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5. Kapitel.
Die Flucht des Thugs

Die Sterne begannen zu erbleichen, als Tremal-Naik, außer sich, erschüttert von jenem Zwiegespräch, das er mit dem Würger hatte, den Bengalow des Kapitäns Macpherson erreichte.

Ein Mann stand an der Türschwelle, gähnte und sog die frische Morgenluft ein. Es war der Sergeant Bhârata.

»Hollah, Saranguy!« rief er, indem er ihm entgegenging. »Woher kommst du, mein braver Jäger?«

»Aus der Dschungel,« antwortete Tremal-Naik, indem sich seine erregten Gesichtszüge glätteten.

»Nachts! Und allein? Hast du jemand getroffen?«

»Tiger, aber sie wagten nicht, sich zu nähern.«

»Und Menschen?«

Tremal-Naik fuhr zusammen. »Menschen!« rief er, Überraschung heuchelnd. »Menschen, nachts, mitten in der Dschungel?«

»Es sind welche da, Saranguy, und mehr als einer. Hast du von den Thugs gehört?«

»Die Menschen, die würgen?«

»Ja, jene mit dem Seidenlasso.«

»Und du sagst, daß welche hier sind?« fragte Tremal-Naik, Schrecken heuchelnd.

»Ja, und wenn sie dich erwischen, würgen sie dich.«

»Warum sind sie denn hier?«

»Kapitän Macpherson ist der gefährlichste Feind, den die Thugs haben. Wir machen ihnen den Krieg.«

»Den werde ich ihnen auch machen. Ich hasse diese Elenden.«

»Du sollst mit uns kommen, wenn wir die Dschungel abklopfen. Ich werde dir sogar die Wache über einen Würger anvertrauen, der in unsere Hände gefallen ist.«

»Ah!« rief Tremal-Naik, dem es nicht gelang, den Freudenblitz zu bändigen, der aus seinen Augen sprühte. »Ihr habt einen Thug gefangen? Wie heißt er?«

»Negapatnan.«

»Und ich soll über ihn wachen?«

»Ja, du wachst über ihn. Du bist stark und mutig, wir werden vielleicht deinen Mut nötig haben?«

»Wozu?« fragte Tremal-Naik unruhig.

»Der Kapitän wird irgendein grausames Mittel anwenden, um ihn zum Sprechen zu bringen.«

»Ich verstehe. Ich werde Kerkerwächter und leiste euch Hilfe bei den Martern.«

»Du bist sehr scharfsichtig. Komm, mein braver Saranguy.«

Sie betraten den Bengalow und stiegen auf die Terrasse. Kapitän Macpherson befand sich schon dort. Er lag auf einer kleinen Hängematte aus Kokosfasern und rauchte eine Zigarette.

»Bringst du etwas Neues, Bhârata?« fragte er.

»Nein, Kapitän. Ich bringe euch jedoch einen erbitterten Feind der Thugs.«

»Bist du, Saranguy, dieser Feind?«

»Ja, Kapitän,« antwortete Tremal-Naik mit wahrhaft natürlichem Hasse.

»Dann bist du uns willkommen. Ich mache dich aber darauf aufmerksam, daß man die Haut riskiert.«

»Wenn ich sie den Tigern aussetze, brauche ich die Menschen nicht zu fürchten.«

»Wie hat Negapatnan die Nacht zugebracht?« fragte Macpherson den Sergeanten.

»Er hat geschlafen, wie einer, der ein ruhiges Gewissen hat. Dieser Teufelskerl ist aus Eisen.«

»Aber er wird nachgeben. Geh und hole ihn, wir werden sofort mit dem Verhör beginnen.«

Der Sergeant entfernte sich und kehrte bald mit Negapatnan zurück, der fest gebunden war.

Der Thug war ganz ruhig, er lächelte sogar. Sein Blick heftete sich neugierig auf Tremal-Naik, der sich hinter den Kapitän gesetzt hatte.

»Nun, mein Lieber,« sagte Macpherson beißend, »wie hast du die Nacht zugebracht?«

»Ich glaube, besser als du,« antwortete der Würger.

»Und was hast du beschlossen?«

»Daß ich nichts verraten werde.«

Der Kapitän erbleichte, dann schoß ihm das Blut ins Gesicht.

»Das ist dein letztes Wort? Gib acht!«

»Das letzte.«

»Gut! Bhârata?«

Der Sergeant näherte sich.

»Ist ein Pfahl im Keller?«

»Ja, Kapitän.«

»Darauf wirst du diesen Menschen binden.«

»Gut, Kapitän.«

»Wenn ihn der Schlaf übermannt, weckst du ihn mit Nadelstichen. Wenn, er in drei Tagen nicht spricht, zerschlägst du ihm das Fleisch mit der Rute. Weigert er sich dann noch, gießt du ihm tropfenweise siedendes Öl auf die Wunden.«

»Verlaßt Euch auf mich, Kapitän! Hilf mir, Saranguy!«

Der Sergeant und Tremal-Naik schleppten den Würger weg, der sein Urteil hingenommen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken.

Sie stiegen eine sehr tiefe Wendeltreppe hinab und kamen in ein geräumiges Kellergewölbe, das durch eine eiserne Gittertür erleuchtet wurde.

In der Mitte befand sich ein Pfahl, an den sie den Würger banden. Bhârata legte vier lange, spitze Nadeln zurecht.

»Wer wacht?« fragte Tremal-Naik.

