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6. Kapitel.
Die Limonade, die die Zunge löst

Bei jenem Rufe hatte sich Tremal-Naik auf die Kniee erhoben. Er war lebhaft beunruhigt.

Mehrere Schüsse wurden noch abgefeuert. Im Bengalow erhob sich ein großes Geschrei, das den Schlangenjäger zittern machte.

»Zu den Waffen!«

»Zum Elefanten! Zum Elefanten!«

»Alle heraus!«

Tremal-Naik, dem große Schweißtropfen über die Stirne liefen, lauschte und hielt den Atem zurück.

»Sie kommen,« murmelte er, indem er sich rasch auf den Boden warf. »Jetzt kaltes Blut und Mut. Wer weiß, vielleicht gelingt es Negapatnan, Kouglis Hütte zu erreichen.«

Er schlug um sich, als wenn er sich von den Stricken befreien wollte, und stöhnte. Es war Zeit.

Bhârata kam die Stufen herunter. Er stürzte sich in den Keller, und stieß einen schrecklichen Schrei aus.

»Entflohen – Entflohen?« schrie er, außer sich.

Er warf einen bestürzten Blick um sich und sah Tremal-Naik, der sich am Boden wand und dumpfe Töne ausstieß. Mit einem Sprunge war er bei ihm.

»Er lebt!« rief er, indem er ihm den Knebel herausriß.

»Die verdammten Thugs!« röchelte Tremal-Naik halb erstickt. »Wo ist er? Daß ich ihm das Herz herausreiße!«

»Was ist vorgefallen? – Wie entfloh er? – Wie haben sie dich gebunden? Sprich, Saranguy, sprich,« sagte Bhârata außer sich.

»Wir sind hintergangen worden. Mächtiger Brahma! Wie ein Dummer bin ich in die Falle gegangen!«

»Drück dich deutlicher aus, vorwärts, mir stockt das Blut in den Adern. Wie gelang ihm die Flucht? Wer brach die Eisenstäbe heraus?«

»Die Thugs. Es war alles zur Flucht vorbereitet.«

»Das verstehe ich nicht. Es ist unmöglich, daß die Thugs bis hierher gekommen sind.«

»Und doch sind sie dagewesen. Ich habe sie mit eignen Augen gesehen, und wenig fehlte, so hätten sie mich gewürgt wie jenen Soldaten.«

»Einen Soldaten haben sie erwürgt?«

»Ja, den, der die Wache ablösen sollte.«

»Erzähle schnell, Saranguy, wie kam das alles?«

»Die Sonne war untergegangen,« sagte Tremal-Naik, »ich saß vor dem Gefangenen, der keinen Blick von mir wandte. Drei Stunden vergingen, ohne daß wir uns bewegten. Plötzlich fielen mir die Augen zu, eine Schläfrigkeit bemächtigte sich meiner, daß ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Ich kämpfte lange dagegen an, dann fiel ich, ich weiß nicht wie, zurück und schlief ein. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich gebunden und geknebelt. Die Stäbe des Eisengitters lagen an der Erde. Zwei Thugs waren eben dabei, den armen Soldaten zu würgen. Ich versuchte, um mich zu schlagen, zu schreien, es war unmöglich. Nachdem die Thugs den Mord vollführt hatten, zwängten sie sich durchs Gitter und verschwanden.«

»Und Negapatnan?«

»Entfloh zuerst.«

»Und kennst du die Ursache jener unwiderstehlichen Schläfrigkeit nicht?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Wurde nichts in den Keller geworfen?«

»Ich sah nichts.«

»Sie haben dich mit Blumen eingeschläfert, die einen betäubenden Geruch ausdünsten.«

»Es muß so sein.«

»Aber wir bekommen ihn wieder, diesen Negapatnan. Ich habe tüchtige Leute auf seine Spuren gesetzt.«

»Auch ich bin ein erprobter Fährtensucher.«

»Ich weiß, du wirst gut tun, sofort aufzubrechen. Um jeden Preis müssen wir ihn wiederhaben oder wenigstens einen andern Thug.«

»Das nehme ich auf mich.«

Bhârata hatte ihn von den Stricken befreit. Sie erstiegen die Treppe und verließen den Bengalow.

