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7. Kapitel.
Blumen, die einschläfern

Als Tremal-Naik wieder zu sich kam, fand er sich in einem engen Keller eingeschlossen, festgebunden an zwei Eisenringen, die an einer Art Säule angebracht waren. Durch ein kleines, mit starken Eisenstäben versehenes Loch drang spärliches Licht.

Erst glaubte er einen schlechten Traum gehabt zu haben, bald überzeugte er sich aber, daß er wirklich Gefangener war.

Obwohl er so viele Beweise seines außergewöhnlichen Mutes gegeben hatte, bekam er jetzt Furcht.

Er versuchte seine Gedanken zu sammeln, aber in seinem Geiste herrschte ein Wirrwarr, den er sich nicht erklären konnte. Er erinnerte sich schwach an Negapatnan, dessen Flucht, an die Limonade, aber an weiter nichts.

»Wer kann mich verraten haben?« fragte er sich schaudernd. »Was wird mit mir geschehen? Was bedeutet dieser Nebel, der meinen Geist umschleiert? Ob sie mich betrunken gemacht haben mit irgendeinem Getränk, das ich nicht kenne?«

Er versuchte, sich zu erheben, fiel aber zurück. Er hörte, wie sich eine Tür öffnete.

»Wer kommt hier herunter?« fragte er.

»Ich, Bhârata,« antwortete der Sergeant, indem er sich näherte.

»Endlich!« rief Tremal-Naik. »Du wirst mir jetzt erklären, warum ich hier als Gefangener sitze.«

»Weil wir jetzt wissen, daß du ein Thug bist.«

»Ich! – Ein Thug! – Du lügst!«

»Nein, du hast gesprochen, hast alles gestanden.«

»Du bist verrückt, Bhârata.«

»Nein, Saranguy, wir haben dir Youma zu trinken gegeben, und du hast alles eingestanden.«

Tremal-Naik schaute ihn erschrocken an. Er entsann sich der Limonade, die ihm der Kapitän angeboten hatte.

»Elende!« rief er verzweifelt.

»Willst du dich retten?« sagte Bhârata nach kurzem Schweigen. »So beichte alles, und der Kapitän wird dich vielleicht begnadigen.«

»Ich kann nicht; die Thugs würden das Weib töten, das ich liebe.«

»Höre mich an, Saranguy. Wir wissen jetzt, daß die Thugs ihren Sitz in Raimangal haben, wir möchten noch wissen, wieviel es sind, und wo sie leben. Wenn du es sagst, wer weiß, vielleicht wirst du nicht sterben.«

»Und was wollt ihr mit all' den Thugs machen?« fragte Tremal-Naik mit halb erstickter Stimme.

»Wir erschießen sie alle.«

»Auch wenn sich Frauen darunter befänden?«

»Die zuerst.«

»Aber ich habe ein Weib darunter, eine Geliebte!« rief Tremal-Naik verzweifelt. »Willst du, Tiger, sie töten! – Nein, ich werde nicht sprechen. Tötet mich, quält mich, übergebt mich der englischen Obrigkeit, macht mit mir, was ihr wollt, ich spreche nicht. Die Thugs sind zahlreich und mächtig, sie werden sich verteidigen und vielleicht die retten, die ich so geliebt habe und noch liebe.«

»Noch eine Frage. Wer ist dieses Weib?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Ist sie weiß oder kupferfarben?«

»Das sage ich dir nicht.«

»Es wird eine Schwärmerin sein, wie die anderen.«

Tremal-Naik antwortete nicht.

»Gut,« sagte der Sergeant. »In drei bis vier Tagen bringen wir dich nach Kalkutta.«

Lebhaft erregt schaute er dem Sergeanten nach, der wegging, dann blickte er nach dem Gitter.

»Diese Nacht muß ich fliehen,« murmelte er, »oder alles ist verloren.«

Der Tag verging ohne Zwischenfall. Die Sonne versank hinter den Wäldern, im Keller wurde es stockfinster. Tremal-Naik atmete auf. Drei Stunden verharrte er stillschweigend, da er fürchtete, daß jemand unverhofft eintreten könnte. Dann machte er sich daran, seine Flucht zu versuchen.

