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Keine Wache befand sich auf dem Treppenabsatz.
Tremal-Naik, der vor Aufregung zitterte, aber zu allem fähig war, um die Freiheit wiederzuerlangen, ging lautlos die Treppen hinauf und kam in ein dunkles, leeres Zimmer.
Er stand einen Moment still, lauschte scharf, packte das Messer, schlich langsam zur Tür und steckte vorsichtig den Kopf durch.
»Niemand,« murmelte er.
Er öffnete eine zweite Tür, lief durch einen langen, dunklen Gang und betrat ein drittes Zimmer.
Es war sehr geräumig. Ein Licht brannte in einer Ecke und warf einen schwachen Schein über ein Dutzend dürftiger Betten, auf denen ebenso viele Menschen schnarchten.
»Die Soldaten!« murmelte Tremal-Naik, indem er stehen blieb.
Er wollte eben umkehren, als er auf dem Gange gleichmäßige Schritte und ein Klirren wie von Sporen hörte. Er zuckte zusammen und erhob den Revolver gegen die Tür. Der Mensch kam näher. Tremal-Naik hörte, wie er einen Augenblick stehen blieb und dann abbog.
»Wenn es der Kapitän wäre!« rief er leise. Er verließ das Zimmer und betrat den Gang wieder. Dort bemerkte er einen kaum sichtbaren Schatten, der, eine Zigarette rauchend, auf und ab ging. Er griff zum Revolver und schlich, zu allem entschlossen, nach.
Eine Stufe ersteigend, kam er auf den Fußspitzen in einen zweiten Gang. Der Mensch, der vor ihm ging, blieb stehen. Er hörte ihn mit den Schlüsseln rasseln und eine Tür öffnen. Dann verschwand er.
Tremal-Naik beschleunigte seinen Schritt und machte vor derselben Türe halt, die nicht abgeschlossen war.
Eine Lampe erleuchtete das Zimmer spärlich. Vor einem Tische, im Schatten einer Säule, saß ein Mann, den er nicht erkennen konnte. Er vermutete, daß es der Kapitän wäre, drückte sacht gegen die Tür, die sich geräuschlos öffnete, und trat ein, indem er wie ein Tiger zum Tische schlich. So leise sein Schritt auch war, hatte ihn der Mann bemerkt und erhob sich sofort.
»Bhârata!« rief Tremal-Naik und legte den Revolver auf ihn an.
»Keinen Laut, keinen Schritt,« sagte er, »oder du bist ein Kind des Todes.«
»Du! – Saranguy!« rief Bhârata bestürzt.
»Nicht Saranguy, sondern Tremal-Naik, der Schlangenjäger der schwarzen Dschungel,« antwortete der Indier, ohne die Waffe abzusetzen.
Bhârata schaute ihn an, mehr überrascht, als erschrocken.
»Wie kommst du denn hierher«' fragte er.
»Das ist mein Geheimnis. Einen Thug kerkert man nicht ein.«
»Und was willst du hier tun?«
»Dich töten.«
Obwohl Bhârata mutig war, bekam er doch Angst.
»Ah!« rief er, mit aufeinandergebissenen Zähnen. »Du kommst, um mich zu morden.«
»Vielleicht.«
»Kann ich das Leben retten?«
»Ja.«
»Sprich.«
»Setz dich, dann sprechen wir!«
Bhârata gehorchte. Tremal-Naik eignete sich alle Waffen an, verschloß die Tür und setzte sich vor den Sergeant, indem er ihm sagte:
»Ich mache dich darauf aufmerksam, daß dich der erste Schrei, den du ausstößt, das Leben kostet.«
»Sprich,« wiederholte der Sergeant, der sein kaltes Blut wiederzugewinnen suchte.
»Ich habe den Thugs geschworen, Kapitän Macpherson zu töten.«
Der Sergeant brach in ein Lachen aus.
»Narr, weißt du nicht, daß der Kapitän nicht mehr hier ist?«
Tremal-Naik stand auf.
»Der Kapitän ist nicht mehr hier!« rief er verzweifelt. »Wo ist er?«
»Das sage ich dir nicht.«
»Ah!« rief Tremal-Naik. »Du weißt es?«
»Ja, ich weiß es.«
Tremal-Naik setzte den Revolver dem Indier auf die Stirn.
»Bhârata,« sagte er wütend. »Sprich!«
»Du kannst mich morden, über meine Lippen kommt keine Silbe. Ich bin Soldat!«
»Ist das dein letztes Wort?«
»Das letzte.«
Tremal-Naik wollte eben abdrücken, als draußen ein Pfiff erscholl, der sich dreimal wiederholte.
»Nagor!« rief Tremal-Naik, der das Signal der Thugs erkannt hatte. Er steckte den Revolver in den Gürtel, packte Bhârata, hielt ihm mit einer Hand den Mund zu und warf ihn zu Boden.
»Keinen Ton,« sagte er, »oder ich töte dich wirklich.«
Er band ihn mit einem Strick, knebelte ihn, lief ans Fenster, hob den Vorhang und antwortete auf das Signal mit drei verschiedenen Pfiffen.
