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13. Kapitel.
Tremal-Naiks Sieg

Der »Cornwall«, auf wunderbare Weise der Pulverexplosion entgangen, fuhr mit Volldampf auf die Sunderbunds.

Tremal-Naik hatte bereits jede Einzelheit erzählt. Der Kapitän Corishant wollte unvermutet über das Kanonenboot »Hider« hereinbrechen, bevor die Bemannung den Angriff merken und den mächtigen Suyodhana von dem Fehlschlag und Verrat in Kenntnis setzen könnte. Matrosen und Infanterie-Marinesoldaten standen unter Waffen, um beim ersten Signale bereit zu sein, während die Artilleristen sich hinter ihren Kanonen aufgestellt hatten, bereit, den »Devonshire« eher in den Grund zu bohren als entfliehen zu lassen.

Der Kapitän, unsagbar aufgeregt, stand mit einem Nachtfernrohr aufrecht auf der Verschanzung des Vorderschiffs, forschte in die Finsternis und gab den Steuerleuten den Kurs an, um die zahlreichen Untiefen zu vermeiden. Tremal-Naik saß neben ihm und strengte seine Adleraugen an, um die Mündung des Mangal zu entdecken.

»Schnell!–Schnell!« wiederholte er. »Wenn die Thugs den Angriff gewahr werden, ist meine Ada verloren!«

»Jetzt, da ich weiß, wo sie sich befindet und du mich führst, hab' ich keine Furcht mehr, mein braver Indier,« antwortete der Kapitän. »Ah! Endlich, nach so vielen Jahren, werde ich sie wiedersehen dürfen!«

»Und wenn man bedenkt, daß ich eben dabei war, Euch zu töten, und daß Euer Kopf das Hochzeitsgeschenk sein sollte! – Allmächtiger Siwa!«

»Und warst du wirklich entschlossen, mich zu töten?«

»Ja, Kapitän, denn nur mit diesem Verbrechen hätte ich die bekommen können, die ich so innig liebe. Wenn das Betäubungsmittel stärker gewesen wäre –«

»Was für ein Betäubungsmittel?« fragte Corishant erstaunt.

»Das Bindur und Palavan gestern abend in Eure Limonade gossen.«

»Aber ich habe sie gar nicht getrunken! Ich entsinne mich, die Limonade gekostet zu haben, da ich sie aber zu bitter fand, schüttete ich sie weg. Gott hatte mir eingegeben, sie nicht zu trinken.«

»Das war Eure Rettung, Kapitän. Wenn Ihr nicht aufgewacht wäret, hätte ich nicht gezögert, Euch zu töten, und vielleicht –«

»Der Mangal!« rief in diesem Augenblick der wachhabende Offizier.

»Wo ist er?« fragte der Kapitän.

»Vor Euch, Herr.«

»Seid Ihr sicher, Euch nicht zu täuschen?«

»Nein, Herr: schaut dort unten jene beiden leuchtenden Schiffslaternen.«

Der Offizier hatte sich nicht getäuscht. Auf fünfhundert Meter Entfernung vor dem »Cornwall« leuchteten zwei deutliche Punkte durch die Finsternis, ein roter und ein grüner.

»Der ›Devonshire!‹« rief Tremal-Naik.

»Gegendampf!« kommandierte der Kapitän.

Der »Cornwall«, vom eignen Schwung vorwärts getrieben, verfolgte seinen Lauf noch etwa sechzig Meter, dann blieb er stehen.

»Drei Schaluppen ins Meer und vierzig bewaffnete Leute mit drei kleinen Kanonen,« sagte der Kapitän.

Dann wandte er sich an Tremal-Naik und fuhr fort:

»Jetzt kommt es auf dich an, wenn du die Hand meiner Tochter haben willst.«

»Befehlet, mein Leben gehört Euch,« antwortete der Indier.