Die Indier sind im Fesseln von Menschen berühmt. Es gehört eine lange Übung dazu, um ihre verwickelten Knoten zu lösen. Zum Glück hatte Tremal-Naik außerordentliche Kraft und gute Zähne.

Mit einem Ruck zersprengte er einen Strick, der ihn hinderte, den Kopf zu beugen. Dann führte er, geduldig, ohne auf den Schmerz zu achten, eins der Handgelenke an den Mund und begann mit den Zähnen zu arbeiten. Es gelang ihm, den Strick durchzubeißen. Die andern Fesseln zu entfernen, war für ihn Sache eines Augenblicks.

Er erhob sich, streckte und dehnte die schmerzenden Glieder, näherte sich dem Gitter und schaute hinaus. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber am Himmel leuchteten die Sterne.

Kein Geräusch ließ sich draußen vernehmen. Kein menschliches Wesen ließ sich blicken.

Der Gefangene packte einen Gitterstab und schüttelte ihn wütend. Er bog sich, zerbrach aber nicht.

»Auf diesem Wege ist die Flucht unmöglich,« murmelte er.

Er schaute sich um, indem er nach irgendeinem Gegenstande suchte, mit dem er das Eisengitter durchbrechen könnte, fand aber nichts.

»Ich bin verloren,« murmelte er erschrocken. »Und doch will ich nicht sterben, will ich nicht in die Gruft steigen, jetzt, wo das Glück mir nahe ist.«

Er näherte sich der Tür, blieb aber sofort stehen. Ein leises Knurren, das von draußen kam, gelangte zu ihm.

Er drehte den Kopf nach dem Gitter und bemerkte eine dunkle Masse mit zwei grünlich leuchtenden Punkten.

Eine Hoffnung durchzuckte ihn.

»Darma! – Darma!« murmelte er mit vor Aufregung zitternder Stimme. »Ich bin gerettet! Jetzt fürchte ich weder den Kapitän, noch seinen Sergeanten.«

Er verließ das Gitter und lief in eine Ecke, wo er ein Stück Papier gesehen hatte. Er reinigte es, so gut es ging, biß sich in den Finger, daß das Blut vorkam, riß ein Stück Holz vom Pfahle und schrieb schnell, so gut es die Finsternis gestattete, folgende Zeilen:

 

»Ich bin verraten und im Gefängnis Negapatnans eingeschlossen worden. Helft mir sofort, sonst ist alles verloren.

Tremal-Naik.«

 

Er rollte das Papier zusammen, kehrte zum Gitter zurück und band das Schreiben dem Tiger mit einem Faden um den Hals.

»Lauf, Darma, kehr zu den Thugs zurück,« sagte er. »Dein Herr befindet sich in großer Gefahr.«

Der Tiger schüttelte den Kopf und sprang wie ein Pfeil von dannen.

Eine Stunde verging. Tremal-Naik, der sich krampfhaft an den Eisenstäben anklammerte, erwartete ängstlich die Rückkehr Darmas.

Plötzlich tauchte der Tiger in der Ebene auf und näherte sich mit mächtigen Sprüngen. Glücklicherweise konnte er das Gitter erreichen, ohne von der Wache entdeckt zu werden. Am Halse trug er ein großes Bündel, das Tremal-Naik nur mit Mühe durch die Eisenstäbe zwängen konnte.

