen und ihr Bündel schnüren und von hier fortgehen, zu ihm.
Ihre Gedanken verwirrten sich, und plötzlich war ihr der Zusammenhang gerissen. Alles das war ihr ja bisher eins gewesen, die Firmung, ihre drängende Sehnsucht, der Tag und das ganze Leben, das ihn erfüllte, dann der Abend, der Abend gestern, da die Tante mit dem Herrn Leopold weggefahren war und sie bei Ferdinand gelassen hatte. Vor einer Stunde noch, da hatte er ihr gesagt: »Ich lass' die Tante grüßen.« Das alles, wie es gekommen, war ihr wie ein Gesetz gewesen. Alle Menschen waren ihr einig erschienen in ihrem Tun. Und jetzt wollte sie von hier fort, geschimpft, geschlagen, müdgeweint, und wollte zu ihm, und er war etwas anderes, und die Tante war etwas anderes. Dann bekam sie Furcht. Wenn sie ihn warten läßt, wird auch er böse werden, und wenn sie dann zu spät zu ihm kommt ... Sie erhob sich, schritt entschlossen zur Tür und öffnete.
Rosi stand noch im Kreis mit den anderen. Sie hatte einen Mantel umgeworfen und erzählte eifrig. Alle blickten Veronika an. Das Gespräch stockte.
Rosi fragte barsch: »Was willst?« und Veronika erwiderte: »Fort will ich.«
Die Entrüstung war groß. »Untersteh dich! Nur einen Schritt, und ich lass' die Polizei holen!« rief die Tante. Veronika wurde in das Zimmer zurückgestoßen. Sie ging still zum Sofa hin und setzte sich nieder. Jetzt dachte sie nur noch daran, daß Ferdinand glauben werde, sie wolle nicht zu ihm kommen und sie habe das von ›immer und ewig‹ nur so gesagt, und das schmerzte sie sehr. Sie malte sich aus, wie er warte, wie er ungeduldig sein werde, und schließlich selber herbeieilen, sie zu holen, zu sehen, wo sie denn bleibe. An diesen Gedanken klammerte sie sich und holte neue Freudigkeit daraus. Sie stellte sich vor, wie die Tante vor Ferdinand Angst haben werde, wie sie dann hereinkommt und bittet: ›Sag' ihm nichts, Veronika, daß ich dich geschlagen habe, ich bitte dich, sag' ihm nichts und verzeih mir, es ist nur in meinem Zorn gewesen, und sag' dem lieben Ferdinand nichts davon.‹ Und doch, sie wollte ihm alles sagen, nur das eine, daß Rosi ohne Hemd dagestanden, das wollte sie verschweigen. Bei dem Gedanken daran verbarg sie plötzlich ihr Gesicht in den Händen, und es tat ihr sehr weh, wie sie sich schämte.
Und dann saß sie und wartete. Es wurde still draußen. Die Stimme der Tante klang nur noch von weitem; sie mußte in ein anderes Zimmer gegangen sein. Nach einer Weile war es ganz ruhig.
Dann kam Rosi herein, ging, ohne Veronika anzublicken, zum Schrank, holte einen Schlafrock daraus hervor und warf ihn über. Hierauf ordnete sie mit böser Miene ihr Haar vor dem Spiegel und warf die Tür, als sie wieder hinausging, laut schallend hinter sich ins Schloß.
Eine Stunde verging. Veronika saß da und wartete, und ihre Ungeduld stieg. Sie horchte auf jeden Laut, der sich regte, auf jeden Schritt, den sie draußen vernahm.
Dann stand sie auf, weil es sie nicht länger duldete, holte ihre Kleider und schnürte ihr Bündel, und als sie fertig war und alles auf den Tisch gelegt hatte, saß sie davor und horchte andächtig, voll Zuversicht.
Und es läutete. Sie hörte flüstern, erkannte seine Stimme, sprang auf und stand zitternd da, aber mit leuchtenden Augen.
Nach einer Weile wurde die Tür aufgerissen, und hinter Tante Rosi kam Ferdinand herein.
