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Eisenach, im April.
Dies sind die letzten Worte, welche ich in unserer lieben, alten Rumpelkammer schreiben werde. Nun, ich werde sie nicht eben sehr vermissen, da ja unsere Plaudereien im Zwielicht doch auf immer dahin sind. Morgen mit dem Frühesten werden wir nach Wittenberg aufbrechen. Es ist mir seltsam zu Mute, wenn ich auf die alte Straße hinaussehe und bedenke, daß morgen Abend alles genau so sein wird wie heute; die Mönche werden paarweise und langsam einherschreiten, die Schulknaben in lustigen Sprüngen aus der Schule rennen, die Mägde mit kleinen Kindern auf den Armen unter den Hausthüren stehen –und wir sind dann weit hinweg gezogen! –Welch eine kleine Lücke lassen doch die Menschen hinter sich zurück, wenn sie fort sind, wie groß auch der Platz war, den sie sonst ausfüllten, ausgenommen in zwei oder drei Herzen! –Ich sehe dies an Fritzen. Ich meinte, unsere ganze kleine Welt müsse zerfallen, als er, unser Hauptpfeiler, uns entzogen ward. Allein alles geht fernen Gang wie zuvor, ehe Fritz ein Mönch wurde, –ausgenommen freilich bei Mutter, Eva und mir.
Die Mutter schleicht, immer mehr einem Schatten ähnlich, unter uns umher. Voller Zärtlichkeit nimmt sie, so viel sie kann, alle Sorgen der Familie auf sich; aber für die Freuden derselben scheint sie teilnahmlos und tot. Seitdem sie mir von ihrer Neigung für den Klosterberuf erzählt hat, den sie vernachlässigt zu haben glaubt, kann ich sie besser verstehen, ihre Furcht und ihr Zittern, womit sie jedes Glück, das ihr zu Teil wird, aufnimmt, und die hoffnungslose Ergebung, womit sie sich beugt unter jeden Kummer, wie unter den Schlag einer beständig über ihr geschwungenen und nur zuweilen mitleidig zurückgehaltenen Rute.
Fritzens Verlust war gerade der empfindlichste Schlag, welcher sie treffen konnte. Ich bin überzeugt, sie hatte ganz andere Pläne mit ihm. Ich erkenne dies an der besonderen Zärtlichkeit, womit sie an Eva hängt. Als wir heute einige Bücher von Fritz einpackten, sagte sie zu mir: »Mein Sohn hat das Opfer, das ich zu selbstsüchtig war zu vollbringen, an meiner Statt gebracht. O meine liebe Else, gib gleich, was Gott auch von dir verlangen mag. Wir müssen seine Forderungen am Ende erfüllen, und wenn wir zuletzt dazu gezwungen werden, weiß Gott allein, mit welch hohen Zinsen wir die Schuld zu bezahlen haben.
Diese Worte liegen mir wie ein Fluch auf der Seele. Es kommt mir selbst zuweilen vor, als ob ein unglückliches Verhängnis über unserer Familie walte, wovon sie, wie ich weiß, fest überzeugt ist.
Aber ach! wie furchtbar ist der Gedanke, daß Gott solche Vergeltung übe! einem Gläubiger ähnlich, der für die geringste Schuldforderung den letzten Heller erpreßt, und wenn die Zahlung sich verzögert, das Leben oder ein Glied, oder sonst etwas noch Teureres dafür verlangt. Ich kann diesen Gedanken nicht ertragen. Denn wenn meine fromme, süße Mutter für einen Irrtum, für die Vernachlässigung eines zweifelhaften Berufes so heimgesucht wird, was habe ich dann zu erwarten, die ich kaum einen Tag zubringe, an welchem ich nicht ein hartes Wort gegen meine jüngern Brüder (die freilich oft sehr wild und ausgelassen sind), oder irgend ein Unrecht, das ich begangen, oder die Versäumnis meiner religiösen Pflichten oder wenigstens Gedanken des Neides gegen die Reichen, oder Murren über unser Los, oder sogar zuweilen Bitterkeit gegen meinen Vater und seine Erfindungen zu bereuen habe!
Unser guter Vater hat endlich alle seine Schätze geordnet und eingepackt und ist außer den Kindern der Einzige, der bei dem Gedanken an unsere nahe Abreise ganz vergnügt ist. Den ganzen Tag war er beschäftigt, seine Maschinen ein- und aus- und wieder einzupacken und ihnen die sichersten Plätze auf dem großen Wagen auszusuchen, welchen Vetter Konrad Cotta uns für die Reise geliehen hat.
