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XXXII.
Elsens Geschichte.

Unsere ganze Familie ist jetzt in einem solchen Dankes- und Freudentaumel, daß ich wohl unter allen die einzige nüchterne Person bin.

Die gute Mutter schwebt mit leisem, zufriedenem Girren um ihre beiden Wiedergefundenen her, wie die Turteltaube um ihr Nest, und sie ist so in ihr Glück versunken, als ob sie ihre älteste Tochter versorgte oder selbst eine Braut wäre, und nicht die ehrwürdige Großmutter, die sie doch ist. Chrimhilde und ich hätten wohl Ursache, eifersüchtig zu werden, wenn nicht jede ihren besonderen Trost zu Hause fände.

Eva und Fritz sind in der That weit vernünftiger; und anstatt wie unsere gute Mutter sich selbst für den Mittelpunkt der ganzen Welt zu halten, glauben sie sich vielmehr dazu bestimmt, aller Welt zu dienen, was freilich viel christlicher ist, aber auch seine Grenzen haben muß. So scheint es mir ein großes Glück für beide, daß sie Chrimhilden und Ulrich und besonders Gottfried und mich haben, um für ihre zeitlichen Angelegenheiten zu sorgen.

Zum Beispiel für Hausleinen. Eva hat natürlich kein einziges Stück, und was ihren Brautschmuck betrifft, so glaube ich, daß sie sich damit begnügen würde, in einem Nonnenkleide oder in der Bauerntracht, worin sie aus Nimptschen entfloh, sich trauen zu lassen. Allein, ich habe Vorräte, welche, da Gretchen sie wohl noch nicht so bald brauchen wird, dem Mangel abhelfen können.

Gretchen ist erst acht Jahre alt; aber ich halte es für gut, immer voraus zu sorgen, und so ist mein Vorrat, der ihr zu gut kommt, eine wahre Gabe der Vorsehung.

Gottfried besteht darauf, ihr das Brautkleid zu wählen. Und meine Mutter meint, daß ihr Perlenkopfputz, das Erbstück ihrer Urahnen (welches wir in den Zeiten unserer Armut einmal beinahe an einen Kaufmann in Eisenach verkauft hätten), eigens für Eva aufbewahrt worden sei.

Es ist ein Glück, daß Atlantis, deren Hochzeit an demselben Tage stattfinden soll, die bescheidenste, anspruchloseste Braut von der Welt und ihr Hochzeitstaat schon fast ganz fertig ist.

Chrimhilde und Ulrich haben den alten Ritter überredet, das Pfarrhaus neu aufbauen zu lassen, und die erstere schreibt, welche Freude es für sie sei, es aus der Mitte der Hütten des Dorfes sich allmälig erheben zu sehen und daran zu denken, welch eine Quelle des Segens es für alle sein werde.

Die gute Großmutter läßt es sich nicht nehmen, mit ihren lieben, alten Händen an Evas Aussteuer zu arbeiten und hat die spärlichen Ueberbleibsel ihrer frühem Pracht geplündert, und manchen seltsamen Schmuck von den alten Schätzen der Schönberg'schen Familie hervorgesucht.

Christoph bereitet ihnen insgeheim eine Bibliothek von Dr. Luthers und Melanchthons sämtlichen Werken und noch vielen andern gelehrten Schriften, alle prächtig gebunden.

Alle Schwermut ist aus Fritzens Zügen verschwunden, und bleibt nur noch wie die Tiefe eines Flusses, um den Glanz seiner Wellen zu vermehren.

Der Druck scheint von seinem und Evas Herzen hinweggenommen, und zum ersten Mal sind sie ganz das, wozu der Schöpfer sie bestimmt hatte.

Gleichwohl ist eben jetzt der Großmutter Herz von einer andern Begebenheit auf's tiefste ergriffen.

Vor einigen Tagen führte Christoph ein paar Fremde in unsere Familie ein. Als unsere Großmutter dieselben erblickte, entsank die Arbeit ihren Händen; sie erhob sich, ihnen entgegen zu gehen, und sprach einige Worte in einer uns allen unbekannten Sprache.