Ehe sie ihm entgegeneilen konnte, herrschte Rosi sie an: »Hinaus!«
Veronika suchte Ferdinands Blicke. Er hielt aber den Kopf abgewendet, und auch er schien darauf zu warten, daß sie gehe. Da schlich sie leise aus dem Zimmer, blieb aber draußen an der Türe stehen, voller Hoffnung. Nur daß sie nicht rasch auch ihr Bündel vom Tisch genommen habe, um dann gleich mit ihm davonzugehen, bedauerte sie jetzt. Denn sonst war sie gar nicht mehr bekümmert, keine andere Möglichkeit ging ihr in den Sinn. Er war ja gekommen, da wollte er sie also holen, weil sie ihm zu lange geblieben. Etwas anderes gab es für sie nicht.
Drinnen wurden Stimmen laut, und sie hörte, wie die Tante wieder von der Polizei zu schreien begann. Aber da fuhr Ferdinand mit harten Worten dazwischen: Nur so solle sie nicht kommen, sonst müsse er andere Saiten aufziehen. »Bist du davongefahren, ja oder nein?«
Rosi wollte etwas anderes sagen.
»Ja oder nein?« Die beiden Worte fielen drinnen nieder, als schlage jemand zweimal auf den Tisch.
Eine geflüsterte Antwort. Darauf Ferdinands hartes Reden: »Du hast sie einfach bei mir lassen, verstehst? Probier's nur und mach' jetzt ein Aufsehen.«
Wieder eine geflüsterte Antwort. Dann Ferdinand in hohem Tone: »Was meinst denn, wem wird man mehr glauben, dir oder mir?«
Und dann wurde es still, und Veronika begriff von all dem nur das eine, daß Ferdinand die Tante besiege, und sie faltete die Hände und drückte sie vor die Brust, weil sie singen wollte und sich bezwang.
Immer stiller wurde es im Zimmer, und dann auf einmal hörte Veronika, wie die Tante lachte. So war alles wieder gut. Sie lachte glückselig mit und lächelte noch, als sich die Tür öffnete und Ferdinand heraustrat, und lächelnd streckte sie ihm beide Hände entgegen. Aber er sah nur flüchtig auf sie, trat verlegen zur Seite, schritt rasch vorbei und murmelte: »Adieu.«
Wie er nun eilig verschwunden war, stand Veronika noch einen Augenblick und wußte gar nicht, daß das Lächeln noch auf ihren Lippen schwebte. Dann blickte sie langsam in dem weiten Vorzimmer umher, in alle Ecken, und als Rosi sah, welches Entsetzen allmählich in Veronikas Augen trat, fragte sie: »Was ist denn? Was ist denn?« rasch hintereinander, und obwohl Veronika alles umher sich drehen fühlte, schien es ihr doch, als läge ein Schuldbewußtsein und eine große Angst im Ton der Tante. Sie wandte sich ab.
Rosi trat zu ihr und führte sie in das Zimmer zurück. An der Schwelle blieb Veronika stehen und fragte leise: »Warum ist er denn fortgegangen?«
Rosi wußte keine Antwort.
»Warum?« Veronika sprach mehr vor sich hin. »Er hat mich doch holen wollen, er hat mich doch mitnehmen wollen ...«
»Was sagst? Um Gottes willen, was sagst du da? Das ist ja Unsinn.«
Veronika hörte nicht, und heftiger, mit aufsteigendem Schluchzen sagte sie: »Ich hab' ihm versprochen, daß ich bei ihm bleib', immer und ewig.«
Rosi erschrak bei diesen Worten, und es fiel ihr auf, daß Veronika jetzt erst verstört sei, trauriger als vorhin, da sie geschlagen wurde. Sie sagte nach einer Weile unsicher: »Aber Kind! Was fällt dir denn ein? Das ist ja Unsinn, und alles war ja nur ein Spaß.«
Veronika hob das Gesicht und sah mit gequälten Augen zur Tante auf, wie Kinder blicken, denen man Schauermärchen erzählt. Rosi fuhr dringender fort: »Ja, ja, nur ein Spaß war's, natürlich. Jetzt ist's einmal g'schehn, und jetzt ist's auch schon wieder vergessen ... und du ...«, sie redete weiter, wie um sich gegen dieses Antlitz zu wehren, »du wirst jetzt schön z'Haus fahren ... und ...«, leiser setzte sie hinzu: »und wirst nichts erwähnen, hörst, vor der Mutter.«
Veronika stand auf, ging wankend zum Tisch, nahm ihr Bündel herunter und näherte sich der Tür.
Rosi trat dazu: »Jesses nein, wenn's d' heut noch dableiben willst, kannst ja noch dableiben.« Veronika stand vor der Türklinke und rührte sich nicht.