Eva scheint so wenig wie meine Mutter dieser Welt anzugehören. Nicht als ob sie niedergeschlagen und hoffnungslos aussähe; im Gegenteil strahlt ihr Gesicht ganz von seligem Frieden; aber er scheint ganz unabhängig von allem Irdischen und weder gestört von den Unannehmlichkeiten, die uns begegnen, noch erhöht, wenn uns etwas Angenehmes widerfährt. Ich gestehe, daß mich dies fast eben so sehr ärgert, wie die Jungen. Ich fürchte ernstlich, daß sie uns auch noch verlassen wird wie Fritz, um in's Kloster zu gehen. Und doch habe ich ihr wahrlich nichts vorzuwerfen. Wahrscheinlich ist es gerade dies, was Großmutter und mich so sehr ärgert. Neuerdings hat sie alle ihre lateinischen Bücher um eines deutschen willen vernachlässigt, das Fritz uns sandte, kurz ehe er das Kloster in Erfurt verließ, um seine Pilgerfahrt nach Rom anzutreten. Dieses Buch, »Deutsche Theologie« oder » Theologia Germanica« betitelt, macht Eva ganz glücklich; mir scheint es noch unverständlicher als Latein. Obgleich es von allen religiösen Büchern, die ich je gelesen habe, ganz verschieden ist, so gefällt es mir doch nicht bester. Es scheint mir so unbestimmt und erhaben und so weit über meinen Horizont hinaus, nur für solche Leute passend, welche Zeit haben, die Höhen zu erklimmen, während mein Pfad durch Thäler und Straßen führt und durch allerlei kleine, gewöhnliche, weltliche Pflichten und Sorgen, welche die Religion keiner Aufmerksamkeit würdigt. Meine Hoffnung besteht einzig darin, daß Gott gegen Ende meines Lebens so gnädig sein werde, mir ein bißchen Zeit zu vergönnen, um fromm zu werden und mich auf das Erscheinen vor seinem Throne vorzubereiten, oder daß Evas und Fritzens Gebete und Verdienste mir zu Gute kommen werden.
Wittenberg, Mai 1510.
Unser neues Haus, welches in der Nähe des Universitätsgebäudes steht, fängt an, wohnlich zu werden. Martin Luther oder Bruder Martin ist hier sehr berühmt. Man sagt, seine Vorlesungen seien beliebter als alle andern. Auch predigt er oft in der Stadtkirche. –Unsere Großmutter ist mit unserm Wechsel nicht zufrieden. Sie nennt die Stadt ein elendes, schmutziges Dorf und kann nicht begreifen, warum der Kurfürst eine solche Sandwüste zur Residenz gewählt und eine Universität hier gegründet hat. Sie vermutet, Wittenberg habe große Ähnlichkeit mit der arabischen Wüste.
Aber Christoph und ich sind ganz anderer Meinung. Es sind mehrere schöne Gebäude hier, prachtvolle Kirchen, die Universität, das Schloß und das Augustinerkloster, und wir glauben sicher, daß auch die übrige Stadt mit der Zeit emporkommen wird. Ich habe meine Großmutter sagen hören, daß Kinder, deren Züge für ihre Gesichter zu groß sind, wenn sie herangewachsen, oft die hübschesten Leute werden. Und dies wird ohne Zweifel mit Wittenberg der Fall sein, welches gegenwärtig einem Kinde ähnlich sieht, mit der Nase und den Augen eines Mannes. Die Lehmmauern und die niedrigen, mit Stroh bedeckten Hütten passen freilich schlecht zu den neuen Gebäuden, dem kurfürstlichen Palaste und der Kirche am westlichen Ende, der Stadtkirche in der Mitte und dem Augustinerkloster und der Universität am östlichen Ende bei dem Elsterthore, in dessen Nähe wir wohnen.
Es ist wahr, daß hier weder dunkle Fichtenwälder, noch malerische Berge, noch liebliche, grüne Thäler zu finden sind, wie in Eisenach. Aber Großmutter brauchte es darum noch keine Wildnis zu nennen. Enge Thälchen und Gebüsche unterbrechen die weißen Sandhügel im Norden der Stadt; und im Süden, kaum zweihundert Ruten von der Stadt, fließt die breite, reißende Elbe durch ein Heideland.
Der große Strom ist meine Freude. Die Gedanken wandern zurück nach seiner Quelle in dem stillen, romantischen Gebirge und vorwärts nach seiner Heimat im weiten Meere. Wir hatten keinen Fluß bei Eisenach, und dies ist ein großer Vorzug von Wittenberg. Auch sind die Ufer mit niedrigen Eichen und Weiden eingefaßt, welche sich anmutig über das Wasser herabbeugen und unter denen es sich an Sommerabenden gar lieblich ausruhen läßt.
Wenn wir nur nicht ein wenig bange wären vor den Leuten. Vater sieht es nicht gern, wenn Eva oder ich allein ausgehen. Die Studenten sind auch gar zu ausgelassen. Dieses Jahr hat ihnen der Rektor verboten, Waffen zu tragen; das ist eine große Beruhigung. Aber auch die andern Einwohner sind kriegerisch und lärmend und trinken sehr viel Bier. Es gibt hier einhundert und siebenzig Brauereien, und doch hat die Stadt nicht mehr als dreihundertfünfzig Häuser. Wenige Eltern schicken ihre Kinder zur Schule; aber die Universität zählt fünfhundert Studenten aus allen Teilen Deutschlands.