»Es ist nötig, daß du die Mannschaft des Kanonenbootes gefangen nimmst.«

»Das werde ich tun.«

»Aber keiner darf entkommen. Und Flintenschüsse dürfen nicht fallen, um die Wachen der Thugs nicht zu alarmieren.«

»Wir werden keinen Schuß abgeben. Hider erwartet mich, ich werde ihn unvermutet überraschen.«

»Gut. Geh, mein Tapferer.«

Die drei Schaluppen waren fertig und die Bemannung am Platze. Tremal-Naik stieg in die größte und gab Befehl, lautlos aufzubrechen.

Der Kapitän war, angelehnt an die Brüstung des Vorderschiffes, in höchster Unruhe an Bord zurückgeblieben. Einige Augenblicke konnte er die drei Schaluppen, die sich geräuschlos entfernten, deutlich erkennen, dann entschwanden sie seinen Blicken.

Einige Minuten ängstlicher Erwartung vergingen, dann hörte man Schreie, Geräusch, und alles war wieder still.

»Entdeckt ihr nichts?« fragte der Kapitän mit gebrochener Stimme die Offiziere, die bei ihm standen.

»Doch!« rief einer »Die Schiffslaternen wenden sich!« –

»Das Kanonenboot kommt uns entgegen!« schrien die anderen.

Ein »Hurra« erscholl von drüben, das war der Siegesruf.

Corishant stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Gott beschützt uns,« murmelte er. »Ah! meine arme Ada, endlich werde ich dich sehen und umarmen können!« –

Kurz danach legte der »Devonshire« an der Fregatte an, und Tremal-Naik stieg an Bord, indem er sagte:

»Das ist getan: Hider und alle seine Leute sind gefangen.«

»Danke, mein Tapferer,« sagte Corishant, indem er ihm kräftig die Rechte schüttelte. »Sind sie überrascht worden?«

»Ja, Kapitän. Sie erwarteten mich mit Eurem Kopfe und ließen mich ohne Mißtrauen näherkommen. Als sie meine List merkten, waren sie schon alle umzingelt und streckten die Waffen ohne Widerstand.«

»Gehen wir nach Raimangal.«

»Aber die Fregatte wird den Mangal nicht hinauffahren können.«

»Nehmen wir das Kanonenboot. Noch zwanzig entschlossene Leute mit mir.«

Sie verließen die Fregatte und schifften sich auf dem »Devonshire« ein, der mit Volldampf den Mangal hinauffuhr. Tremal-Naik hatte das Kommando übernommen.

Der Kanal wurde nach und nach enger. Inseln und schlammige Bänke versperrten den Lauf des Kanonenbootes, das kompakte Massen verwester Pflanzen aufwühlte. Alles deutete darauf hin, daß die Fahrt bald beendet war.

Plötzlich hörte man von der Mastspitze einen Ruf:

»Die Banane!«

Im Norden war der riesige Baum mit seinen dreihundert Stämmen erschienen. Eine heftige Erregung schüttelte Tremal-Naik vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ada!« rief er. »Hier bin ich am Ende meines Kummers!«

Mit einem Sprunge warf er sich von der Brücke und stürzte ans Vorderschiff.

Das Ufer war verlassen. Nur Marabus kauerten auf den Ästen der Banane und krächzten kläglich.

»Gegendampf!« rief Tremal-Naik.

Das Schaufeln der Räder verstummte. Das Kanonenboot rannte am Ufer der Insel fest. Der Kapitän näherte sich Tremal-Naik, der, krampfhaft an die Brüstung angeklammert, stillstand.

»Niemand?« fragte er.

»Niemand,« antwortete Tremal-Naik.

»Dann werden wir sie in ihrem Versteck überraschen.«

»Ich hoffe es.«

»Kennst du den Eingang?«

»Ja, Kapitän.«

»An Land also!« –

»Ein Wort: laßt mich zuerst eintreten. Man kennt mich und wird mich einlassen. Wenn ihr einen Pfiff hört, geht ihr ohne Bedenken vor.

Hierauf lief er wie ein Wahnsinniger zum Baum, kletterte hinauf, erreichte den Stumpf und schwang sich hinein.

Unten an der Baumtreppe brannte eine Wachsfackel, daneben wachte ein Thug mit einem Karabiner in der Hand.