Das Gesicht der Fremden erheiterte sich, als sie so angeredet wurden, und sie antworteten ihr in derselben Sprache.

Nach einer kurzen Unterredung wendete sich die Großmutter zu uns und sagte:

»Es sind Böhmen –Hussiten. Sie kennen den Namen meines Gatten. Die Wahrheit, für die er starb, lebt noch immer in meinem Vaterlande.«

Der Sturm der Erinnerung alter Zeiten überwältigte sie. Ihre Lippen bebten, Thränen flossen langsam über ihre Wangen hinab und sie vermochte nicht weiter zu reden.

Die Fremden willigten ein, diese Nacht unter Vaters Dache zuzubringen, und erzählten uns, was sie nach Wittenberg geführt habe.

Seit Hussens Märtyrertode, sagten sie, hatte sich in Böhmen die Wahrheit, die er gelehrt, von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt, immer auf Gefahr und sehr oft auf Kosten des Lebens. Oft hatte es sie gewundert, daß sie sonst nirgends in der Welt von solchen hörten, welche an dieselbe Wahrheit glaubten. Konnte es denn möglich sein, daß die göttliche Wahrheit in ihre Gebirgsveste allein verbannt war? Wie Elias in alten Zeiten, fühlten sie sich versucht, auszurufen in ihrer Einöde: »Bin ich denn allein übrig geblieben?«

»Sie hatten aber gewiß nicht Recht, so zu denken,« sagte meine Mutter, welche die alte Religion nie gerne zu hart tadeln hört. »Selbst in den Zeiten des finstersten Aberglaubens hat es Seelen gegeben, die Gott über alles geliebt haben. Aus wie vielen Klosterzellen haben fromme Herzen zu ihm aufgeschaut! Es braucht mächtige Unterweisung des heiligen Geistes und viele Kämpfe, um ein Luther zu werden; aber, däucht mir, nur das Berühren des Saumes von Christi Gewand, um ein Christ zu werden.«

»Ja,« sprach Gottfried, unsere geliebte Auslegung des Galaterbriefs aufschlagend, »es ist wahr, was Dr. Luther sagt: Es gab in alten Zeiten solche, die Gott durch das Wort des Evangeliums in der Taufe berief. Diese wandelten in Einfalt und Herzensdemut, glaubten, daß nur Mönche und Einsiedler und vom Bischof zu Priestern Geweihte fromm und heilig seien, und hielten sich selbst für ungöttlich und weltlich und nicht wert, mit jenen verglichen zu werden. Deshalb, da sie bei sich selbst keine guten Werke fanden, um den Zorn und das Gericht Gottes abzuwenden, nahmen sie ihre Zuflucht zum Leiden und Sterben Christi und wurden in ihrer Einfalt gerettet und selig.«

»So war es ohne Zweifel,« erwiderten die böhmischen Abgesandten. »Allein dies war den Augen der Menschen verborgen. Zweimal sandten unsere Väter Boten weit und breit umher in der Christenheit, ob sie wohl einige Seelen finden möchten, welche verstünden, welche nach Gott fragten; allein überall fanden sie nichts als Gleichgiltigkeit, Aberglauben, Finsternis, nirgends Uebereinstimmung.«

»Ach,« sagte meine Mutter, »das ist eine Untersuchung, die nur das Auge Gottes machen kann. Aber freilich, es waren finstere Zeilen.«

»Sie kamen zurück, ohne irgendwo Teilnahme gefunden zu haben,« fuhren die Fremden fort, »und unsere Väter mußten noch länger allein arbeiten und dulden. Aber nun sind von allen Teilen der Welt Töne des Lebens in unsere einsamen Gebirge gedrungen, und wir haben uns aufgemacht, um hier in Wittenberg die Stimme zu hören, die sie zuerst wachgerufen hat, und um den evangelischen Christen die Bruderhand darzubieten. Dr. Luther hat uns willkommen geheißen, und freudig kehren wir in unsere Berge zurück, um unserem Volke mitzuteilen, daß endlich der neue Morgen für die Welt angebrochen ist.