Aermere Leute, die vom Lande herein auf den Markt kommen, reden eine Sprache, die ich gar nicht verstehen kann. Unsere Großmutter sagt, es seien Wenden, und diese Stadt liege gerade auf der Grenze der civilisierten Welt. Drüber hinaus, sagt sie, wohnen nur Barbaren und Tataren. Ja sie ist nicht einmal sicher, ob unsere Nachbaren Christen sind.
St. Bonifacius, der große Apostel der Deutschen, dehnte seine Wirksamkeit nicht über Sachsen aus und sie sagt, die deutschen Ritter, welche Preußen und die angrenzenden Gegenden eroberten, waren nur christliche Kolonisten, welche unter halbheidnischen Wilden lebten. Ich muß gestehen, es ist mir ein trauriger Gedanke, daß zwischen Wittenberg und den Türken und Tataren oder selbst den Wilden in Indien, welche Christoph Columbus entdeckt hat, nur ein paar halbcivilisierte Wenden in jenen elenden Dörfchen wohnen sollen, welche auf der sandigen Heide wie kleine Punkte hingestreut liegen.
Vater sagt, es sei ein herrlicher Gedanke, und er würde^ wenn er noch jünger wäre, eine Landexpedition unternehmen und so lange fortreisen, bis er mit den Spaniern und Portugiesen zusammenträfe, welche zur See nach demselben Orte gesegelt sind.
»Welch ein Gedanke,« sagte er, »in wenigen Wochen, oder höchstens Monaten, Cathay, El Dorado und sogar Atlantis erreichen zu können, wo die Häuser alle goldene Mauern und Dächer haben, und dann mit Schätzen beladen zurückzukehren! Seine Experimente mit Retorten und Schmelztiegeln, mit welchen er immer auf dem Punkte steht, Blei in Silber zu verwandeln, scheinen ihm derzeit ein fades und langsames Verfahren. Seit wir hier sind, hat er seine alchemistischen Versuche eingestellt und sitzt Stunden lang vor einer großen Karte, die er auf dem Tische ausgebreitet hat, mit der größten Genauigkeit und dem angestrengtesten Fleiße berechnend, wie viel man Zeit brauchen würde, um die neuentdeckten Länder der Spanier über Wendisch-Preußen zu erreichen. »Denn,« bemerkt er, »wenn ich auch nicht mehr fähig bin, diesen Plan auszuführen, so könnte ich vielleicht einen meiner Söhne berühmt und die ganze Familie reich und vornehm machen.«
Unsere Reise von Eisenach hierher war ein ununterbrochenes Fest für die Kinder. Für meine Mutter und das kleine Kind, das jetzt zwei Jahre alt ist, machten wir mit unsern Betten ein Lager auf dem Wagen, unsere Großmutter saß aufrecht in einem Eckchen zwischen den Möbeln. Die kleine Thekla saß auf einem Throne von Kissen, ihre kleinen Schätze zärtlich an's Herz drückend, nämlich eine zerbrochene Puppe, ein hölzernes Pferd, das ihr Christoph geschnitzt hat, einen kostbaren Vorrat von Tannenzapfen und Kieselsteinen aus dem Walde und einen sehr häßlichen, gemeinen Hundefindling, den sie angenommen hat und von dem sie sich durchaus nicht trennen will. Sie nennt den Hund Nix und ist ganz fest überzeugt, daß er mit seinen klugen Augen sie beständig bittet, ihn sprechen zu lehren und ihm eine Seele zu geben. So von ihren kleinen Hausgöttern umringt, zeigte sie wenig Kummer Eisenach zu verlassen.
Vater war gleichfalls ganz von seinen Schätzen in Anspruch genommen und nur beschäftigt, seine Folianten, Modelle und Instrumente eifersüchtig zu bewachen.
Eva hatte nur einen Schatz, von dem sie sich nie trennt: ihr liebes Buch » Theologia Germanica«, das sie sich zugeeignet hat.
Der Mutier Hauptgedanke war das Kleine. Chrimhilde war ganz niedergeschlagen über die Trennung von Pollux, welcher bei Vetter Konrad Cotta geblieben ist, und Atlantis war so ausgelassen vor Freude über die neue Welt und das neue Leben, aus welchem sie sich alle Sorgen des früheren verbannt denkt, daß es, wären Christoph und ich nicht gewesen, um die Interessen der Familie schlecht ausgesehen hätte.
Christoph und ich hatten über diese Zeit einen Waffenstillstand geschlossen in Betreff des Reineke Fuchs und unserer verschiedenen andern Streitigkeiten.
All' seine, für Unfug gewöhnlich so fruchtbaren Anlagen schienen plötzlich in nützliche Kanäle geleitet, wie die der mutwilligen Elfen in den Häusern und Feldern, wenn es ihnen einmal einfällt, irgend einem Armen einen Liebesdienst zu erweisen. Auf der ganzen Reise hat er kaum einmal meine Geduld auf die Probe gestellt. Seit wir hier in Wittenberg angekommen sind, kann ich freilich nicht dasselbe rühmen. Die Freunde, die er unter den Studenten gefunden hat, machen mir Sorge, und ich denke oft, wenn Fritzen seine Religion nur erlaubt hätte, bei uns zu bleiben, wenigstens bis die Knaben erzogen wären.