»Welchen Weg hat er eingeschlagen?« fragte Tremal-Naik, der sich mit einem doppelläufigen Gewehr bewaffnet hatte.

»In die Dschungel ist er geflüchtet. Lauf diesen Pfad entlang, dann wirst du seine Spuren finden. Mach schnell, er muß schon weit sein!«

Tremal-Naik warf das Gewehr über die Schulter und eilte in die Dschungel. Bhârata blickte ihm nach, die Stirn gerunzelt, als wenn er einem tiefen Gedanken nachhinge.

»Nysa! Nysa!« rief er plötzlich.

Ein Indier, der in der Nähe des Gitters aufmerksam die Spuren untersuchte, kam herbei.

»Hier bin ich, Sergeant,« sagte er.

»Nun, wieviel Männer haben den Keller verlassen?«

»Nur einer.«

»Hast du dich auch sicher nicht getäuscht?«

»Nein, Sergeant. Negapatnan allein entfloh.«

»Gut. Siehst du den Menschen, der nach der Dschungel läuft?«

»Ja, es ist Saranguy.«

»Folge ihm, ich muß wissen, wohin er geht.«

»Verlaßt Euch auf mich,« antwortete der Indier.

Er wartete, bis Tremal-Naik hinter den Bäumen verschwand, dann eilte er wie ein Hirsch hinweg, indem er das Bambusgebüsch als Deckung nahm.

Bhârata betrat zufrieden den Bengalow und traf den Kapitän, der erregt auf der Terrasse umherlief und seinem Zorne durch leise Verwünschungen Luft machte.

»Also?« fragte er, als er den Sergeant bemerkte.

»Wir sind verraten worden, Kapitän.«

»Verraten? – Von wem?«

»Von Saranguy.«

»Von Saranguy! Von einem Menschen, der mir das Leben rettete! Das ist nicht möglich!«

Bhârata erzählte ihm kurz, was vorgefallen war, und was er gesehen hatte. Kapitän Macpherson war aufs höchste erstaunt.

»Saranguy, Verräter!« rief er. »Aber warum entfloh er nicht mit Negapatnan?«

»Ich weiß nicht, Kapitän, aber bald werden wir es erfahren. Nysa wird den Schuft zurückbringen.«

»Wenn das wahr ist, lasse ich ihn erschießen.«

»Nichts werdet Ihr tun, Kapitän.«

»Warum?«

»Weil wir ihn zum Geständnis bringen müssen. Dieser Mensch wird dasselbe wissen wie Negapatnan.«

»Du hast recht.«

Drei lange Stunden vergingen. Niemand kehrte zurück, kein Schrei, kein Schuß.

Der Kapitän Macpherson wollte eben die Terrasse verlassen, um sich in die Dschungel zu begeben, als Bhârata einen Triumphschrei ausstieß.

»Schau, dort unten, Kapitän,« sagte der Sergeant.

»Einer von den Unsern kehrt eilig zurück.«

»Nysa ist's.«

»Aber allein. Ob Saranguy entflohen ist?«

»Ich glaube nicht. Dann wäre Nysa nicht umgekehrt.«

Der Indier kam bald näher und drehte sich öfter um, als wenn er verfolgt würde.

»Komm herauf, Nysa!« rief Bhârata.

Der Indier sprang, ohne auszuruhen, die Treppe hinauf und kam atemlos auf die Terrasse. Seine Augen leuchteten vor Freude.

»Nun?« fragten Kapitän und Sergeant gleichzeitig, indem sie ihm entgegenliefen.

