Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Zwanzig Tage waren vergangen. Dank seiner kräftigen Natur und der unverdrossenen Fürsorge seiner Gefährten, genas Tremal-Naik rasch. Die Wunde hatte sich nunmehr geschlossen, er konnte wieder aufstehen. Während er jedoch wieder zu Kräften kam, wurde der Indier immer verschlossener und unruhiger. Manchmal überraschten ihn seine Gefährten, wie er mit dem Gesicht zwischen den Händen mit feuchten Wangen dasaß, als wenn er geweint hätte. Er sprach nur selten und gestand keinem etwas von dem Schmerze, der ihn bedrückte.
Mantschadi, der Bengalese, gesellte sich manchmal zu ihm, um irgendetwas auszurichten. Aber dies geschah ziemlich selten. Er schien vielmehr die Gegenwart des Verwundeten zu meiden, fast als wenn er irgendetwas zu befürchten hätte.
Er trat nur in dessen Zimmer, wenn er ihn schlafen sah und dann fast mit Widerwillen. Es gefiel ihm besser, die Dschungel nach Wild zu durchstreifen, Holz zu sammeln oder Wasser zu schöpfen. Seltsam, jedesmal, wenn er den Herrn »Ada« flehen hörte, ergriff ihn ein merkwürdiges Zittern, und sein sonst ruhiges Gesicht verzerrte sich plötzlich und wechselte sogar die Farbe.
Am Morgen des einundzwanzigsten Tages ereignete sich bei der Hütte ein Vorfall, der verhängnisvolle Folgen haben sollte.
Kammamurri war beim ersten Sonnenstrahle aufgestanden. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß Tremal-Naik ruhig schlief, begab er sich zur Tür, um Mantschadi zu wecken, der draußen unter einem kleinen Bambusrohrdach ruhte. Er schob den Riegel zurück und drückte gegen die Tür. Zu seiner Überraschung öffnete sie sich aber nicht, draußen war irgendein Hindernis.
»Mantschadi!« rief der Maharatt.
Niemand antwortete. Dem Maharatt kam der Verdacht, daß dem Ärmsten ein Unglück zugestoßen sein könnte, daß Feinde ihn erwürgt oder Tiger ihn zerrissen hätten.
Er blickte durch eine Türritze und bemerkte, daß der hindernde Gegenstand ein menschlicher Körper war. Er betrachtete denselben genauer und erkannte den Bengalesen Mantschadi.
»Oh!« rief er erschrocken aus. »Aghur!«
Der Indier eilte auf den Ruf des Gefährten schleunigst herbei.
»Aghur,« fragte der Maharatt, »hast du nichts in dieser Nacht gehört?«
»Nein. Warum?«
»Sie haben Mantschadi ermordet! Er liegt hier vor der Tür.«
»Darma hat kein Zeichen gegeben, ebenso wenig Punthy.«
»Und doch muß er tot sein. Er antwortet nicht, noch bewegt er sich.«
»Gehen wir hinaus, drücke kräftig!«
Er stemmte eine Schulter gegen die Tür und schob Mantschadi zurück. Nachdem sie sich so einen Durchgang verschafft hatten, sprangen die Indier ins Freie.
Der arme Bengalese lag auf dem Gesicht und schien tot zu sein, obgleich keine Wunde an seinem Körper zu sehen war. Kammamurri legte die Hand auf seine Brust und fühlte das Herz noch schlagen.
»Er ist in Ohnmacht gefallen,« sagte er.
Von einem Pfauenfächer riß er eine Feder, steckte sie in Brand und näherte sie den Nasenlöchern des Ohnmächtigen. Bald hob ein Seufzer die Brust. Dann bewegten sich Beine und Arme, und endlich öffneten sich die Augen, die sich bestürzt auf die beiden Indier richteten.
»Was ist dir zugestoßen?« fragte Kammamurri eilig.
»Ihr seid es!« rief der Bengalese hastig. »Ah! – Die Angst! – Ich glaubte, durch den Schlag getötet zu werden.«
»Aber, was hast du denn gesehen? Wer versuchte, dich zu töten? Menschen vielleicht?«
»Menschen? – Wer spricht von Menschen?« Es waren keine Menschen,« sagte der Bengalese, »es war ein Elefant!«
»Ein Elefant?« riefen die beiden Indier. »Ein Elefant hier? Und er näherte sich dir?« fragte Aghur.