Ich hatte mich schon im Voraus gegen den Abschied von den alten Freunden und der Heimat gestählt; aber als der Umzug wirklich begann, hatte ich keine Zeit, an etwas anderes zu denken, als an das Packen der letzten Sachen, welche man fast vergessen hätte, und an die Notwendigkeit, ein Jedes auf seinem Platze einzurichten. Thekla und ihre Schätze hätten fast durch den Sturz einer von Vaters Maschinen ein frühes Ende gefunden; ein Unfall, der Thekla so erschreckte, und Großmutter, Nix und das Kleine so aufregte, daß es keine kleine Mühe kostete, Alle wieder zu beruhigen, und indessen war der Wagen um die Ecke der Straße gefahren, und das liebe, alte Haus war mir aus dem Gesicht. Es schmerzte mich, wie wenn ich ihr Unrecht gethan hätte, der treuen, alten Heimat, welche uns so viele Jahre hindurch beschützt hat, und der stille Zeuge so vieler Sorgen und Schmerzen gewesen ist.
Am ersten Tage hatten wir wenig Abenteuer, ausgenommen daß Theklas Ruhe oft durch die Streitigkeiten gestört wurde, welche der naseweise Nix mit den Katzen und Hunden und mit deren Eigentümern in den Dörfern anfing.
Der erste Abend im Walde war herrlich. Wir lagerten in einer Lichtung. Trockenes Holz wurde gesammelt, um ein Feuer zu machen, das wir mit den Betten und Möbeln umringten, die wir leicht abladen konnten, und die Kinder waren außer sich vor Freude, solche häusliche Arbeit und Spiel mit einander zu verbinden, indessen Christoph die Pferde fütterte und festband.
Nach unserer Mahlzeit begannen wir Geschichten zu erzählen; aber Großmutter verbot ausdrücklich, die Waldgeister oder andere solche unheimliche Geschöpfe zu nennen.
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Alles war so seltsam und großartig um uns her, und ich glaubte, zwischen den Fichten klagende Töne, Seufzer und Stöhnen zu hören, die der Wind nicht hervorgebracht hatte. Es wurde mir unheimlich, und ich richtete mich endlich auf, um zu sehen, ob sonst Niemand wach sei.
Mir gegenüber saß Eva, ihr Gesicht den Sternen zugewendet, die Hände gefaltet und ihre Lippen leise bewegend wie im Gebet. Sie erschien mir wie ein Schutzengel, und instinktmäßig rückte ich ihr näher.
»Eva,« flüsterte ich endlich, »hörst du nicht auch seltsame, unerklärliche Stimmen um uns her? Ich möchte wissen, ob es wahr ist, daß geheimnisvolle Wesen in den Wäldern hausen?«
»Ich glaube, daß wir immer von Geistern umgeben sind, Base Else,« versetzte sie, »von guten Geistern, die uns beschützen und uns dienen, und von bösen, welche Uebels mit uns im Sinne haben. In der Einsamkeit, vermute ich, fühlen wir sie uns näher, und vielleicht sind sie es auch.«
Das beruhigte mich gar nicht.
»Eva,« sagte ich, »es wäre mir lieb, wenn du einige Gebete hersagtest; ich besorge nicht die rechten zu treffen. Aber fürchtest du dich denn wirklich gar nicht?«
»Warum sollte ich denn?« sagte sie sanft. »Gott ist uns näher als alle Geister, gute und böse, –näher und mächtiger als alle. Und er ist die Güte selbst. Ich liebe die Einsamkeit, Base Else, weil sie mich über alles Irdische emporzuheben scheint« zu dem Einen, der Alles in Allem ist. Und ich liebe die wilden Wälder,« fuhr sie fort, wie zu sich selbst sprechend, »weil Gott hier der einzige Eigentümer ist und ich hier noch deutlicher fühle, daß wir und die Kreaturen, und Alles, was wir unser nennen, sein und nur sein sind. In den Städten werden die Häuser nach den Namen der Besitzer genannt, und jedes Haus ist in kleinere Teile eingeteilt; von jedem derselben sagt einer, es ist mein. Aber hier gehört Gott alles an, ungeteilt, Allen gemeinschaftlich. Es ist nur ein Tisch, und das ist der Seine; alle Geschöpfe leben als seine freien Kostgänger von seiner Güte.«
»Ist es denn eine Sünde, etwas sein Eigentum zu nennen,« fragte ich.
»Mein Buch sagt, daß diese Selbstsucht die Ursache von Adams Fall war,« erwiderte sie. »Einige sagen, daß Adam fiel und verloren ging, weil er den Apfel aß, aber mein Buch sagt, es war, weil er etwas zu eigen haben wollte, weil er sagte, ich, mein, mir etc. etc.