»Was geht in den unterirdischen Gängen vor?« fragte Tremal-Naik.

»Nichts.«

»Meine Ada?«

»Erwartet im Tempel ihr Hochzeitsgeschenk.«

Er näherte sich einer großen Trommel, die von der Decke herunterhing und schlug dreimal dagegen.

In der Ferne ertönten drei gleiche Schläge.

»Du wirst erwartet,« sagte der Thug, indem er ihm die Wachsfackel reichte.

»Dann stirb!« –

Mit dem Dolch in der Faust hatte sich Tremal-Naik wie ein Blitz über den Thug gestürzt. Ihn fest an der Kehle packen und ihm die Waffe in die Brust stoßen, war Sache eines einzigen Momentes. Der Würger fiel, ohne einen Schrei auszustoßen.

Tremal-Naik legte die Leiche beiseite und pfiff. Der Kapitän und seine Leute, die sich schon im Baume befanden, kamen zu ihm.

»Der Weg ist frei,« sagte der Indier.

»Und meine Tochter?« fragte Corishant halb erstickt.

»Erwartet uns in der großen Höhle.«

»Vorwärts! – Ladet die Gewehre!«

»Nein, laßt mich vorangehen. Wir werden sie dann leichter überraschen.«

»Geh, wir folgen dir auf kurze Entfernung.«

Tremal-Naik schlich sich rasch vor. Tausend Sorgen drückten ihn in diesem letzten Augenblick. Ihm war's, als wenn ihn eine furchtbare Gefahr bedrohe, jetzt, wo er sein höchstes Glück empfangen sollte.

Sein Lauf durch jene langen Gänge dauerte zehn Minuten.

Zwölf Schläge ertönten in dem schauerlichen, unterirdischen Gewölbe, als er den Tempel erreichte, in dessen Mitte sich die unheilvolle Kali erhob, die ungeheuerliche Göttin der indischen Thugs.

Ein seltsames, nie gesehenes Schauspiel bot sich seinen Augen.

Unter dem Gewölbe strahlten reiche, bizarre Lampen, die bläuliche Lichtströme verbreiteten.

Von den Wänden hingen tausend und abertausend Lasso und ebenso viele Dolche.

Vor einem weißen, mit Wasser gefüllten Marmorbassin, in dem das heilige Fischchen der Gangeswasser schwamm, saß auf einem karmesinroten, seidenen Kissen, eingehüllt in ein großes, gelbseidenes Dubgah, Suyodhana, und um ihn herum standen aufrecht, unbeweglich wie die Statuen, hundert Thugs, einige mit schwarzer Haut wie die Afrikaner, andere grünlichgelb wie die Malaien, andere kupferfarben, rötlich oder gelb, fast nackt, mit Kokosnußöl eingerieben und tätowierter Brust.

Tremal-Naik war atemlos, erstaunt inmitten des Tempels stehengeblieben, durchbohrt von jenen hundert scharfen Blicken.

»Sei willkommen,« sagte Suyodhana mit seltsamen Lächeln. »Kehrst du besiegt oder als Sieger zurück?«

»Wo ist meine Ada?« fragte Tremal-Naik sorgenvoll.

Ein dumpfes Gemurmel durchlief die Reihen der Thugs.

»Sei geduldig,« sagte der Häuptling der Würger. »Wo ist der Kopf des Kapitäns?«

»Hider folgt mir und wird ihn dir in einigen Minuten bringen.«

»Du hast ihn also getötet?«

»Ja.«

»Brüder, unser Feind ist tot!« schrie Suyodhana.

Er erhob sich, vielmehr wie ein Tiger sprang er auf. Über sein Gesicht glitt ein Zittern. Er blieb stehen, unbeweglich, und betrachtete Tremal-Naik.