»Alles ist entdeckt. Saranguy ist ein Thug! Ich bin seinen Spuren bis zur Dschungel gefolgt,« sagte Nysa. »Dort verloren sie sich, aber hundert Schritte davon fand ich sie wieder. Ich beschleunigte den Schritt und bald entdeckte ich ihn. Er lief rasch, aber vorsichtig, sah sich öfter um und legte zuweilen das Ohr an die Erde. Zwanzig Minuten später hörte ich ihn rufen und sah einen Indier aus einem Gebüsch kommen. Es war ein Thug, ein richtiger Würger mit tätowierter Brust und einem Lasso um die Hüften. Das Zwiegespräch, das sie hielten, konnte ich nicht hören, aber bevor sich Saranguy entfernte, sagte er laut zu seinem Gefährten: ›Laß Kougli wissen, daß ich zum Bengalow zurückkehre. In wenigen Tagen soll er den Kopf haben.‹ Sie trennten sich nach verschiedenen Richtungen. Ich wußte genug und kam hierher. Saranguy kann nicht weit sein.«

»Was sagte ich, Kapitän?« fragte Bhârata.

Macpherson antwortete nicht. Mit verschränkten Armen, düsterm Gesicht und sprühenden Augen stand er nachdenklich da.

»Wer ist dieser Kougli?« fragte er plötzlich.

»Ich weiß es nicht,« antwortete Nysa.

»Zweifellos ein Häuptling der Thugs,« sagte Bhârata.

»Von welchem Kopfe sprach der Elende?«

»Ich wüßte wirklich nicht, Kapitän. Er drückte sich nicht deutlicher aus.«

Der Kapitän wurde immer finstrer.

»Ich habe eine seltsame Ahnung, Bhârata,« murmelte er. »Er sprach von meinem Kopfe.«

»Wir dagegen werden seinen an Herrn Kougli schicken.«

»Hoffentlich. Was beginnen wir mit Saranguy?«

»Er muß beichten.«

»Und wird er's tun?«

»Mit Feuer erreicht man alles.«

»Du weißt, daß sie hartnäckiger als die Maulesel sind.«

»Handelt es sich darum, ihn zum Sprechen zu bringen, Kapitän?« fragte Nysa. »Dann genügt es, ihm eine Limonade zu trinken zu geben.«

»Eine Limonade? Du bist verrückt, Nysa.«

»Nein, Kapitän!« sagte Bhârata. »Nysa ist nicht verrückt. Auch ich habe von einer Limonade sprechen hören, die die Zunge lösen soll.«

»Es ist wahr,« sagte Nysa. »Ein paar Tropfen Zitrone mit dem Safte der Youma gemischt und etwas Opium hinein, bringen jeden Menschen zum Sprechen.«

»Bereite diese Limonade,« sagte der Kapitän. »Wenn dir's gelingt, erhältst du zwanzig Rupien.«

Der Indier ließ sich das nicht zweimal sagen. Bald kam er mit drei großen Tassen Limonade, die er auf einer reizenden Scheibe aus chinesischem Porzellan brachte. In einer Tasse hatte er schon eine Opiumpille mit dem Saft der Youma aufgelöst.

Es war Zeit. Tremal-Naik erreichte eben den Bengalow.

»Nun! Saranguy!« rief Bhârata, indem er sich übers Geländer beugte. »Wie steht's?«

Tremal-Naik ließ die Hände längs des Körpers fallen und machte eine Bewegung der Entmutigung.

»Wir haben die Spuren verloren.«

»Komm zu uns herauf; wir möchten alles wissen.«

Tremal-Naik, der nichts ahnte, ließ sich nicht lange bitten und verbeugte sich vor dem Kapitän Macpherson, der vor einem Tischchen mit den Limonaden saß.

»Nun, mein tapfrer Jäger,« fragte dieser mit einem wohlwollenden Lächeln; »habt ihr nicht einmal seine Spuren entdeckt?«

»Doch, wir haben sie entdeckt und eine Zeitlang verfolgt; dann war es unmöglich, sie wiederzufinden. Es scheint, daß dieser verdammte Negapatnan von einem Baume zum andern den Wald durchquert hat.«

»Bis wohin bist du gegangen?«

»Bis zum äußersten Punkte des Waldes.«

»Du wirst müde sein. Trink diese Limonade, sie wird dir gut tun.«

Indem er so sprach, reichte er ihm die Tasse. Tremal-Naik leerte sie mit einem Zuge.