»Du, bis heute abend. Dann wird dich ein Soldat ablösen.«

»Gut.«

Der Sergeant erstieg die Treppe wieder. Tremal-Naik folgte ihm mit den Blicken soweit er konnte. Als das Geräusch verstummte, setzte er sich vor den Würger, der ihn ruhig anschaute.

»Höre,« sagte Tremal-Naik leise.

»Hast du mir auch etwas zu sagen?« fragte Negapatnan höhnisch.

»Kennst du Kougli?«

Bei jenem Namen zuckte der Würger zusammen.

»Kougli!« rief er. »Ich kenne ihn nicht.«

»Du bist vorsichtig, gut. Kennst du Suyodhana?«

»Wer bist du?« fragte Negapatnan, sichtbar erschrocken.

»Ein Würger, wie du einer bist, wie Kougli und Suyodhana.«

»Du lügst.«

»Ich gebe dir den Beweis, daß ich die Wahrheit rede. Unser Sitz ist weder in der Dschungel, noch in Kalkutta, noch an den Ufern des heiligen Stromes, sondern in den unterirdischen Gängen von Raimangal.«

Der Gefangene hielt mit Mühe einen Schrei zurück.

»Aber warum bist du hierher gekommen?«

»Um dich zu retten.«

»Mich retten? Wie?«

»Überlaß das mir! Vor Mitternacht wirst du frei sein.«

»Fliehen wir zusammen?«

»Nein, ich bleibe hier, ich habe noch einen anderen Auftrag auszuführen.«

»Einen Racheakt?«

»Vielleicht,« sagte Tremal-Naik düster. »Jetzt Ruhe, erwarten wir die Dunkelheit.«

Er verließ den Gefangenen, setzte sich an die Treppe und erwartete geduldig die Nacht. Der Tag verging langsam. Endlich verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Im Keller wurde es stockfinster. Das war der günstige Moment. In knapp einer Stunde mußte der Soldat kommen.

»Ans Werk,« sagte Tremal-Naik aufspringend, indem er zwei englische Feilen aus dem Gürtel zog. »Du mußt mir helfen. Wir durchfeilen das Eisengitter.«

»Sie werden aber merken, daß du mir bei der Flucht geholfen hast.«

»Nichts werden sie merken.«

Er band die Stricke auf, die den Gefangenen am Körper, an den Händen und beiden Beinen schnürten, und beide durchfeilten dann leise das Eisengitter.

Drei Stäbe waren schon heraus, nur einer fehlte noch, als Tremal-Naik ein Scharren hörte, das von der Treppe kam.

»Halt ein!« sagte er schnell. »Es kommt jemand.«

»Der Soldat vielleicht?«

»Kannst du den Lasso werfen?«

»Nie fehlte ich.«

Tremal-Naik machte den Lasso los, den er unter seinem Dubgah verborgen um den Körper trug, und gab ihn ihm.

»Stell dich neben die Tür,« sagte er, indem er den Dolch zog. »Töte den ersten, der kommt!«

Negapatnan gehorchte und nahm den Lasso in die rechte Hand. Tremal-Naik stellte sich mit erhobenem Dolche vor ihn, hinter den Türpfosten.

Das Geräusch kam näher. Plötzlich erleuchtete ein Licht die Treppe. Ein Soldat erschien mit gezücktem Schwerte.

»Achtung, Negapatnan,« lispelte Tremal-Naik.

Das Gesicht des Thugs wurde furchtbar. Die Augen leuchteten tückisch, die Lippen öffneten sich halb, seine Nasenflügel bebten. Wie ein blutdürstiges Raubtier sah er aus.

Der Soldat blieb auf der letzten Stufe stehen.

»Saranguy!« rief er.

»Komm herunter,« sagte Tremal-Naik. »Man sieht hier nichts mehr.«

»Gut,« antwortete er und überschritt die Kellerschwelle.

Negapatnan stand dort. Der Lasso pfiff durch die Luft und schlang sich so fest um den Hals des Soldaten, daß er ohne Schrei zu Boden stürzte.

»Soll ich ihn erwürgen?« fragte der Thug, indem er einen Fuß auf die Brust des Gefallenen setzte.

»Es ist nötig,« sagte Tremal-Naik kalt.

Negapatnan zog den Lasso fester. Die Zunge des Soldaten kam aus dem Munde, die Augen traten aus ihren Höhlen, seine braune Haut wurde schwarz. Einen Augenblick fuhr er mit den Händen umher, dann lag er bewegungslos da. Er war tot.

»Damit die Göttin Kali ihr Blut habe,« sagte der Fanatiker, indem er den Lasso löste.

»Beeilen wir uns, bevor ein anderer kommt.«

Das Gitter wurde wieder bearbeitet und der vierte Stab herausgebrochen.

»Wirst du durchkommen?« fragte Tremal-Naik.

»Und wenn es enger wäre, käme ich hindurch.«

»Gut. Jetzt binde mich und leg mir einen Knebel an, damit man keinen Verdacht hegt, daß ich einer von den deinen bin.«

»Ich verstehe dich. Du bist durchtriebener als ich.«

Tremal-Naik warf sich neben die Leiche des Soldaten, Negapatnan band und knebelte ihn.

»Du bist ein tüchtiger Mensch,« sagte der Thug. »Wenn du eines Tages einen treuen Freund brauchst, denke an mich. Leb wohl.«

Er nahm die Pistolen des Soldaten, schlich ans Gitter, schlüpfte hindurch und verschwand.

Keine zehn Sekunden vergingen, als ein Schuß krachte und eine Stimme rief:

»Zu den Waffen! Ein Mann flieht!«


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