»Aber du mußt auch vorher noch was essen – es is ja bald Mittag.«
Veronika bewegte sich nicht. Sie schaute unverwandt auf das Schloß, wie ein verschüchterter Hund, der hinausbegehrt.
Rosi wußte sich nicht zu helfen. Sie rüttelte Veronika leicht an der Schulter: »Du, hörst, du sollst nicht so trotzig sein, gib ein' Antwort!« Aber Veronika hielt die Lippen aufeinandergepreßt.
Ratlos ging die Tante hin und her, räumte da und dort zwecklos auf und schaute immer wieder zu Veronika hinüber. »Überhaupt ... du wirst doch nicht in dem weißen Kleid auf der Eisenbahn fahren? Daß d' ganz schmutzig wirst, bis d' heimkommst ...?« Und weil wieder keine Antwort kam, ging sie hin, ihr das Bündel aus der Hand zu nehmen. Aber wie sie nur einmal daran zerrte, bekam sie den festen Griff zu spüren, mit dem Veronika ihre Siebensachen hielt, und daran erkannte sie eine unabänderliche Entschiedenheit und sagte nur: »In Gottes Namen ... fährst halt gleich ... aber ich kann nicht mit zur Bahn, ich nicht ... setz' dich nieder, hörst ... wart' ein bissel.« Und weil Veronika nicht vom Platz weichen wollte: »Gleich kannst nach Haus fahren ... wart' ein bissel ... die Kathi muß sich erst anziehen ... die Kathi wird dich begleiten.« Veronika ließ sich wieder zu einem Sessel führen. Dort saß sie aufrecht, hielt das Bündel mit beiden Händen im Schoß und schaute vor sich hin.
Tante Rosi ging hinaus. Eine lange Zeit verstrich, dann kam die alte Kathi, hatte das kurze graue Haar offen in einem Strähnchen herunterhängen und trug eine Tasse, auf der allerhand Eßschüsseln standen.
»Da ham S' ... essen S' jetzt ... ich zieh' mich daweil an.« Die Arme in die Seiten gestemmt, blieb sie noch vor Veronika stehen und betrachtete sie neugierig.
Wieder verging, nachdem Kathi sich entfernt hatte, eine lange Zeit. Veronika aß nicht, sie bewegte sich kaum.
Als Rosi gegen Nachmittag wieder hereinkam, stand Veronika vor dem Schwanenbild und besah die sanfte, in der Umarmung des Schwans hingestreckte Leda.
»Na, jetzt fährst halt, in Gottes Namen.«
Veronika drehte sich daraufhin um und ging mit gleichmäßigen stillen Schritten zur Tür, ohne Rosi anzusehen, wie im Schlaf.
»Nicht einmal das Essen hast berührt ...«
Veronika ging weiter.
Rosi lief ihr nach. »Wart' doch ein bissel.« Und dann sagte sie schüchtern: »So ... ohne Grüß Gott ... willst fort von mir?«
Veronika schwieg. Rosi stand verlegen, staunend und zaghaft da, faßte rasch nach ihrer Hand und sprach dann eilig: »Da hast, das schickt er dir ... der Ferdinand ...«
Jetzt stockte sie. Denn nun ruhten Veronikas klare Augen glanzvoll auf ihr, und dieser Blick traf sie wie ein plötzlicher Schlag. Sie hielt unbeholfen ein paar Banknoten in der Hand und weil Veronika nicht darauf achtete, bückte sie sich und schob ihr das raschelnde Papier tief in das Bündel. »Schau nur, daß d' es nicht verlierst ... er hat mir's für dich gegeben ... du sollst dir was Schönes dafür kaufen ... Aber zu Haus, wenn s' dich fragen, sag' nur, es is von mir ... verstehst? Ja ... und noch was ... merk' auf ... wenn am End' ... na ja, du weißt schon ... es könnt' ja sein ... dann schreib mir nur ... hörst du? ... dann schreib mir aber gleich ... und dann hol' ich dich her ... und dann muß er was für dich tun, der schlechte Mensch ... Aber hast g'hört? nicht der Mutter sagen ... und gleich mir schreiben ... und b'hüt' dich Gott ... alsdann ...«
Rosi wollte sich vorneigen und Veronika auf die Stirne küssen, aber noch immer ruhte dieser fragende, zerrüttete Kinderblick auf ihr. Sie hielt inne und wiederholte nur leise: »B'hüt' dich Gott, alsdann ...«
Im Vorzimmer wartete die Kathi, trug ein blaues gestreiftes Leinenkleid, einen roten Sonnenschirm und war barhaupt.