»Das ist sehr schwer zu verstehen,« sagte ich. »Darf ich denn nicht sagen, meine Mutter, mein Vater, mein Fritz? Muß ich Alle gleich lieb haben, weil Alle Gott gleichmäßig angehören? Wenn das Eigentum eine Sünde ist, warum ist dann Stehlen eine Sünde? Eva, diese Religion ist für mich zu hoch. Es scheint mir fast, wenn dies wahr ist, ebenso unrecht, für das, was man hat, zu danken, als zu gelüsten nach dem, was man nicht hat, weil wir überhaupt nicht denken sollten, daß wir etwas haben. Das verwirrt mich ganz.«
Ich legte mich wieder nieder, entschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken. Fritz und ich haben es vor vielen Jahren erfahren, wie gefährlich es ist, über die Zehn Gebote hinausgehen zu wollen. Indem ich zu verstehen suchte, was Eva gesagt, wurde ich so verwirrt, daß meine Gedanken ganz zügellos umherschweiften. Ich hörte weder Eva noch den Wind mehr und fiel in einen tiefen Schlummer und träumte, daß Eva und ein Engel die ganze Nacht neben mir lateinisch sprachen, was ich immer verstehen wollte, aber nicht konnte.
Am nächsten Tage waren wir noch nicht lange aufgebrochen; ein schmaler Weg führte uns eben durch ein tiefes Thal, als ein Trupp Reiter plötzlich aus einem Schlosse, das. auf dem Hügel zu unserer Rechten thronte, heraus und auf uns lossprengte und uns den Weg mit vorgehaltenen Lanzen versperrte.
»Gehört ihr zu Erfurt?« fragte der Anführer, die Köpfe unserer Pferde nach der Seite wendend und Christoph mit dem Flintenkolben wegdrängend.
»Nein,« sagte Christoph, »nach Eisenach.«
»Macht Platz, Leute,« rief der Ritter seinen Leuten zu. »Wir haben keinen Streit mit Eisenach. Das sind nicht die, auf welche wir warten.«
Die Reiter ließen uns vorbei fahren, aber ein junger Ritter, der ihr Anführer schien, ritt eine Zeit lang neben uns her.
»Seid Ihr vielleicht auf Eurem Wege an Güterwagen vorbeigekommen?« fragte er Christoph in dem Tone, womit er einen Bauern angeredet hätte.
»Beladen, wie wir sind, ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß wir irgend einen überholen,« war Christophs nicht allzu höfliche Antwort.
»Was habt Ihr geladen?« fragte der Ritter weiter.
»All unsre irdischen Güter,« erwiderte Christoph kurz.
»Wie heißt Ihr, Freund, und wohin zieht Ihr?«
»Cotta,« antwortete Christoph. »Mein Vater ist der Director in der Buchdruckerei des Kurfürsten auf der neuen Universität zu Wittenberg.
»Cotta!« wiederholte der Ritter mit mehr Achtung; »ein guter Bürgersname;« und ritt bei diesen Worten zum Wagen zurück, grüßte meinen Vater und betrachtete uns Alle mit einer Dreistigkeit, als ob wir seine Aufmerksamkeit uns zur Ehre rechnen müßten, bis sein Auge auf Eva fiel, welche ihren Arm um Thekla geschlungen hatte, das erschreckte Kind zu beruhigen, indem sie ihr half, Sträußchen zu binden aus Veilchen, welche ihr Christoph einige Minuten vorher gepflückt hatte. Mit leiserem Tone sagte er nun, seinen Hut vor Eva abnehmend und sich zu ihr wendend:
»Dies ist sicher kein Bürgermädchen. Darf ich um Ihren Namen fragen, mein schönes Fräulein?«
Eva gab keine Antwort, sondern fuhr fort, sich mit ihren Blumen zu beschäftigen, ohne daß irgend eine Veränderung in ihrer Farbe oder ihren Zügen sichtbar gewesen wäre, außer einem leichten Zucken ihrer Lippen.
»Das Fräulein ist in Ihren Strauß vertieft; wenn wir nur näher bei unserem Schlosse wären, daß ich Ihr Blumen anbieten könnte, die Ihrer Mühe würdiger wären!«
»Sprechen Sie mit mir?« sagte endlich Eva, ihre großen, dunklen Augen aufschlagend und ihn mit ihrem ernstesten Blicke anschauend; »ich bin kein Fräulein, sondern ein Bürgermädchen; aber wäre ich selbst eine Königin, so würden die kleinen Blümlein, die Gott wachsen läßt, schön genug für mich sein. Und,« fügte sie hinzu, »einem wahren Ritter ist ein Bauernmädchen so heilig wie eine Königin.«
Niemand vermochte je mit diesem ernsten Ausdruck in Eva's Gesicht zu scherzen. Jetzt war er beschämt. Seine Dreistigkeit verließ ihn gänzlich, und er murmelte leise: »Ich habe die Zurechtweisung verdient. Diese Blumen sind zu schön, wenigstens für mich. Wenn Ihr mir aber eine schenken wolltet, würde ich sie heilig halten wie eine Gabe meiner Mutter oder die Reliquie einer Heiligen.«
»Ihr könnt sie überall hier im Walde sammeln,« sagte Eva; allein die kleine Thekla nahm beide Händchen voll Veilchen und reichte sie ihm:
»Du kannst sie alle haben, wenn du willst,« sagte sie. »Bruder Christoph pflückt mir wieder andere.«
Er nahm sie sorgfältig aus den Händen des Kindes, verbeugte sich tief und sprengte dann zu seinen Leuten, die uns gegenüber hielten, zurück. Hierauf kehrte er wieder um, sprach einige Worte leise mit Christoph und zog sich mit seiner Truppe in einige Entfernung hinter uns zurück und begleitete uns von Weitem, bis wir nahe bei Erfurt angekommen waren. Dann sprengte er an meines Vaters Seite und sagte schnell: »Ihr seid jetzt sicher und bedürft keines Geleites mehr,« verneigte sich ehrerbietig gegen uns und galloppierte dann mit seinen Leuten wieder nach dem Walde zurück, so daß wir bald das Stampfen ihrer Rosse nicht mehr vernehmen konnten.