»Ja, und wenig fehlte, so zerschlug er mir den Schädel. Ich schlief tief, als ich von einem mächtigen Schnaufen geweckt wurde. Ich öffnete die Augen und sah über mir den gewaltigen Kopf des Ungeheuers. Ich versuchte, aufzustehen, um zu fliehen, aber der Rüssel schlug mich auf den Schädel und fesselte mich am Boden. Der Schlag war so stark, daß ich ohnmächtig wurde.«
»Um welche Zeit geschah das?«
»Ich weiß es nicht, weil ich eingeschlafen war.
»Das ist seltsam,« sagte der Maharatt. »Und Punthy bemerkte nichts.«
»Was tun wir?« fragte Aghur, indem er einen funkelnden Blick auf die Dschungel warf. »Wollen wir ihn verfolgen? Und warum nicht? Wir haben gute Karabiner!«
»Ich bin bereit mitzuhelfen,« antwortete Mantschadi.
»Aber wir können den Herrn nicht allein lassen, obwohl er völlig wiederhergestellt ist,« bemerkte Kammamurri. »Ihr wißt, daß eine Gefahr uns immer bedroht!«
»Du bleibst hier, und wir gehen auf die Jagd,« unterbrach Aghur. »Mit einem so gefährlichen Nachbar kann man nicht ruhig leben.«
»Wenn ihr Mut genug habt, ich lasse euch freien Lauf.«
»So ist's recht!« sagte Aghur. »Laß uns das tun und du wirst sehen, daß der Riese vor Mittag unser ist.«
Er ging in die Hütte, um zwei Karabiner von schwerem Kaliber zu holen, und gab einen dem Bengalesen. Sie bewaffneten sich außerdem mit kleinen Pistolen, genügend Munition und einem langen Messer und traten entschlossen in die Dschungel, indem sie einem kleinen, im Bambus vor gezeichneten Pfade folgten.
Aghur war lustig und redete. Der Bengalese hingegen war zurückhaltend und blieb öfters stehen, um seinen Gefährten zu betrachten, der ihm einige Schritte voranging. Manchmal beugte er sich zur Erde und lauschte, indem er vorgab, die Spuren des Elefanten zu suchen.
Dieser plötzliche Wechsel, diese Blicke und Bewegungen entgingen Aghur nicht, der glaubte, daß der Bengalese Furcht habe.
»Mut, Mantschadi!« sagte er lustig. »Glaub' nicht, daß es so schwierig ist, einen Elefanten zu besiegen, wenn er auch einen Rüssel hat. Eine Kugel ins Auge, und er ist unser.«
»Ich habe keine Furcht,« antwortete der Bengalese barsch, indem er sich vergeblich zwang, seine Lippen zum Lächeln zu bringen. »Es ist nicht der Elefant, was mich beunruhigt.«
»Was denn?«
»Aghur,« sagte Mantschadi in seltsamem Tone. »Hast du Furcht vor dem Tode?«
»Ob ich Furcht vor dem Tode habe? Warum stellst du mir diese Frage? Ich habe nie vor etwas Angst gehabt!«
»Um so besser!«
»Ich verstehe dich nicht!«
»In einigen Stunden wirst du mich verstehen. Ruhe und vorwärts!«
»Er ist verrückt,« dachte Aghur, »oder halb tot vor Angst.«
Die beiden Indier beschleunigten trotz der brennenden Sonne und der Hindernisse, die den Pfad versperrten, ihre Schritte und erreichten eine Stunde später ein kleines Wäldchen.
Als sie hier angelangt waren, hub Mantschadi zur großen Überraschung seines Gefährten ein schwermütiges Lied zu pfeifen an, das dieser nie in der Dschungel gehört hatte.
»Was machst du?« fragte ihn Aghur.
»Ich pfeife,« antwortete Mantschadi ruhig.
»Du wirst den Elefanten verscheuchen!«
»Im Gegenteil, ich ziehe ihn an. Die Elefanten lieben die Musik und laufen herbei, wenn sie sie hören. Weißt du, wo sich hier ein Weiher befindet?«
»Ganz in der Nähe.«
»Gehen wir hin!«
Aghur gehorchte, obgleich ihm alldies ziemlich seltsam vorkam. Er folgte einem kaum sichtbaren Pfade und führte seinen Gefährten an die Ufer eines kleinen Weihers, der von zertrümmerten Steinen und Ruinen einer antiken Pagode umgeben war.
»Du bleibst hier,« sagte der Bengalese. »Ich durchsuche den Wald nach dem Elefanten, denn hier muß er verborgen sein.«
Er nahm den Karabiner unter den Arm und entfernte sich, ohne ein Wort hinzuzufügen. Als Mantschadi überzeugt war, weder gehört noch gesehen zu werden, begann er tüchtig zu laufen und machte erst am Fuße eine Palme halt, auf deren Stamm man das geheimnisvolle Symbol der Indier von Raimangal roh eingeschnitten sah.
