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3. Kapitel.
Der Retter

Im Osten begann es zu dämmern, als Kapitän Macpherson und Bhârata in den Hof des Bengalow hinabstiegen.

Beide waren mit weitschießenden, großkalibrigen Karabinern, Pistolen und zweischneidigen Messern mit langer Klinge bewaffnet. Ein Soldat folgte ihnen und brachte zwei weitere Karabiner zum Wechseln und einige Spieße.

Bald erreichten sie den Stall Bhagavadis, der gewaltig trompetete und von einem halben Dutzend Mahauds oder Elefantenführern umgeben war.

Bhagavadi war einer der größten und schönsten »Koomareah«, den man nur an den Gangesufern treffen konnte. Er war nicht so hoch wie ein »Merghee«-Elefant, aber kräftiger, mit gewaltigem Körper, kurzen, dicken Beinen, riesigem Rüssel und zwei prächtigen, nach oben gebogenen Stoßzähnen.

Auf dem Rücken trug er das »Hauda«, eine Art Schiff, das mit Seilen und Ketten befestigt ist, worin die Jäger Platz nehmen.

Einer der geschicktesten Mahauds, der mit einem großen Haken und einem langen Spieße bewaffnet war, setzte sich auf den Nacken Bhagavadis. Der Kapitän Macpherson, Bhârata und die Soldaten nahmen die Waffen und erstiegen die Leiter zum Hauda.

Das Zeichen zum Aufbruch wurde in dem Moment gegeben, als die Sonne hinter den Büschen aufging und mit einem Schlage Fluß und Ufer beleuchtete.

Der Elefant lief, von der Stimme seines Mahauds angefeuert, rasch vorwärts. Der Kapitän Macpherson, vorn im Hauda, mit einem Karabiner in der Hand, spähte aufmerksam ins Gebüsch, hinter dem sich der Tiger versteckt halten konnte. Eine Viertelstunde später erreichten sie die stachlige, bambusbestandene Dschungel. Sechs Soldaten, mit langen Stangen versehen und mit Beil und Flinte bewaffnet, erwarteten sie mit einer Schar kleiner Hunde.

»Wir haben die Spuren des Tigers entdeckt,« meldete der Vorpostenführer. »Der Tiger ist hier vor einer halben Stunde vorbeigekommen.«

»Dann also vorwärts in die Dschungel! Laßt die Hunde los.«

Diese warfen sich mutig mitten in den Bambus auf die Spuren des Tigers und bellten wütend.

Nachdem Bhagavadi etwa dreimal den Rüssel erhoben hatte und in verschiedener Höhe die Luft einsog, schritt er in die Dschungel, indem er mit der Brust das dichte Gestrüpp durchbrach.

»Vorsichtig, Bhârata,« sagte Macpherson. »Habt ihr das Tier gesehen?«

»Ja, es war eine riesige Bestie. Ich erinnere mich nicht, je einen so großen Tiger gesehen zu haben; er machte Sprünge von zehn Metern.«

In der Ferne hörte man die Hunde wütend bellen. Bhârata fühlte ein Schaudern durch seinen Körper gehen.

»Die Hunde haben ihn aufgespürt,« sagte er.

»Und einer ist zerrissen worden.« fügte ein Soldat hinzu, der den Karabiner trug, bereit, ihn den Jägern zu übergeben.

Ein Pfauenschwarm erhob sich auf etwa fünfzig Meter und flatterte kreischend davon.

»Uszaka!« rief der Kapitän, indem er die Hände wie ein Sprachrohr an den Mund legte.

»Achtung, Kapitän!« antwortete der Vorposten. »Der Tiger beißt sich mit den Hunden.«

»Laß zum Rückzug blasen.«

Uszaka brachte das »Bansy«, eine Art Flöte, an die Nase, blies kräftig hinein und entlockte ihm einen scharfen Ton.

Bald kehrten die Soldaten schleunigst zurück und flüchteten sich hinter den Elefanten.

»Mut,« sagte der Kapitän zum Mahaud, »führe den Elefanten dahin, wo die Hunde bellen! Und du, Bhârata, spähst nach der linken, ich nach der rechten Seite. Es kann sein, daß wir es mit mehreren Gegnern zu tun haben.«

Das Gebell wurde immer wütender, ein sicheres Zeichen, daß der Tiger entdeckt war. Bhagavadi beschleunigte seinen Schritt und ging gegen einen dichten Bambusflecken vor, wo sich die Hunde hineingeworfen hatten.

Hundert Schritte davon lag einer der Hunde, von einem mächtigen Prankenschlage ganz zerfetzt. Der Elefant begann unruhig zu werden und bewegte den Rüssel auf und ab.

»Vorwärts!« rief Kapitän Macpherson, den Finger am Drücker seines Karabiners.