»Was sagte dir der Ritter, Christoph?« fragte ich, als wir am Abend in Erfurt Halt machten.
»Er sagte, daß gegenwärtig dieser Teil des Waldes unsicher sei, wegen einer Fehde zwischen den Rittern und den Bürgern, und daß, wenn wir es erlaubten, er uns bis in die Nähe von Erfurt geleiten wolle.«
»Nun,« sagte ich, »das wenigstens war höflich von ihm.«
»Hm! Solche Höflichkeit, wie sie ein Bürger von einem Ritter erwarten kann,« versetzte Christoph unnachgiebig. »Uns zu beleidigen ohne Ursache und hernach uns vor ihren eigenen ungesetzlichen Bedrückungen beschützen! Aber die Weiber sind immer bezaubert von allem, was ein Mann zu Pferde thut.«
»Niemand ist bezaubert, von wem es auch sei,« versetzte ich; denn es ärgert mich immer, wenn der Junge in diesem Tone von den Weibern spricht. Da trat unsere Großmutter ins Mittel, indem sie sagte: »Streitet euch nicht, Kinder! wenn euer Großvater nicht unglücklich gewesen wäre, würdet ihr selbst zum Ritterstande gehören, deshalb ziemt es euch nicht, den Adel herabzusetzen.«
»Ich würde nie weder ein Ritter, noch ein Priester, noch ein Räuber geworden sein,« behauptete Christoph. Allein es war doch ein Trost für Großmutter und mich, zu überlegen, wie vornehm wir geworden wären, ohne einige kleine, unglückliche Hindernisse. Großmutter nahm unsern Vater niemals in den Stammbaum auf.
In Leipzig ließen wir die Kinder unter Christophs Aufsicht, während Großmutter, Mutter, Eva und ich uns zu Fuß aufmachten, um Tante Agnes im Kloster zu Nimptschen zu besuchen, wohin sie vor einigen Jahren von Eisenach versetzt worden war.
Wir sahen sie bloß durch das Klostergitter, aber Stimme, Manieren und Gesicht schienen mir völlig unverändert seit jener letzten Zusammenkunft, bei welcher sie mich so sehr mit ihrer Frage erschreckte, ob ich nicht eine Schwester werden und Fritz verlassen wolle.
Nur klang ihre Stimme noch mehr wie eine umwickelte Glocke, die bei Leichenbegängnissen geläutet wird, besonders als sie in Bezug auf Fritzens Eintritt ins Kloster sagte: »Gelobt sei Gott und die heilige Jungfrau und alle Heiligen! Er hat also meine unwürdigen Gebete erhört; und eines, wenigstens ist gerettet!«
Mich überlief ein kalter Schauder bei diesen Worten. Sie hatte also diese langen Jahre hindurch gebetet, daß unser Glück zerstört, unsere Heimat verödet werden möchte! Und Gott hatte sie erhört! War das unselige Verhängnis, welches meine Mutter verschuldet zu haben glaubte, am Ende nichts anderes, als Tante Agnesens schreckliche Gebete?
Ihr Gesicht sah in den Falten des weißen Linnen, das nur ein regelmäßiges Oval von ihrem Gesichte frei ließ, so leblos aus als jemals. Ihre Stimme war metallisch und leblos, ihre Hand bei der Berührung kalt wie Marmor.
Meine Mutter weinte, als wir von ihr Abschied nahmen,, und sagte: »Liebe Agnes, vielleicht werden wir uns auf dieser Welt nicht wiedersehen.«
»Das könnte wohl sein,« war die Antwort.
»Du wirst uns nicht vergessen, Schwester,« sagte meine Mutter.
»Ich vergesse Euch nie,« antwortete sie in derselben tiefen, leisen, festen, klanglosen Stimme, die an keine anderen Töne gewöhnt schien, als an den gregorianischen Gesang zur Orgel.
Und sogar noch in diesem Moment klingen ihre Worte wie Grabgeläute in meinem Herzen wieder.
Sie vergißt uns nicht. –
In ihren nächtlichen Gebeten, täglich in Kirche und Zelle, wacht sie über uns und bittet Gott, uns nicht zu viel Glück zu schenken.
Und Gott erhört ihre Gebete. –Es ist nur zu klar, daß er sie hört. Hatte sie ihn nicht darum gebeten, daß er aus Fritz einen Mönch machen möchte? Und ist er nicht auf immer von uns getrennt?