Veronika stieg langsam, Schritt vor Schritt die eng gewundene Treppe hinter Kathi hinab. Als sie auf dem ersten Absatz an der kleinen Türe vorbeikam, ward diese rasch geöffnet. Gusti schlüpfte heraus, umschlang Veronikas Hals und flüsterte: »Kein Glück hat's dir 'bracht, das Kranzerl von mir.« Dann küßte sie sie auf den Mund, und Veronika lag schluchzend an ihrer Brust.
In einem langsamen Omnibus fuhr Veronika durch die Straßen. Eine breite, schläfrige Nachmittagssonne lag auf dem weißen Pflaster, hing sich verdrießlich an alle Menschen und wühlte in den Gerüchen der Rinnsale.
Die alte Kathi plauderte mit den Leuten im Omnibus. Sie erzählte von Veronika, von der Tante, von der Firmung, der Uhr und dem Kleid; von allem anderen aber schwieg sie. Man hörte ihr zu, ohne zu antworten. Nur ein feiner Herr, der ihnen gegenüber saß, beugte sich vor und sah Veronika ins Gesicht. »Aber traurig ist das kleine Fräulein,« sagte er, »so hübsch und so traurig ...«
»Na ja,« rief Kathi schnell, »weil s' wieder z'Haus fahrt. Es g'fallet ihr halt in Wien.«
Der Kondukteur, ein kleiner, schiefbeiniger Kerl, der furchtbar schwitzte, wurde ganz begeistert: »Das glaub' ich, daß ihr da recht wär', und ein' Ansprach' tät' s' auch finden«, dabei lachte er dem eleganten Herrn frech ins Gesicht. Der aber schwieg und blickte auf die Straße hinaus.
Auf dem Bahnhof sagte Kathi noch: »Kommen S' g'sund nach Haus und geben S' acht, daß' nix verlieren. Das viele Geld ... und die vielen Sachen ...«
Veronika stieg in das Coupé, ohne etwas zu erwidern, ohne zu hören, ohne zu grüßen.
Dort saß sie, völlig versunken, und hielt ihr Bündel auf den Knien, und als sie schon weit weg von Wien war, über Klosterneuburg hinaus, schüttelte sie nur einmal heftig den Kopf.
Dann saß sie wieder eine Weile so achtlos, daß die rüttelnde Bewegung der Fahrt sie wie eine Schlafende hin und her warf.
Leute kamen und gingen, jedesmal, so oft man stehen blieb. Veronika begann unruhig zu werden. Sie holte unter allen ihren Sachen das große Lebkuchenherz hervor und achtete nicht darauf, als das Geld dabei herausfiel und in drehenden Papierfetzen langsam zu Boden schwebte.
Dann aber, kaum der Zug in der Station Tulln anhielt, stand sie plötzlich auf, als folge sie einem Rufe, und wiewohl sie noch nicht am Ziel ihrer Reise angelangt war, verließ sie den Wagen, so eilig wie in Angst. Der Zug fuhr weiter, und in dem leeren Coupé war nichts geblieben als Veronikas gelöstes Bündel, ihr altes Kleid, ihr neues Gebetbuch und die verstreuten Geldscheine.
Veronika ging langsam im Abenddämmer dem Städtchen zu. Ein paar Leute spazierten in der schönen Luft des Sonnenuntergangs. Kinder liefen umher. Dann kam eine kleine Kastanienreihe, die sich am Ufer der Donau hinzog, und Veronika schritt hier durch und blickte auf das Wasser hinaus, das in den Flammen der versinkenden Sonne schimmerte. Sie holte ihr Lebkuchenherz aus der Hülle und ließ das Papier im Winde flattern. Langsam schritt sie vorwärts, das Herz in beiden Händen vor sich, und blickte auf die bunten Farben, die vom weißen Zuckerguß sauber eingeschnörkelt und abgeteilt wurden.
Über ihr schlug plötzlich lautes Glockengeläute an, schwang sich herab und flog weit über das Wasser zu den Auen hinüber. Veronika stand an der Kirche, die mit ihrem grauen Gemäuer und ihrer kleinen dunklen Pforte vor ihr sich auftat.