Der Abend verging unter angenehmen Gesprächen, und ehe wir uns trennten, brachte Christoph seine Laute, und wir sangen alle zusammen das Lied von Johann Huß: » Jesus Christus nostra salus« das Dr. Luther mit seinen eigenen herausgegeben hat, und das also lautet:

»Jesus Christus, unser Heiland,
Der von uns den Gotteszorn wandt',
Durch das bitter Leiden sein
Half er uns aus der Höllen Pein.

Daß wir nimmer des vergessen,
Gab er uns sein'n Leib zu essen,
Verborgen in Brot so klein,
Und zu trinken sein Blut in Wein.

Wer sich will zu dem Tische machen,
Der hab' wohl Acht auf sein' Sachen;
Wer unwürdig hinzugeht,
Für das Leben den Tod empfäht.

Du sollst Gott den Vater preisen,
Daß er dich so wohl wollt' speisen,
Und für deine Missethat
In den Tod sein'n Sohn geben hat.

Du sollst glauben und nicht wanken,
Daß es sei ein' Speis' der Kranken,
Deren Herz von Sünden schwer
Und vor Angst ist betrübet sehr.

Solch groß' Gnad' und Barmherzigkeit
Sucht ein Herz in großer Arbeit.
Ist dir wohl, so bleib davon,
Daß du nicht kriegest bösen Lohn.

Er spricht selber: kommt, ihr Armen,
Laßt mich über euch erbarmen;
Kein Arzt ist dem Starken not,
Sein' Kunst wird an ihm gar ein Spott.

Hätt'st du dir was konnt erwerben,
Was dürft ich denn für dich sterben?
Dieser Tisch auch dir nicht gilt,
So du selber dir helfen willt.

Glaubst du das von Herzensgründe,
Und bekennest mit dem Munde,
So bist du recht wohl geschickt,
Und die Speise dein' Seel' erquickt.

Die Frucht soll auch nicht ausbleiben,
Deinen Nächsten sollt du lieben,
Daß er dein genießen kann,
Wie dein Gott an dir hat gethan.«

Hierauf sangen wir Luthers herrliches Lied:

Nun freut euch, liebe Christengmein'
Und laßt uns fröhlich springen,
Daß wir getrost und all in Ein'
Mit Lust und Liebe singen,
Was Gott an uns gewendet hat
Und seine süße Wunderthat;
Gar teu'r hat er's erworben.

Dem Teufel ich gefangen lag,
Im Tod war ich verloren;
Mein Sünd mich quälte Nacht und Tag,
Darin ich war geboren;
Ich fiel auch immer tiefer drein,
Es war kein Gut's am Leben mein,
Die Sünd hat mich besessen.

Mein gute Werk, die galten nicht,
Es war mit ihn'n verdorben;
Der frei Will haßte Gottes G'richt,
Er war zum Gut'n erstorben;
Die Angst mich zum verzweifeln trieb,
Daß nichts denn Sterben bei mir blieb;
Zur Hölle mußt' ich sinken.

Da jammert Gott von Ewigkeit
Mein Elend ohne Maßen;
Er dacht' an sein Barmherzigkeit
Und wollt' mir helfen lassen!
Er wandt' zu mir das Vaterherz,
Es war bei ihm fürwahr kein Scherz;
Er ließ sein Bestes kosten.

Er sprach zu seinem lieben Sohn:
»Die Zeit ist, zu erbarmen;
Fahr hin, mein's Herzens werte Kron'
Und sei das Heil dem Armen!
Hilf ihm aus seiner Sünden Not,
Erwürg für ihn den Gittern Tod
Und laß ihn mit dir leben!«

Der Sohn dem Vater g'horsam ward,
Er kam zu mir auf Erden
Von einer Jungfrau rein und zart,
Er sollt mein Bruder werden.
Gar heimlich führt er sein Gewalt,
Er ging in meiner armen G'stalt,
Den Teufel wollt er fangen.