»Wie hat es dir im Kloster gefallen, Eva?« fragte ich, als wir des Nachts allein waren.
»Es schien mir sehr still und friedlich,« sagte sie. »Ich weine, man kann da sehr glücklich sein. Man hat da so viele Zeit zum Gebet. Man kann sich dort vielleicht bester selbst vergessen und Gott näher kommen.«
»Aber wie fandest du Tante Agnes?«
»Ich fühlte mich zu ihr hingezogen. Ich glaube, sie hat viel gelitten.«
»Mir scheint sie gleich tot für Freuden wie für Leiden,« sagte ich.
»Aber man stirbt so nicht ohne tiefe Schmerzen,« sagte Eva sehr ernst.
Unser Haus zu Wittenberg ist klein. Aus den Fenstern des obern Stockes sehen wir über die Stadtmauern hinüber nach der Heide und zur Elbe, welche zwischen den kleinen Eichen und Weiden durchschimmert. Hinter dem Hause ist ein Stück unbebautes Land, welches Christoph in seinen Mußestunden in einen Gemüsegarten umzuwandeln bemüht ist. Auf jeder Seite des geraden Weges, der den Garten durchschneidet, werden wir ein Blumenbeet anlegen mit Affodillen, Stiefmütterchen, Rosen, wohlriechenden Veilchen, Nelken und Mauerblumen. Am Ende des Gartens stehen ein Birnbaum und zwei Aepfelbäume, deren Blüten, als wir ankamen, eben abgefallen waren und einen Teppich von weißen und roten Blumen gebildet hatten. Dorthin trage ich meinen Stickrahmen, wenn die Hausarbeit vollendet ist; zuweilen kommt die kleine Thekla und plaudert mit mir, zuweilen liest Eva mir vor oder singt. Ich muß gestehen, es thut mir leid, daß Eva neuerdings so sehr in ihre Theologica Germanica verlieft ist. Ich kann dieses Buch nicht so gut verstehen wie die lateinischen Lieder, wenn sie mir einmal übersetzt worden sind; denn diese reden von Jesu, dem Heiland, welcher die himmlische Heimat verließ und müde am Wege saß und uns suchte, oder von Maria, seiner lieben Mutter, und wenn sie auch zuweilen von Gottes Zorn und Gericht sprechen, so weiß ich doch wenigstens, was das bedeutet. Aber jenes Buch ist für mich wie ein blendender Nebel, ohne Sonne, Mond und Sterne, ohne Himmel, Erde, Meer oder irgend etwas Erkennbares; nichts als ein Glanz undeutlicher Herrlichkeit, der Gott ist, der Eine, welcher Alles ist, ein Ocean von Güte, in den wir uns auf eine geheimnisvolle Weise versenken sollen. Aber ich bin eben kein Ocean, noch ein Teil desselben, und ich kann einen Ocean auch nicht lieben, nur weil er unendlich, unergründlich, oder allgenügend oder dergleichen ist.
Die Vorstellung, die sich meine Mutter von Gott macht, wie er darüber wacht, daß wir nicht zu glücklich seien und keinen andern mehr lieben als ihn, wie er der Irrtümer und Sünden unserer Jugend gedenkt und die Strafe bis zu dem Augenblicke aufschiebt, wo wir sie am schmerzlichsten fühlen, ist gewiß schrecklich genug. Aber selbst diese Idee ist nicht so verwirrend und traurig wie jenes alles verschlingende Wesen in Eva's Buch. Der Gott, den meine Mutter fürchtet, hat freilich Blicke der strengsten Gerechtigkeit und zorniges Stirnerunzeln gegen den Sünder; aber wenn man lernen könnte, ihm zu gefallen, würde der Blick freundlich, der Zorn würde vorübergehen. Es ist doch ein Gesicht, ein Herz, das dem unsrigen entgegenkommt. Aber wenn Eva mir aus ihrem Buche vorliest, so däucht mir, ich sehe hinauf in den Himmel und sehe nichts als Himmel –Licht, Raum, Unendlichkeit und so fort; freilich ein geistiges Licht, Vollkommenheit, Reinheit, Güte, aber keine Augen, in welche ich schauen kann, kein Herz, das mir entgegenschlägt, Niemand, mit dem ich reden, den ich berühren oder sehen könnte.
Diesen Abend öffneten wir unser Fenster und sahen über die Heide hinweg nach der Elbe.
In der Stadt war es ganz still. Der Himmel über uns war so groß und hoch. Wir glaubten Reihen von Sternen über einander zu sehen in der klaren Luft. Der einzige Ton, welcher die Stille unterbrach, war das ferne, stete Gebrause des breiten Stromes, welcher hie und da im Sternenlicht glänzte.