Sie trat ein und sah alles funkelnd erleuchtet. Hier war es schon Abend, und eine große Gemeinde füllte die schwarzen Bänke. Am Altar kniete, umstrahlt von Kerzenlicht, ein alter Priester in stillem Gebet.
Bebend blieb Veronika bei der Türe stehen, hielt das Herz gegen ihre Brust gedrückt, faltete die Hände, und viele Tränen liefen ihr jetzt über die Wangen, verschleierten ihre Blicke, daß sie langsam die Lider senkte, um die Augen freizubekommen, und immer, wenn sie die Lider schloß, fühlte sie, wie heiß ihre Tränen waren, und immer, wenn sie die Augen aufschlug, fühlte sie, wie neue Tropfen über die Wangen herabliefen, denselben Weg.
Die Kirche war groß und feierlich, und überall funkelte das Gold an den Wänden, an den Altären und im spielenden Glanz der Kerzen. Und dunkle Heiligenbilder blickten ernsthaft nieder, und graue Statuen mit goldenen Reifen um den Kopf schauten zu ihr her.
Mit einem Male begann die Orgel zu spielen, tief und brausend, daß alle Lichter vor dem Riesenklang zu erzittern schienen. Veronika zuckte, als vernähme sie eine zornerfüllte Stimme, und stand in sich verkauert da, mit gesenktem Kopf. Dann fiel mit einem langgezogenen, wehklagenden Gesang die Gemeinde in das Orgelspiel, und es war, als werde jetzt von Dingen verkündet, die ewig verloren sind. Der Atem wurde Veronika so eng, daß sie mit den Händen in die Luft griff. Das Herz fiel auf die Steine und zersprang in Stücke.
Sie aber floh in den freien Abend hinaus.
Eine lange Strecke lief sie die Kastanienreihe zurück, an der hohen Eisenbahnbrücke vorbei, die über den Fluß führt.
Die Dunkelheit glitt schwer hernieder, wie sie in die offene Uferau kam und im stillen Grase die Schritte mäßigte. Ein stilles Rauschen drang vom Wasser her, vermengt mit dem hellen Zirpen der Grillen. Sie ging immerzu, immerzu, den verlorenen Blick auf die letzten roten Wolkenstreifen gerichtet.
Da fuhr sie zusammen, weil eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Zwei Soldaten standen vor ihr. Braune, wilde, lachende Gesichter. Zitternd wich sie zur Seite und hörte, wie sie zu ihr redeten. Sie ging noch ein paar Schritte, wandte sich um und sah, wie die beiden ihr folgten.
Da schrie sie ein einziges Mal auf. Dann begann sie zu laufen, immer schneller, und weil sie rufen hörte, immer noch schneller, immer gegen das Wasser zu.
Jetzt vernahm sie nichts mehr als das Hämmern ihrer Schläfen.
Sie lief über die Böschung hinab, kam unten auf die Kiesel, tat einen kleinen Sprung, der in ihrer Trostlosigkeit wie ein rasches Erinnern an heitere Kinderspiele sie durchflog. Dann war es ihr, als ob jemand mit kalten Griffen in ihren Kleidern nach ihrem Körper wühle.
Sie sah mit einem Male die Eltern, wie sie an dem weißen Tisch zu Hause über die Furche gebeugt saßen und ihr zunickten, sie sah die Tante Rosi mit erhobenen Armen, vernahm plötzlich ihre frische Stimme, singend, dicht am Ohr. Der steinerne Engel vom Grab des alten Pfarrers schoß an ihr vorbei und überschlug sich, dann stürzte die Dorfkirche ein, mit einem Donner, der ihr den Atem raubte.
Es wurde hell vor ihr. Sie sah die große Stadt und die Brücke und sich selber den Fluß herunterkommen, langsam, in ihrem weißen Kleid, den Kranz im Haar, und bleich, und die Leute drängten sich schon, die wiederkehrende Veronika zu sehen.
Dann wurde es still und finster ringsum.
Aber der Strom trug sie mit sich fort in gerader Richtung, und er ließ sie nicht in den Arm gleiten, der durch die inneren Straßen sich windet. Weit draußen trieb sie dann in tiefer Nacht vorüber, wo der Fluß außerhalb der Stadt durch die Auen dahingeht, und war nur wie ein kleiner lichter Fleck auf den nachtschwarzen Wellen.