Er sprach zu mir: »Halt dich an mich,
Es soll dir jetzt gelingen;
Ich geb' mich selber ganz für dich,
Da will ich für dich ringen;
Denn ich bin dein, und du bist mein,
Und wo ich bleib, da sollst du sein,
Uns soll der Feind nicht scheiden.«

»Vergießen wird er mir mein Blut,
Dazu mein Leben rauben;
Das leid ich Alles dir zu gut,
Das halt mit festem Glauben.
Den Tod verschlingt das Leben mein,
Mein Unschuld trägt die Sünde dein;
Da bist du selig worden.«

»Gen Himmel zu dem Vater mein
Fahr ich von diesem Leben;
Da will ich sein der Meister dein,
Den Geist will ich dir geben,
Der dich in Trübnis trösten soll
Und lehren mich erkennen wohl
Und in der Wahrheit leiten.«

»Was ich gethan hab' und gelehrt,
Das sollst du thun und lehren,
Damit das Reich Gott's werd vermehrt,
Zu seinem Lob und Ehren;
Und hüt dich für der Menschen G'satz,
Davon verdirbt der edle Schatz;
Das laß ich dir zuletzte!«

Auf unserer Mutter ausdrücklichen Wunsch sangen hierauf Fritz und Eva noch ein lateinisches Auferstehungslied aus alter Zeit:

Mundi renovatio
Nova parit gaudia,
Resurgenti Domino
Conresurgunt omnia:
Elementa serviunt
Et auctoris sentiunt
Quanta sint sollemnia.

Cœlum fit serenius
Et mare tranquillius,
Spirat aura levius,
Vallis nostra floruit.
Revirescunt arida,
Recalescunt frigida
Post quæ ver intepuit.

Vita mortem superat,
Homo jam recuperat
Quod prius amiserat
Paradisi gaudium:
Viam præbet facilem
Cherubim versatilem,
Ut Deus promiserat,
Amovendo gladium.

Zu deutsch:

Neugeboren prangt die Welt
In verjüngten Schmuck gestellt!
Aus dem Grab erstand der Held;
Und das Leben sich erneut.
Feiernd preiset die Natur
Und die ganze Kreatur
Seines Sieges Herrlichkeit.

Heit'rer uns der Himmel grüßt,
Und die Woge sanfter fließt,
Und des Thales Blume sprießt;
Lebenshauch erfüllt die Luft.
In dem milden Frühlingsweh'n
Regt sich alles, und es geh'n
Die Erstorbnen aus der Gruft.

Offen ist des Lebens Thor,
Und was einst der Mensch verlor,
Hat er wieder, wie zuvor,
Seiner Unschuld Paradies.
Jenes Cherubs Flammenschwert
Ihm den Zugang nicht mehr wehrt,
Wie's der treue Gott verhieß.

Am nächsten Morgen reisten die Fremden wieder ab; Großmutter aber saß den ganzen Tag still und ruhig mit gefalteten Händen in einer bei ihr höchst ungewöhnlichen Unthätigkeit da. Als wir am Abend wieder alle versammelt waren, –was jetzt täglich in Vaters altem Hause zu geschehen pflegt, –sagte sie ruhig:

»Kinder, singt mir das Nunc Dimittis! Gott hat jeden Wunsch meines Herzens erfüllt; und wenn es Ihm gefiele, möchte ich im Frieden jetzt hinfahren zu meinen verstorbenen Lieben; denn ich weiß, sie leben bei Ihm.«

Später kamen wir auf die Vergangenheit zu sprechen. Es war der Vorabend von Fritzens und Evas, von Atlantis' und Konrads Hochzeittag. Und als eine in demselben Glauben vereinte Familie, sprachen wir natürlich von den verschiedenen Wegen, auf welchen uns Gott zu demselben Ziele geführt.