Der Mahaud schlug mit dem Haken auf den Dickhäuter, der furchtbar schnaubte, den Rüssel aufrollte und die scharfen Stoßzähne zeigte. Er machte noch zehn Schritte, dann blieb er stehen. Aus dem Bambus sprang ein riesiger Tiger wie eine Rakete hervor und brüllte laut.

Kapitän Macpherson feuerte.

»Donner und Blitz!« schrie er ärgerlich.

Der Tiger war ins Gebüsch zurückgefallen, ohne getroffen zu sein. Er sprang noch zweimal auf und verschwand mit riesigen Sätzen.

Bhârata feuerte mitten ins Gebüsch, aber die Kugel zerschlug einem Hunde den Kopf, der halb zerrissen am Boden zuckte.

»Ist denn der Teufel im Leibe dieses Tigers?« sagte der Kapitän schlecht gelaunt, »Das zweite Mal entgeht er meiner Kugel. Wie ist das möglich?«

Bhagavadi setzte sich vorsichtig wieder in Marsch, indem er sich mit dem Rüssel Bahn brach, den er jedoch immer vorsichtig wieder einzog. Er machte noch hundert Schritte, dann blieb er stehen und schnaubte abermals. Kaum zwanzig Schritte vor ihm befand sich eine Zuckerrohrgruppe. Ein Windstoß brachte einen starken Raubtiergeruch bis zu den Jägern.

»Schau! Schau!« rief der Kapitän.

Der Tiger sprang blitzartig aus dem Bambus hervor auf den Dickhäuter zu, der sofort die Stoßzähne vorzeigte.

Den Karabiner der Jäger entgangen, duckte er sich und sprang mitten auf die Stirn des Elefanten, indem er den Mahaud mit seinen Krallen zu packen suchte, der sich zurückgeworfen hatte und einen Schreckensschrei ausstieß.

Eben wollte er auf ihn stürzen, als in der Ferne das Ramsinga geblasen wurde.

Der Tiger schien erschrocken zu sein, warf sich hinunter und suchte das Gebüsch zu erreichen.

»Feuer!« rief der Kapitän Macpherson, indem er den Karabiner abdrückte.

Der Tiger brüllte, stürzte, übersprang das Gebüsch und fiel auf die andere Seite, indem er unbeweglich blieb, als wenn er getroffen wäre.

»Hurra! Hurra!« schrie der Kapitän.

»Ein Kernschuß!« rief Macpherson, indem er die noch rauchende Waffe weglegte. »Wirf die Leiter!«

Der Mahaud gehorchte. Mit einem Messer in der Faust, stieg Macpherson zu Boden und begab sich ins Gebüsch.

Der Tiger lag regungslos neben einem Strauche. Zu seiner großen Überraschung gewahrte der Kapitän auf dem Körper des Tieres weder eine Verwundung, noch Blutflecken auf der Erde.

Da er wohl wußte, daß sich die Tiger manchmal tot stellen, um sich unverhofft auf den Jäger zu stürzen, wollte er eben umkehren, aber die Zeit fehlte ihm.

Abermals tönte der geheimnisvolle Ton des Ramsinga. Da sprang der Tiger auf, stürzte sich auf den Kapitän und riß ihn zu Boden. Das riesige Maul mit seinen scharfen Zähnen sperrte sich über ihm auf, bereit, ihn zu zermalmen.

Kapitän Macpherson, wie an den Boden genagelt, ohne sich rühren zu können, stieß einen Angstschrei aus.

»Hierher! – Ich bin verloren.«

»Halte still, ich bin hier!« rief eine donnernde Stimme.

Ein Indier sprang aus dem Gebüsch, packte den Tiger beim Schwanz und schleuderte ihn mit einem heftigen Rucke beiseite.

Man hörte ein wütendes Brüllen. Der Tiger wollte sich, rasend vor Zorn, auf seinen neuen Feind werfen. Aber kaum hatte er ihn erblickt, als er kehrt machte und mit fantastischer Schnelligkeit in dem unentwirrbaren Chaos der Dschungel verschwand.

Kapitän Macpherson, unverwundet, hatte sich sofort erhoben. Tiefe Bestürzung spiegelte sich in seinen Gesichtszügen.

Fünf Schritte vor ihm stand ein hochgeschossener, muskulöser Indier mit einem prächtigen Kopfe auf zwei breiten, kräftigen Schultern.

Ein silberdurchwirkter Turban bedeckte seinen Kopf, und um die Hüften trug er einen kurzen, gelben Seidenrock, der von einem eleganten Shawl gehalten wurde. Dieser Mann, der dem Tiger furchtlos die Stirn geboten hatte, war ohne jede Waffe.

Mit verschränkten Armen und leuchtenden Blicken betrachtete er neugierig den Kapitän und blieb unbeweglich wie eine Bronzestatue.

»Wenn ich mich nicht täusche, verdanke ich dir das Leben,« sagte der Kapitän.

»Vielleicht,« antwortete der Indier.