»Jetzt komme ich an die Reihe,« sagte er. »Dieser Wald wird sein Grab sein!«
Er richtete sich auf, so lang er war, und stieß einen Pfiff aus. Ein gleiches Zeichen antwortete ihm, und einige Minuten später erschien im Dickicht zweier Büsche die Gestalt Suyodhanas.
Er kreuzte die Arme auf der Brust, die mit Frauenkopf und Schlange geschmückt war, und musterte Mantschadi mit scharfen Blicken.
»Sohn der heiligen Gangeswasser, sei willkommen!« sagte der Bengalese, indem er mit der Stirn den Boden berührte.
»Nun?« fragte Suyodhana kurz.
»Wir sind besiegt! Tremal-Naik lebt!«
Suyodhana beugte den Kopf auf die Brust und versank in düsteres Nachdenken.
»Mantschadi!« sagte er kurz darauf, »er muß sterben! Die ›Jungfrau der heiligen Pagode‹ liebt ihn noch und wird nicht aufhören, ihn zu lieben, solange er lebt!«
»Wird sie an seinen Tod glauben?«
»Ich werde ihr Beweise geben!«
»Was soll ich tun? Soll ich ihn vergiften?«
»Nein, Gift tötet nicht immer, dafür gibt es Gegengifte.«
»Soll ich ihn erwürgen? Ich habe mein Lasso!«
»Seien wir vorsichtig! Hast du alles ausgeführt, was ich dir befahl?«
»Ja, ›Sohn der heiligen Gangeswasser‹! Aghur erwartet mich bei dem Weiher.«
»Gut, du wirst ihn töten!«
»Und dann?« fragte der Fanatiker mit eisiger Ruhe.
»Dann kehrst du zur Hütte zurück und erzählst Kammamurri, daß Aghur ermordet wurde. Er wird dir glauben und sich beeilen, ihn aufzusuchen. Den Rest verstehst du.«
»Und wenn ich Tremal-Naik erwürgt habe, was tue ich dann?«
»Dann folgst du mir nach Raimangal! Geh!«
Mantschadi berührte nochmals den Boden mit der Stirn und entfernte sich dann. Er durchquerte langsam den Wald und erreichte den Weiher, neben dem das künftige Opfer, mit dem Karabiner auf den Knien, dasaß.
»Hast du den Elefanten gesehen?« fragte Aghur.
»Noch nicht, aber seine Spuren habe ich entdeckt,« sagte der Mörder, indem er ihn mit falschen Augen betrachtete.
»Was hast du, daß du mich so anschaust?« fragte Aghur.
»Aghur,« antwortete Mantschadi, »erinnerst du dich noch, was ich dir vor einer Stunde sagte?«
»Du sprachst vom Tode? Ich entsinne mich.«
Mantschadi öffnete das Gewand, das ihn bedeckte, und entblößte seine Brust, die mit der Schlange mit Frauenkopf tätowiert war.
»Was ist das?« fragte Aghur.
»Das Symbol des Todes!«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Um so schlimmer für dich!«
Der Bengalese löste den Lasso, den er unterm Gewand verborgen hielt, und ließ ihn um seinen Kopf schwirren.
»Aghur!« schrie er, »Suyodhana hat dich verdammt, und du mußt sterben!«
Der Indier begriff nun alles. Mit dem Karabiner in der Hand sprang er auf. Aber ihm fehlte die Zeit, um auf den Verräter anzulegen. Ein Pfeifen durchschnitt die Luft, und der Ärmste wurde vom Lasso an der Kehle geschnürt, von dessen Bleikugel im Nacken getroffen und zu Boden gerissen.
»Mörder!« brachte er gepreßt hervor.
Der Fanatiker zog den Strick kräftig an und erstickte die Stimme des Opfers. Dann warf er sich über ihn und durchbohrte ihn mit dem Dolch. Aghur stieß ein rauhes Stöhnen hervor. Sein Antlitz war aschfarben. Die Augen sprangen ihm aus den Höhlen. Er versuchte, sich zu erheben, fiel aber zurück.
»Das ist einer!« sagte der Fanatiker.
»Denken wir jetzt an die andern!«
Und er entfernte sich schnellen Schrittes, während ein Schwarm Marabus auf den noch warmen Körper des unglücklichen Aghur niederfiel.