Die alten Tage stiegen in meiner Seele auf, in welchen das Ideal der Frömmigkeit mir vorgeschwebt hatte, so düster und steinern, wie die Veste der Wartburg (in der meine Schutzheilige gewohnt hatte) über den Straßen Eisenachs thront, und wo der Herr Christus selbst mir, wie Dr. Luther sagt, »ein weit strengerer Gesetzgeber schien als Moses,« ein unwiderruflicher, unnahbarer Richter, hoch oben in den kalten Himmelsräumen thronend, und der Himmel gleich einem Kloster mit hohen Mauern umgeben und von Nonnen bewohnt, so streng wie Tante Agnes. Und dann gedachte ich, wie mein Herz umgeändert ward, als ich von Dr. Luther lernte, daß Gott die Liebe, daß er unser Vater, daß Christus unser Heiland ist, der sich selbst für unsere Sünden dahingegeben und uns mehr als sein Leben geliebt hat; daß der Himmel unser Vaterhaus, daß Frömmigkeit nichts anderes ist als Liebe zu dem allgütigen Gott, der uns zuerst so sehr geliebt hat und Liebe zu einander; daß der einzige Dienst, den wir Gott erweisen sollen, der ist, Ihm zu danken und Gutes zu thun; –als das Wort unser, wie Dr. Luther sagt, mir tief ins Herz geschrieben ward –daß Er für unsere, auch für meine Sünden gestorben ist; daß Er für alle, für uns, für mich sich dahingegeben hat.

Hierauf erzählte Fritz, wie er gearbeitet und sich gemartert habe, um Gott zu versöhnen, bis er durch Dr. Luthers Unterweisung einsehen lernte, daß das Lamm Gottes unsere Sünden getragen, daß Gott selbst, –nicht ein Mensch, –das Opfer dargebracht hat; daß wir in dem Einen, in Jesu Christo, Vergebung der Sünden und das ewige Leben haben; daß Gott gegen uns ist, wie der Vater des verlorenen Sohnes, daß Er uns bittet, uns mit Ihm versöhnen zu lassen. Er sagte auch, wie er sich nach einem Priester gesehnt habe, der sein Herz vollständig durchschauen, ihn vor der Unvollständigkeit und Unaufrichtigkeit in seiner Beichte bewahren und ihn versichern könnte, daß er, obgleich mit seiner Sünde in all ihren Tiefen und allen sie noch erschwerenden Umständen bekannt, ihn dennoch losspreche; wie er endlich diesen Priester gefunden habe, der die tiefsten Fallen seines Herzens durchschaue, der jede Triebfeder seiner Handlungen erkenne, und ihn doch auf einmal umsonst und vollständig losgesprochen und ihm keine Buße aufgelegt, sondern blos ein der Dankbarkeit geweihtes Leben von ihm verlangt habe. »Und dieser Priester,« setzte er hinzu, »ist immer bei mir; ich beichte ihm jeden Abend, und noch öfter, wenn es nötig ist; und so oft ich ihm beichte, vergibt er mir, spricht mir Mut ein –»gehe hin im Frieden und sündige hinfort nicht mehr.« Aber er ist nicht auf Erden. Er wohnt im Heiligtums, das nicht mehr leer ist, wie das Allerheiligste im Tempel bis auf einen Tag im Jahre. Er lebt ewig, um uns zu vertreten.«

Dann sprachen wir von den beiden wichtigen Thatsachen, welche Dr. Luther aus der Heiligen Schrift uns enthüllt hat, daß es nur ein Versöhnungsopfer gibt, das unbefleckte Lamm Gottes, das sich einmal für unsere Sünden dahingegeben hat; und daß ein priesterlicher Mittler ist, der Gottes- und Menschensohn; daß infolge dessen alle Christen zu einer heiligen Priesterschaft gehören, um geistliche Opfer darzubringen; daß der Schwächste sein Opfer darzulegen hat, welches Gott um Jesu Christi willen gnädig annimmt, nachdem Er zuerst den Sünder selbst in den: Geliebten angenommen hat.