»Höre mich,« sagte er nach kurzem Schweigen. »Siehst du jene Bronzefrau, die vor uns steht? Sie ist mächtig, mächtiger als Brahma, Wischnu, Siwa und alle anderen Götter, die die Indier verehren. Sie lebt im Reiche der Finsternis, spricht durch den Fisch zu uns, den du in dem Bassin schwimmen siehst, ist gerecht und furchtbar. Sie verachtet Weihrauch und Gebet, sie will nur Opfer. Sie versinnbildlicht die indische Freiheit und den Untergang unserer Bedrücker, der weißen Rasse.«

Suyodhana hielt inne, um zu sehen, welche Wirkung seine Worte auf Tremal-Naik hervorriefen, der aber blieb kalt, unempfindlich der Begeisterung des Thugs gegenüber. Er dachte nur an seine Ada, die für ihn seine Göttin war, sein Vaterland, sein Leben.

»Tremal-Naik,« versetzte Suyodhana. »Du bist einer von den Menschen, die in Indien selten sind. Du bist stark, kühn, furchtbar, du bist ein Indier, der dahinwelkt unter der Knechtschaft der weißen Fremdlinge. Würdest du dich zu unserer Religion bekennen?«

»Ich!« rief Tremal-Naik. »Ich ein Thug!«

»Jagen dir die Thugs Schrecken ein? Vielleicht, weil sie würgen? Die Europäer zertrümmern uns mit dem Eisen ihrer Kanonen, wir erwürgen sie mit dem Lasso, der Waffe unserer mächtigen Göttin.«

»Und meine Ada?«

»Bleibt unter uns, wie auch Kammamurri, der jetzt ein Thug geworden ist.«

»Aber wird sie mein Weib sein?«

»Niemals! Sie gehört unserer Göttin.«

»Und Tremal-Naik hat keine andere Göttin, als Ada Corishant!«

Zum zweitenmal durchlief ein dumpfes Gemurmel die Reihen der Thugs. Tremal-Naik schaute sich wütend um.

»Suyodhana!« schrie er. »Sollte ich hintergangen werden? – Sollte mir jetzt, nach alledem, was ich für eure Göttin tat, die Geliebte versagt werden? – Solltest du meineidig sein?«

»Nein, sie gehört dir,« sagte Suyodhana mit einem Tone, der Schauder erregte.

Ein Indier schlug zwölfmal gegen ein Tamtam.

Im Tempel herrschte minutenlang Todesschweigen. Die hundert Männer schienen nicht mehr zu atmen.

Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Ada erschien, mit weißen Schleiern bedeckt und einem Goldpanzer um die Brust. Blendendes Licht strömte von ihr aus.

Zwei Schreie schallten im Tempel wider:

»Ada!«

»Tremal-Naik!«

Der Indier und das junge Mädchen warfen sich einander in die Arme. Gleich darauf rief eine donnernde Stimme:

»Feuer!« –

Eine furchtbare Gewehrsalve krachte durch die unterirdischen Gänge und weckte alle Echos des Gewölbes. Dann brachen sechzig Mann aus der Dunkelheit hervor und stürzten sich mit auf gepflanztem Bajonett in die Pagode.

Die Thugs warfen sich erstaunt, erschreckt, in buntem Durcheinander in die Gänge. Suyodhana war mit einem Satze wie ein Tiger in einen engen Durchgang gesprungen, indem er eine schwere »Tek«-Holztüre hinter sich schloß.

Der Kapitän eilte auf Ada zu und rief:

»Meine Tochter! – Endlich sehe ich dich wieder!«

»Mein Vater!« – hatte das Mädchen gerufen und war ohnmächtig in seine Arme gefallen.

»Zum Rückzug!« donnerte Tremal-Naik.

Die Soldaten sammelten sich im Tempel, aus Furcht, daß sie sich unter den finsteren Gängen verlieren könnten.

»Brechen wir auf!« sagte der Kapitän. »Komm, mein tapferer Tremal-Naik, meine Ada ist dein Weib! – Du hast sie redlich verdient.«

Und sie zogen sich zurück. Bevor sie aber das ausgedehnte, unterirdische Gewölbe verließen, hatte sich die drohende Stimme Suyodhanas hören lassen:

»Geht! – [Im] Dschungel werden wir uns wiedersehen!« –

 

Ende.

 


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