Hinter einem Gebüsch tauchte eine menschliche Form auf, die sich schnell an den Bengalow heranschlich. Unter dem Fenster blieb sie stehen und hob den Kopf.
»Nagor!« lispelte Tremal-Naik.
»Wer bist du?« fragte der Thug zögernd.
»Tremal-Naik.«
»Soll ich hinaufklettern?«
Tremal-Naik blickte aufmerksam nach rechts und links und lauschte.
»Komm,« sagte er dann.
Der Thug warf den Lasso um einen Fensterhaken und schwang sich im Nu aufs Fensterbrett. Es war ein junger, etwa zwanzigjähriger Mensch, groß, mager, unglaublich gewandt und, wie es schien, von erprobtem Mute. Er war fast nackt, wie die andern tätowiert und mit einem Dolche bewaffnet.
»Bist du frei?« fragte er.
»Du siehst es,« antwortete Tremal-Naik.
»Die Soldaten?«
»Schlafen.«
»Der Kapitän?«
»Der da sagte mir, er wäre nicht mehr hier.«
»Ob er Verdacht geschöpft hat?« fragte der Thug mit aufeinandergebissenen Zähnen.
»Das glaube ich nicht.«
»Wir müssen wissen, wo er hingegangen ist. Der Sohn der heiligen Gangeswasser will seinen Kopf.«
»Aber der Sergeant spricht nicht.«
»Er wird sprechen, du wirst sehen.«
»Jetzt denke ich daran, diese Menschen haben mir ein Getränk gegeben, das mich trunken machte und mich zum Sprechen zwang.«
»Sicher eine Limonade,« sagte der Thug lächelnd.
»Ja, es war eine Limonade.«
»Die werden wir dem Sergeanten zu trinken geben.«
Er sprang ins Zimmer, warf einen Blick auf Bhârata, der ruhig sein Los erwartete, nahm ein Glas Wasser und bereitete dieselbe Limonade, die der Kapitän Macpherson Tremal-Naik zu trinken gegeben hatte.
»Schlucke dieses Getränk hinter,« sagte er zum Sergeanten, nachdem er ihm den Knebel herausgenommen hatte.
»Nie!« antwortete Bhârata, der schon erraten hatte, um was es sich handelte.
Der Thug nahm Bhâratas Nase zwischen die Finger und drückte sie heftig. Um nicht zu ersticken, war der Sergeant gezwungen, die Lippen zu öffnen. Jener Moment genügte, um ihm die Limonade in den Mund zu schütten.
»Jetzt wirst du alles erfahren,« sagte Nagor zu Tremal-Naik.
»Hast du Furcht vor den Soldaten?« fragte der Schlangenjäger.
»Ich!« rief der Thug lachend.
»Stell dich vor die Tür und feure auf den ersten, der die Treppe zu ersteigen versucht.«
»Verlaß dich auf mich, Tremal-Naik. Keiner wird dein Verhör unterbrechen.«
Der Thug nahm ein Paar Pistolen, sah nach, ob sie geladen waren, und stellte sich als Wache vor die Tür.
Der Sergeant begann ohne Unterlaß zu lachen und zu schwatzen.
Tremal-Naik unterbrach überrascht den Redefluß und brachte ihn auf den Namen des Kapitäns Macpherson.
»Braver Sergeant,« sagte er. »Wo ist der Kapitän?«
Bhârata betrachtete Tremal-Naik mit leuchtenden Augen und fragte:
»Wer spricht mit mir? – Ich glaube, die Stimme eines Thug gehört zu haben – ah! – ah! – Bald wird es keine Thugs mehr geben. Der Kapitän hat's gesagt – und der Kapitän hält sein Wort – ein großer Mann, der keine Furcht hat. Er wird sie in ihrem Lager angreifen – sie mit Kanonen vernichten – ah! – ah! – ah!« –
»Und weißt du, wo ihr Lager ist?«
»Natürlich weiß ich es. Saranguy hat es gesagt. Er hatte Limonade getrunken,« fuhr der Sergeant fort, »und erzählte alles.«
»Und war der Kapitän auch da, als Saranguy sprach?« fragte Tremal-Naik zitternd.
»Natürlich. Er brach sofort auf, um sie in ihrem Lager zu überraschen.«
»Nach Raimangal vielleicht?«
»Nein, nein!« rief der Sergeant lebhaft. »Die Thugs sind stark, man braucht viel Menschen, um sie zu bewältigen.«
»Ist er nach Kalkutta gegangen?«
»Ja, nach Kalkutta, zur Festung William! – Dort wird er ein großes Schiff bewaffnen – viel Leute einschiffen – und viel Kanonen!«
Er schwieg. Seine Augen fielen zu, öffneten sich, schlossen sich aber wieder, trotz aller Anstrengung, sie offen zu halten. Tremal-Naik merkte, daß das Opium nach und nach seine Wirkung tat.
»Ich weiß, was ich wissen wollte,« murmelte er. »Und jetzt, nach Raimangal!«