Unsere Mutter erwähnte in kurzen Worten die schreckliche Vorstellung, die sie sich von Gott gemacht; wie sie sich Ihn mehr als einen Blitzstrahl, denn als das Licht gedacht; daß sie stets gefürchtet habe, ein Fluch schwebe, gleich einer Gewitterwolke, über ihrem Leben, bis Dr. Luther ihr zeigte, daß der Fluch von Dem getragen worden, der für uns zum Fluche gemacht wurde und alle diejenigen davon befreit hat, die auf ihn trauten. »Und das heilige Abendmahl,« setzte sie hinzu, »lehrte mich alles übrige. Er trug für uns das Kreuz; Er deckte uns den Tisch. Wohl haben wir noch das Kreuz, aber nimmermehr den Fluch zu tragen; das Kreuz von den Menschen, Versuchungen von dem Satan; aber von Gott nichts als Segen.«

Nur Eva sagte, sie könne sich keiner Zeit erinnern, wo sie nicht geglaubt habe, daß Gott unendlich gütig und freundlich sei. Manches in der Religion habe sie verwirrt und ihr seltsam geschienen; es sei ihr aber stets klar gewesen, daß Gott also die Welt geliebt, daß Er seinen eingebornen Sohn gab, und sie habe immer gehofft, alles übrige werde ihr noch in dem Lichte dieser Liebe klar werden. Sie habe eine Freude an Dr. Luthers Schriften empfunden, wie wenn ein herrliches Bild, dessen Schönheit man erkennen, aber nicht deutlich sehen konnte, von den Flecken, die es entstellen, gereinigt vor Einem steht oder wie wenn ein Mißverständnis über einen teuren Freund sich aufklärt. Sie habe sich immer darüber gewundert, daß man ein Wesen, das so unbeschreibliche Liebe zu den Menschen hat, mit solch schweren Bußübungen versöhnen sollte,, und daß es so vieler Vermittler bedürfe, Ihm zu nahen; und es sei eine unbeschreibliche Wonne für sie gewesen, als sie fand, daß dies alles ein Irrtum war und der Zugang zu Gott in der That allen offen sei; daß Liebe und Sünde, Leben und Tod am Kreuze sich begegnet; daß dort die Sünde getilgt und der Tod vom Leben sei verschlungen worden.

Unter solchen Gesprächen verstrich der Vorabend des Hochzeittages.

Und nun ist auch dieser wie ein schöner Traum dahingeschwunden; unsere kleine, liebevolle, sanfte Atlantis ist mit ihrem Gatten nach ihrer neuen, fernen Heimat abgereist; die Brautkränze sind abgelegt und sorgfältig verwahrt, und Fritz und Eva sind in ihrem einfachen Alltagsanzuge, aber die Kronen unverwelklicher Freude im Herzen, mit einander abgereist, um ihr demütiges Werk im Thüringerwalde zu beginnen und das Land um eines der segensvollen Pfarrhäuser zu bereichern, die jetzt aller Orten sich erheben.

Allein es wird noch lange währen, ehe Gretchens Leinenschrank wieder gefüllt werden kann. Soeben haben wir Kunde von dem endlichen Entkommen der Freundinnen Evas, der neun evangelischen Nonnen aus dem Kloster zu Nimptschen. Sie schrieben an Dr. Luther, der sich viele Mühe gab, ihnen Unterkommen zu verschaffen. Und nun hat Meister Leonhard Koppe von Torgau sie, in seinem Bierwagen versteckt, glücklich nach Wittenberg gebracht. Eine der Nonnen soll in der Eile ihren Pantoffel zurückgelassen haben. Sie werden alle in verschiedene Familien verteilt, und Gottfried und ich sollen Katharina von Bora aufnehmen, die entschlossenste und mutigste von allen, aus deren Zelle sie ihre Flucht bewerkstelligten.

Ich habe ihr das Gastzimmer zurecht gemacht, Lavendel auf das Leinenzeug gestreut und mich bemüht, es der Jungfrau, welche um des Herrn willen aus ihrer alten Heimat verbannt ist, heimatlich zu machen.

Ich denke, solche Gäste müssen jeder Familie Segen bringen!

 

Im Juni 1523.

Unser Gast, das edle Fräulein Katharina von Bora, ist angekommen. Sie scheint ernst und zurückhaltend, obgleich Eva sie als sehr heiter und eben so leichten wie festen Mutes geschildert hat. Ich bin ein wenig schüchtern mit ihr. Es liegt etwas Majestätisches in ihrer ganzen Haltung, daß ich ihr mehr Achtung als Teilnahme beweise. Ihre Augen sind dunkel und leuchtend, und auf ihrer hohen Stirne thront Würde und Ruhe.