»Sag einmal, Saranguy,« versetzte der Kapitän, »glaubst du, daß Thugs im Walde sind?«

»Ich glaube nicht,« antwortete Tremal-Naik.

»Kennst du keinen von jenem Menschen? Du hast lange Zeit in den Wäldern gelebt.«

»Das ist nicht wahr.«

»Und doch sagte man mir, sie hätten dich mit einem verdächtigen Indier sprechen hören.«

Tremal-Naik starrte ihn an, ohne zu antworten. Seine Augen begannen nach und nach zu leuchten wie zwei glühende Kohlen; das Gesicht färbte sich dunkler, die Züge waren entstellt.

»Was hast du darauf zu antworten?« sagte der Kapitän Macpherson spöttisch.

»Thugs!« stammelte der Schlangenjäger, indem er mit den Armen herumfuhr und in ein Lachen ausbrach. »Ich mit einem Thug sprechen?«

»Achtung,« murmelte Bhârata dem Kapitän ins Ohr. »Die Limonade beginnt zu wirken.«

»Vorwärts, sprich,« drängte Macpherson.

»Ja, ich entsinne mich. Am Waldsaume sprach ich mit einem Thug. Ah! Ah! Und sie glaubten, daß ich Negapatnan suche. Die Dummköpfe – ah! – ah! – Ich Negapatnan verfolgen? Für dessen Befreiung ich alles aufwandte – ah! – ah!«

Und Tremal-Naik, im Banne einer fieberhaften, unwiderstehlichen Ausgelassenheit, lachte wie ein Blöder, ohne zu wissen, was er sagte.

»Saranguy! Ich bin nicht Saranguy. Der Dummkopf, der du bist, mein Freund, zu glauben, ich sei Saranguy. Ich bin Tremal-Naik. – Tremal-Naik der schwarzen Dschungel, der Schlangenjäger. Bist du nie in der schwarzen Dschungel gewesen? Um so schlimmer für dich, dann sahst du noch nie etwas Schönes. Oh, der Dummkopf, der du bist, der Dummkopf!«

»Ich bin wirklich ein Dummkopf,« sagte der Kapitän, der sich kaum noch halten konnte. »Ah! du bist Tremal-Naik? Und warum hast du den Namen gewechselt?«

»Um jeden Verdacht von mir fernzuhalten. Weißt du nicht, daß ich in deine Dienste treten wollte?«

»Und warum?«

»Die Thugs wollten es so. Sie haben mir das Leben geschenkt und werden mir auch die Tempeljungfrau geben. Kennst du die Tempeljungfrau? Sie ist schön, sehr schön.«

»Und wo ist diese Tempeljungfrau?«

»Das sage ich dir nicht. Du könntest sie mir rauben.«

»Und wer hält sie?«

»Die Thugs, aber sie werden sie mir zum Weibe geben. Ich bin stark, mutig. Werde alles tun, was sie verlangen, um sie zu haben. Negapatnan ist schon befreit.«

»Hast du vielleicht einen andern Auftrag?«

»Auftrag? – ah! – ah! – Ich soll – verstehst du, einen Kopf bringen – ah! – ah! – Ich könnte mich ausschütten, vor Lachen.«

»Warum?« fragte Macpherson, der bei jenen Worten aus einer Überraschung in die andere fiel.

»Weil der Kopf, den ich abschneiden soll – ah! – ah! – der deine ist!«

»Meiner!« rief der Kapitän, indem er aufsprang. »Mein Kopf? Und wem sollst du ihn bringen?«

»Suyodhana.«

»Wer ist Suyodhana?«

»Was? »Den kennst du nicht?« Das ist der Häuptling der Thugs.«

»Und weißt du, wo sein Lager ist?«

»Natürlich weiß ich das. Wo soll er anders sein als in Raimangal?«

Kapitän Macpherson stieß einen Schrei aus, dann fiel er auf den Stuhl und murmelte:

»Ada! – Oh meine Ada! Endlich bist du erlöst!«


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