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Zweiter Teil.
Tremal-Naiks Sieg


1. Kapitel.
Der Kapitän Macpherson

Es war eine prächtige Augustnacht, eine wahrhaft tropische Nacht. Die Luft war lauwarm und durchdrungen vom lieblichen Geruch des Jasmins, des Mussenda und Nagatampo. Oben ein klarer, dunkelblauer Himmel mit unzähligen, schimmernden Sternen, die fantastisch den Huglistrom erleuchteten, der sich wie ein gewaltiges, silbernes Band durch das endlose Flachland des Gangesdelta zog.

Marabuschwärme flogen über den Fluß und ruhten zuweilen auf dem einen oder anderen Ufer zu Füßen der Kokospalmen, Bananen und Tamarinden aus, die sich graziös über das Wasser bogen.

Ein feierliches, geheimnisvolles Schweigen herrschte überall, nur zuweilen von einem leichten Windstoße unterbrochen, der über die Bäume rauschte, oder vom Heulen des Schakals, dem Krächzen der Raben und Marabus, die am Flußufer Nahrung suchten.

Obwohl die Stunde schon weit vorgeschritten war und die Schatten jener Nacht tausend Gefahren bargen, lag am Fuße einer großen Tamarinde ein Mensch.

Er konnte etwa 35 Jahre alt sein und trug die reich mit Gold und Silber gestickte Uniform eines Schutztruppenkapitäns. Er war groß, kräftig, seine Haut gebräunt, aber bedeutend weniger, als die der Indier. Man erkannte sofort den Europäer, der lange Jahre der Hitze der tropischen Sonne ausgesetzt gewesen war.

Sein Gesicht war streng, von einem langen, schwarzen Barte umrahmt, seine Stirn trug zahlreiche Falten. Seine großen, träumerischen Augen leuchteten zuweilen auf.

Er regte sich nicht, nur von Zeit zu Zeit erhob er den Kopf, spähte nach dem Strome hinüber und machte eine Gebärde von Ungeduld.

Eine halbe Stunde war schon vergangen, als in der Ferne ein Schuß krachte. Der Kapitän griff mit der Rechten nach einem reich mit Silber und Perlmutter verziertem Karabiner, sprang auf die Füße und stieg zum Ufer hinab, indem er sich an den Wurzeln der Tamarinden anhielt, die wie Schlangen aus dem Erdreich hervorragten. Im Norden war ein schwarzer Punkt aufgetaucht, der sich nach und nach näherte; um ihn herum glitzerte das Wasser, als wenn es von Rudern geschlagen würde.

»Das sind sie,« murmelte er.

Er hob den Karabiner über den Kopf und drückte ab. Der Schuß krachte, ein dritter antwortete.

»Es geht alles glatt,« versetzte der Kapitän. »Diesmal hoffe ich, etwas zu erfahren.«

Eine schmerzliche Erregung drückte sich in seinen Gesichtszügen aus, aber schnell wie der Blitz war sie vorbei.

Er betrachtete abermals den schwarzen Punkt. Er wurde schon größer und schien ein Boot zu sein, das unter dem Drucke von etwa sechs Rudern eilig dahinschoß. An Bord befanden sich sieben oder acht bewaffnete Männer.

In zehn Minuten erreichte das Boot, das von sechs Indiern gerudert und von einem Sergeant der Schutztruppe gesteuert wurde, auf wenige Armeslängen das Ufer. Noch ein paar kräftige Ruder schlage, und es fuhr sich im Gebüsch fest.

Der Sergeant sprang ans Land und grüßte militärisch.

»Führt das Boot in die kleine Bucht,« sagte der Kapitän zu den lndiern. »Und du, Bhârata, kommst mit mir.«

Der Kapitän ging mit dem Indier unter die Tamarinde, beide setzten sich ins Gras.

»Sind wir allein, Kapitän Macpherson?« fragte der Sergeant.

»Vollständig allein,« antwortete der Kapitän. – »Du kannst alles erzählen, ohne zu fürchten, daß andere es hören.«

»In einer Stunde wird Negapatnan hier sein.«

Eine Blutwelle rötete das Gesicht des Kapitäns.