An mir, die ich sehr leicht von würdevollen Personen eingeschüchtert bin, ist dies nichts auffallendes; allein sogar dem Dr. Luther scheint dieses junge Mädchen zu imponieren. Er hält sie für ein bißchen zurückhaltend und stolz; allein ich bin noch nicht gewiß, ob es wirklich Stolz oder eine gewisse jungfräuliche Würde ist.

Ich fürchte, ich habe zu viel von der einfachen Cottaischen Bürgernatur an mir, um ganz zutraulich mit ihr zu werden.

Unsere Großmutter würde sie ohne Zweifel besser verstanden haben als meine sanfte Mutter oder ich; allein seit jenem Besuche der Abgesandten der böhmischen Kirche ist die teure, zarte Gestalt immer mehr verfallen und sie hat seit dem Hochzeittage das Bett nicht mehr verlassen. Mehr als je scheint sie in der Vergangenheit zu leben, und nennt jedes mit dem Namen, den sie in ihrer Jugend ihm zu geben Pflegte, redet von unserem Großvater als von »Franz«, heißt unsere Mutter »Greta«, anstatt sie wie sonst »Mutter« zu nennen. So scheint sie in die Vergangenheit vertieft und in die herrliche Zukunft, die nur ein leichter Schleier ihrem Auge noch verhüllt. Das Herz ist für den Himmel so offen als je, obgleich das irdische Licht sich immer mehr für sie verdunkelt. Ich sitze an ihrem Bette und lese ihr aus der Bibel und aus Dr. Luthers Schriften vor, oder Gretchen wiederholt ihr neue deutsche Lieder, welche Dr. Luther gedichtet, oder die von Johann Huß, welche er übersetzt hat. Heute mußte ich ihr die Stelle lesen: »Der christliche Glaube ist nicht, wie einige behaupten, eine leere Hülse in dem Herzen, bis die Liebe ihn lebendig macht; sondern der wahre Glaube ist eine gewisse Zuversicht des Herzens, welcher Christum ergreift, so daß Christus selbst der Gegenstand des Glaubens ist; ja durch den Glauben ist Christus in der That gegenwärtig. Damm wird das Herz durch den Glauben gerechtfertigt, weil er diesen Schatz, den gegenwärtigen Christum, ergreift und besitzt. Daher besteht die wahre Gerechtigkeit des Christen im Ergreifen Christi und in seiner Inwohnung im Herzen.«

Es kommt mir so seltsam in dem alten Hause vor, das jetzt so still geworden ist, da von allen Schwestern nur noch Thekla zurückbleibt, mit dem lieben, blinden Vater unten und der teuern Großmutter hier oben, deren starkes, mutiges Herz nun bald zu schlagen aufhören wird; besonders wenn ich Gretchens süße, helle Kinderstimme die Lieder unserer glorreichen neuen Zeit, der ehrwürdigen Vertreterin der alten Zeit vorsagen höre.

Während ich vorige Nacht an ihrem Krankenbette wachte, dachte ich lange an Dr. Luther. Er allein wohnt noch in dem Augustinerkloster, das infolge seiner Lehre von allen Bewohnern verlassen ist, die er als Lehrer und Arbeiter in alle Welt gesandt hat. Indem ich nun so überlegte, was wir alle ihm zu danken haben, Fritz und Eva in ihrem stillen, gesegneten Pfarrhause, unsere Mutter und Großmutter, das böhmische Volk, mein kleines Gretchen, das seine Lieder singt, die neun befreiten Nonnen, Tante Agnes in ihrem Kloster und Christoph an seiner vielgeschäftigen Buchdruckerpresse, Junge und Alte, Priester und Laien, da fiel mir ein, was wohl die neue Zeit dem kühnen, liebevollen, warmen Herzen bringen werde, das so manche gebundene Herzen frei, so manches arme Leben reich gemacht hat, aber selbst noch so einsam und allein dasteht.


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