»Gib mir die Hand, du bist ein Held.«

Der Indier drückte zitternd die Hand, die Macpherson ihm entgegenstreckte.

»Darf ich deinen Namen wissen, mein Retter?«

»Saranguy,« antwortete der Indier. »Ich bin ein Tigerjäger der Sunderbunds.«

»Aber wie kommst du hierher?«

»Die schwarze Dschungel hat keine Tiger mehr. So bin ich weiter nach Norden gekommen, um andere zu suchen.«

»Und wohin gehst du jetzt?«

»Ich weiß nicht. Ich habe weder Vaterland noch Familie.«

»Willst du mit mir kommen?«

Die Augen des Indiers leuchteten auf.

»Wenn Ihr einen kräftigen, tapferen Menschen gebrauchen könnt, der weder wilde Tiere, noch den Zorn der Götter fürchtet, bin ich Euer.«

»Komm, heldenmütiger Indier, du wirst dich nicht über mich zu beklagen haben.«

Der Kapitän wandte sich, blieb aber sofort stehen.

»Wohin, meinst du, ist der Tiger geflohen?«

»Sehr weit.«

»Wird es möglich sein, ihn wiederzufinden?«

»Ich glaube kaum. Übrigens werde ich mich damit befassen, ihn zu töten, in nicht allzu langer Zeit.«

»Kehren wir zum Bengalow zurück.«

Bhârata, der verwundert diesem Auftritt beigewohnt hatte, erwartete sie neben dem Elefanten. Er eilte dem Kapitän entgegen.

»Seid ihr verwundet, Herr!« fragte er ängstlich.

»Nein, mein braver Sergeant,« antwortete Macpherson. »Wenn aber dieser Indier nicht gekommen wäre, lebte ich nicht mehr.«

»Du bist ein tüchtiger Mensch,« sagte Bhârata zu Saranguy.

Ein Lächeln war die einzige Antwort des Indiers.

Die drei Männer stiegen ins Hauda und erreichten in einer knappen halben Stunde den Bengalow, vor dem die Soldaten warteten.

Beim Anblick dieser Soldaten zog sich Saranguys Stirn in Falten. Er schien unruhig und unterdrückte mit Mühe eine verächtliche Bewegung, die zum Glück niemand merkte.

»Saranguy,« sagte der Kapitän in dem Augenblick, als er mit Bhârata eintrat, »wenn du Hunger hast, laß dich von der Küche bedienen, wenn du schlafen willst, wähle das Zimmer, das dir am besten behagt, wenn du jagen willst, verlange Waffen, die dir zusagen.«

»Danke, Herr,« antwortete der Indier.

Der Kapitän betrat den Bengalow. Saranguy setzte sich an die Tür. Sein Gesicht war düster geworden, seine Augen leuchteten seltsam. Dreimal erhob er sich, als wenn er in den Bengalow eintreten wollte, und immer setzte sich wieder. Er schien lebhaft erregt zu sein.

»Wer weiß, welches Los ihn treffen wird,« murmelte er leise. »Vielleicht der Tod. Seltsam, und doch interessiert er mich, ich fühle, daß ich ihn fast liebe! Kaum sah ich ihn, so bebte mir das Herz. Ich weiß nicht, sein Gesicht ähnelt – doch still davon!«

Er schwieg und wurde noch finsterer.

»Und wird er hier sein?« fragte er sich plötzlich. »Und wenn er nicht hier wäre?«

Er stand abermals auf und lief erregt auf und ab.

Als er an einem Gitter vorbeikam, hörte er Stimmen, die aus dem Innern kamen. Er blieb stehen und hob den Kopf. Er schien unentschieden, er schaute umher, als ob er sich vergewissern wollte, ob er allein wäre, dann beugte er sich zum Gitter nieder und lauschte aufmerksam.

»Ich versichere dir,« sagte eine Stimme, »der Schurke hat gesprochen.«

»Das ist nicht möglich,« sagte eine andere Stimme. »Die Thugs lassen sich durch den Tod nicht einschüchtern. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Dutzende von Thugs sich erschießen ließen, ohne einen Ton von sich zu geben.«

»Aber Kapitän Macpherson hat Mittel, denen kein menschliches Wesen widersteht.«

Saranguy wurde aufmerksamer und näherte sich noch mehr.

»Und wo, glaubst du, haben sie ihn eingeschlossen?« fragte die erste Stimme.

»Im Keller,« antwortete die andere.

»Er wird entfliehen.«

»Unmöglich, die Mauern sind zu stark; außerdem wacht jemand.«

»Allein wird Negapatnan nicht entkommen, aber mit Hilfe der Thugs.«

Als Saranguy diesen Namen hörte, sprang er erregt auf. Ein heimtückisches Lächeln umzuckte seine Lippen, dann betrachtete er grimmig den Bengalow.

»Ah!« rief er mit kaum hörbarer Stimme. »Negapatnan ist hier! Die Elenden werden zufrieden sein!«


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