»Haben sie ihn also gefangen?« rief er lebhaft erregt. »Ich glaubte, sie hätten mich getäuscht.«

»S' ist tatsächlich so, Kapitän. Der Elende war seit einer Woche im Keller der Festung William eingesperrt.«

»Sind sie sicher, daß es ein Würger ist?«

»Ganz sicher, sogar einer von den mächtigsten Häuptlingen.«

»Hat er nichts gestanden?«

»Nichts, Kapitän, trotzdem sie ihn hungern und dursten ließen.«

»Wie wurde er gefangen?«

»Der Schurke hatte sich in der Nähe der Festung William versteckt und erwartete dort seine Beute. Sechs Soldaten waren schon unter seinem unfehlbaren Lasso gefallen. Man fand ihre Leichen nackt, mit jener geheimnisvollen Tätowierung auf der Brust. Kapitän Hall brach vor etwa sieben Tagen mit einigen Soldaten auf, um den Mörder aufzuspüren. Nach zweistündigem, fruchtlosen Suchen machte er im Schatten eines Gebüsches Rast, um etwas auszuruhen. Plötzlich fühlte er einen Lasso über seinen Kopf fallen, der ihm den Hals zuschnürte. Er sprang auf, packte den Strick und stürzte sich auf den Würger, indem er um Hilfe rief. Die Soldaten waren ganz in der Nähe. Sie fielen über den Indier, der sich wütend verteidigte und wie ein Löwe brüllte, und packten ihn.«

»Und in einer Stunde wird jener Mensch hier sein?« fragte der Kapitän Macpherson.

»Ja, Kapitän,« antwortete Bhârata. »Wollt Ihr etwas von ihm wissen?«

»Ja,« rief der Kapitän, indem sich sein Gesicht verfinsterte.

»Ihr habt irgendeinen herben Schmerz, Kapitän Macpherson, den Ihr mir zu verbergen sucht,« sagte der Sergeant. »Warum erzählt Ihr mir nicht alles? Vielleicht könnte ich Euch dann nützlicher sein.«

»Du sollst alles wissen,« antwortete Macpherson, indem er ihm kräftig die Hand drückte.

Er erhob sich, tat einige Schritte und setzte sich wieder neben den Sergeanten. Eine Träne rollte ihm über die verbrannte Wange.

»Es war im Jahre 1853,« sagte er, indem er sich vergebens zwang, ruhig zu scheinen. »Meine Frau war vor Jahren an der Cholera gestorben und hatte mir ein Mädchen zurückgelassen, schön wie ein rosa Röschen, mit schwarzen Haaren und großen, sanften Augen, die wie Diamanten leuchteten. Ich erinnere mich noch, wie sie in den schattigen Parkwegen umhersprang und die Schmetterlinge verfolgte, erinnere mich noch an jene Abende, wenn sie bei mir saß, unterm Schatten einer großen Tamarinde, und Lieder von meinem fernen Schottland sang. Oh! wie glücklich war ich zu jener Zeit – Ada, meine arme Ada!«

Tränen erstickten seine Stimme. Einige Minuten barg er den Kopf zwischen den Händen, und Bhârata hörte ihn schluchzen wie ein Kind.

»Eines Morgens,« fuhr er fort, »war ganz Kalkutta im Banne höchsten Entsetzens. Die Thugs oder Würger, oder wie man sie nennen mag, hatten an Mauern und Baumstämmen den Einwohnern bekanntgegeben, daß ihre Göttin ein Mädchen für ihren Tempel verlange. Ohne zu wissen, warum, wurde ich von einer großen Furcht ergriffen. Ich ließ Ada denselben Abend noch einschiffen und hinter die Mauern der Festung William bringen, sicher, daß die Thugs bis dahin nicht gelangen würden. Drei Tage darauf, ich traute meinen Augen kaum, erwachte Ada mit der Tätowierung der Würger auf dem Arm.«

»Ah!« rief Bhârata, indem er blaß wurde. »Und wer tätowierte sie?«

»Das erfuhr ich nie.«

»Haben sie vielleicht unter unseren Soldaten Anhänger?«

»Ihre Sekte ist riesengroß, Bhârata. In ganz Indien haben sie Mitglieder, auf dem malaiischen Archipel, sogar in China. Ich, der ich bis dahin die Furcht nicht kannte, an jenem Tage verspürte ich sie. Ich verstand, daß meine Tochter von ihrer Göttin erwählt worden war und verdoppelte die Wache. Wir aßen zusammen, ich schlief im Nebenzimmer, hatte Wächter, die Tag und Nacht vor unserer Türe wachten. Alles war vergebens; in einer Nacht verschwand meine Tochter.«

»Eure Tochter verschwand? Aber wie?«

»Ein Fenster war herausgenommen, und so waren die Würger eingetreten und hatten sie geraubt. Die Anhänger hatten ein Schlafmittel in unseren Wein geschüttet, und niemand hörte noch bemerkte etwas.«

Der Kapitän schwieg, aufs äußerste erregt.