Er öffnete es. Es enthielt einen Brief, einen Revolver, einen Dolch, Munition, einen Lasso und zwei Blumensträuße, die in zwei Kristallvasen eingeschlossen waren. Er öffnete den Brief, entfaltete ihn und las bei dem Mondlicht, das durch das Gitter fiel:

 

»Wir sind von einigen feindlichen Kompagnien umgeben. Einer der Unsern folgt Darma. Große Gefahren bedrohen uns, und deine Flucht ist nötig. Den Waffen füge ich zwei Blumensträuße bei. Die weißen schläfern ein, die roten heben die Wirkung der weißen auf. Schläfre die Wachen ein und halte die roten Blumen vor die Nase. Wenn du frei bist, schneidest du dem Kapitän den Kopf ab. Nagor wird dich seine Gegenwart durch den bekannten Pfiff wissen lassen und dir beistehen. Beeile dich!

Kougli.«

 

Ein anderer wäre vielleicht vor dem Inhalt des Briefes zurückgeschreckt, nicht so Tremal-Naik. In diesem Momente fühlte er sich so stark, daß er es auch ohne Nagors Hilfe mit den Einwohnern des Hauses aufgenommen hätte.

Er verbarg Waffen und Munition unter einem Erdhaufen und kehrte ans Gitter zurück.

»Geh, Darma,« sagte er. »Du befindest dich in großer Gefahr.«

Der Tiger entfernte sich. Kaum war er zwanzig Schritte weg, als man die Wachen schreien hörte:

»Der Tiger! – Der Tiger!«

Ein Schuß krachte hinter ihm. Aber das brave Tier hatte seinen Lauf verdoppelt und war bald verschwunden.

Man hörte eilige Schritte, und einige Indier blieben vor dem Gitter stehen.

»Hollah!« rief eine Stimme, an der Tremal-Naik sofort Bhârata erkannte. »Wo ist der Tiger?«

»Entflohen,« antwortete die Wache, die auf der Veranda stand.

»Ich wette hundert Rupien gegen eine, daß er ein Freund Saranguys ist. Schnell zwei Leute in den Keller, oder der Gauner entflieht uns.

Tremal-Naik hatte alles gehört. Er nahm die beiden Vasen, zerbrach sie, warf die weißen Blumen in die dunkelste Ecke, verbarg die roten auf der Brust und legte sich neben den Pfahl, indem er sich, so gut er konnte, wieder fesselte.

Es war Zeit. Zwei bewaffnete Soldaten traten mit einer harzigen Fackel ein.

»Ah!« rief einer. »Bist du noch da, Saranguy?«

»Halt den Schnabel, denn ich will schlafen,« sagte Tremal-Naik, indem er schlechte Laune heuchelte.

»Du kannst schlafen, mein Lieber, mit aller Gemütsruhe, denn wir werden Wache halten.«

Tremal-Naik zuckte mit den Achseln, lehnte sich an den Pfahl und schloß die Augen. Nachdem die beiden Soldaten ihre Fackel in ein Wandloch gestellt hatten, setzten sie sich auf den Boden, mit den Karabinern zwischen den Knieen.

Nach wenigen Minuten verspürte Tremal-Naik einen scharfen Geruch, der ihm, trotz der roten Blumen, die ebenso scharf, aber anders rochen, zu Kopfe stieg.

Er betrachtete die beiden Soldaten. Sie gähnten, daß man befürchten konnte, sie könnten sich die Kinnbacken auskugeln.

»Spürst du nichts?« fragte der jüngere Soldat nach kurzem.

»Doch,« antwortete sein Gefährte. »Mir ist's, als wenn ich –«

»Betrunken wäre, willst du sagen.«

»Wirklich so, und ich fühle einen unwiderstehlichen Drang, die Augen zu schließen.«

»Woher mag das kommen?«

»Ich wüßte nicht.«

Das Zwiegespräch verstummte. Tremal-Naik, der aufmerksam zuschaute, sah, wie sie nach und nach die Augen schlossen, wieder öffneten und abermals schlossen. Sie kämpften noch einige Minuten dagegen an, dann fielen sie zu Boden und schnarchten.

Das war der Augenblick, zu handeln. Tremal-Naik befreite sich von den Fesseln und erhob sich lautlos.

»Die Freiheit!« rief er.

Er nahm die Waffen, band die beiden Wächter und erstieg die Treppe.


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