»Ich suchte sie jahrelang,« fuhr er nach kurzem, schmerzlichen Schweigen fort, »aber es gelang mir nicht einmal, die Spuren zu finden. Die Würger hatten sie in ihr unerreichbares Lager geschleift. Ich wechselte meinen Namen und nannte mich Macpherson, um besser gegen sie vorgehen zu können und unternahm einen blutigen Feldzug gegen sie. Hunderte jener Menschen fielen mir in die Hände. Unter den schrecklichsten Qualen ließ ich sie sterben, da ich hoffte, ihnen ein Geständnis abzuringen, das mich auf die Spuren meiner armen Ada brächte, aber alles war vergebens. Vier lange Jahre sind verflossen und noch ist meine Tochter in ihren Händen.«

Der Kapitän hielt sich nicht mehr, zum zweiten Male brach er in Schluchzen aus.

In der Ferne ertönte ein Trompetenstoß. Schnell erhoben sich beide und liefen zum Fluß.

»Da sind sie!« rief Bhârata.

Wilde Freude blitzte aus Kapitän Macphersons Augen. Er stieg zum Ufer hinab und entdeckte ein großes Kanoe, das mit großer Schnelligkeit den Fluß herunter kam. An Bord befanden sich einige Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett auf dem Karabiner.

»Siehst du's?« fragte er mit aufeinandergebissenen Zähnen.

»Ja, Kapitän,« antwortete Bhârata. »Er sitzt in Ketten gelegt auf dem Hinterschiff zwischen zwei Soldaten.«

»Schnell! Schnell!« schrie der Kapitän.

Das große Boot verdoppelte seine Schnelligkeit und landete neben dem Kapitän. Sechs stramme, gebräunte Soldaten mit reich vergoldetem Helm und silbernen Besätzen an Hals und Armen, stiegen aus.

Hinter diesen sprangen noch zwei Soldaten ans Land, die den Würger Negapatnan fest bei den Armen gepackt hielten.

Es war dies ein ungefähr sechs Fuß hoher, magerer, gewandter Indier. Sein Gesicht war grausam, bärtig, kupferfarbig. Seine kleinen Augen schillerten wie die einer zornigen Schlange.

Mitten auf der Brust trug er, umgeben von vielen unleserlichen Zeichen, blau tätowiert, die Schlange mit dem Frauenkopf. Ein kleines, gelbes Seiden-»Dubgah« umgürtete seine Hüften, und ein ebenfalls gelber Seidenturban mit einem nußgroßen Diamanten bedeckte sein glattrasiertes, mit Kokosnußöl eingeriebenes Haupt.

Als er den Kapitän Macpherson erblickte, fuhr er zusammen.

»Kennst du mich?« fragte der Kapitän, dem diese Bewegung nicht entgangen war.

»Du bist der Vater der Jungfrau des heiligen Tempels,« antwortete der Indier.

Der Kapitän wurde blutrot.

»Ah! Du weißt das!« rief er.

»Ja, ich weiß, daß du Kapitän Harry Corishant bist.«

»Nein, der Kapitän Harry Macpherson.«

»Ja, weil du den Namen gewechselt hast.«

»Weißt du, warum ich dich hierher habe führen lassen?«

»Ich vermute, um mich zum Sprechen zu bringen. Das wird aber ein vergeblicher Versuch sein.«

»Das ist meine Sache. Zur Villa, meine Tapferen, und seid auf der Hut! Die Thugs können in der Nähe sein.«

Der Kapitän Macpherson nahm den Karabiner, lud ihn und setzte sich an die Spitze der kleinen Kolonne, indem er einem Pfade folgte, der durch einen »Nagatampen«-Wald führte. »Nagatampen« sind prächtige Bäume, mit deren Blüten sich die Vornehmen Bengalens schmücken. Eine viertel Meile waren sie schon gewandert, ohne etwas zu finden, als sie das laute Heulen eines Schakals hörten.

Der Würger Negapatnan hob bei diesem Schrei lebhaft den Kopf und warf einen schnellen Blick unter das Gebüsch. Die Soldaten, die neben ihm liefen, ließen einen leisen Ausruf hören.

»Achtung, Kapitän,« sagte Bhârata. »Der Thug hat etwas entdeckt.«

»Vielleicht die Gegenwart von Freunden?«

»Es kann sein.«

Dasselbe Schreien ließ sich hören, aber lauter als das erste Mal. Der Kapitän Macpherson wandte sich zur Rechten des Pfades.

»Donner und Blitz!« rief er. »Das ist kein Schakal.«

»Achtung,« wiederholte der Sergeant. »Das ist ein Zeichen.«

»Beschleunigen wir den Schritt.«

Die Schar schritt weiter und richtete die Karabiner nach beiden Seiten des Pfades.

Nach zehn Minuten kamen sie ohne Zwischenfall am Landsitz des Kapitäns Macpherson an.


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