Eva schaute mit ihrem ruhigen, freudigen Blicke hinauf. »Dein,« sagte sie leise; »alles dieses ist Dein, und wir sind Dein, und Du bist hier! Wie viel seliger ist es doch, hinaufblicken zu können, ohne daß irgend eine Schranke unseres armen Besitztums sich zwischen uns und Ihn stellt, den Herrn Himmels und der Erde! Wie viel ärmer wären wir als Herren des Landes, wie der Kurfürst, wenn wir sagten: »Alles dieses ist mein,« und so unser Ich in Allem sähen anstatt Gott.«
»Wohl,« versetzte ich, »wenn wir dabei blieben, ich und mein zu sagen; aber ich würde sehr dankbar sein, wenn Gott mir ein bißchen mehr von seinem Ueberflusse gäbe für unsere Bedürfnisse. Und doch wie viel besser steht es hier mit uns als vorher; Vaters Anstellung als Director der kurfürstlichen Druckerei, anstatt seiner eigenen unsicheren Unternehmungen, und meine Stickerei! Eva, mir scheint es zuweilen, wir könnten noch eine glückliche Familie werden.«
»Mein Buch,« erwiderte sie nachdenklich, »sagt, wir können nie ganz zufrieden in Gott sein, oder wahrhaft frei, bis uns Alles ganz einerlei, der Eine uns Alles, und Etwas und Nichts uns ganz gleich ist. Ich vermute, daß ich noch nicht ganz wahrhaft frei bin, Base Else; denn ich mag diesen Ort nicht so gern, wie unsere alte Heimat in Eisenach.« –
Ich wurde ganz ungeduldig und sagte: »Wie könnte ich oder eines von uns irgend eine Heimat so lieb haben wie sonst, seitdem Fritz fort ist. Aber Nichts und Etwas mir gleich sein lassen, das kann ich nimmermehr und werde es auch nie versuchen. Da könnte man eben so gut gleich tot sein!«
»Ja,« sagte Eva ernsthaft, »ich vermute, wir werden es nie ganz verstehen oder ganz zufrieden und frei sein, bis wir sterben.«
Damit endigte unser Gespräch diese Nacht; aber ich hörte sie eines ihrer Lieblingslieder singen:
Ad perennis vitæ fontem mens sitivit arida,
Claustra carnis præsto frangi clausa quærit anima:
Gliscit, ambit, electatur uxul frui patria.
Dum pressuris ac ærumnis se gemit abnoxiam,
Quam amisit, dum deliquit, contemplatur gloriam.
Præsens malum äuget boni perditi memoriam.
Nam quis promat summæ pacis quanta sit lætitia,
Ubi vivis margaritis surgunt ædificia,
Auro celsa micant tecta, radiant triclinia?
Nam et sancti quique velut sol plæclarus rutilant;
Post triumphum coronati mutuo conjubilant,
Et prostrati pugnas hostis jam securi numerant.
Omni labe defæcati carnis bella nesciunt
Caro facta spiritalis et mens unum sentiunt
Pace multa perfruentes scandala non perferunt.
Mutabilibus exuti repetunt originem,
Et præsentem veritatis contemplantur speciem,
Hinc vitalem vivi fontis hauriunt dulcedinem.
Inde statum semper idem existendi capiunt;
Clari, vividi, jucundi nullis patent casibus:
Absunt morbi semper sanis, senectus juvenibus.
Hinc perenne tenent esse, num transire transiit,
Inde virent, vigent, florent: corruptela corruit,
Immortalitatis vigor mortis jus absorbuit.
Qui scientem cuncta sciunt, quid nescire nequeunt;
Nam et pectoris arcana penetrant alterutrum,
Unum volunt, unum nolunt, unitas est mentium.
Novas semper melodias vox meloda concrepat,
Et in jubilum prolata mulcent aures organa,
Digna par quem sunt victores regi dant præconia.
Felix cœli qui presentem regem cernit anima,
Et sub sede spectat alta orbis volvi machinam,
Solem, lunam et globosa cum planetis sidera.
Christe palma bellatorum hoc in municipium,
Introduc me post solutum militare cingulum,
Fac consortem donativi beatorum civium.
Probes vires inexhausto laboranti prœlio
Nec quietem post procinctum denegas emerito
Teque merear potiri sine fine præmio.
Zu deutsch:
Nach des ew'gen Lebens Quelle
Schmachtet sehnsuchtsvoll der Geist,
Hart der Stunde, da den Banden
Dieses Leibs er sich entreißt;
Ringt ein Fremdling nach dem Lande,
Das von fern der Glaub' ihm weist.
Bei der Sorge und dem Kummer,
Der ihn stets noch hier umschließt,
Denket er der hohen Wonne,
Die durch Sünd er eingebüßt,
Und er fühlt in seinen Schmerzen
Doppelt, was verloren ist.
Wer, wer schildert deine Freuden,
Gottesstadt, der Lust Gebiet,
Wo vom edelsten Gesteine
Man die Mauern glänzen sieht,
Wo vom allerreinsten Golde
Alles ringsum hell erglüht?
Dort, dort leuchten auch die Frommen
Gleich der Sonn' mit hellem Strahl,
Und aus ihrem Munde tönet
Froher Siegeslieder Schall;
Wonnevoll ermißt ihr Auge
Der bestand'nen Kämpfe Zahl.
Die die Sünde nicht beflecket,
Kennen nicht des Fleisches Streit;
Geistig lebet mit dem Geiste
Auch der Leib in Einigkeit,
Und der Bund, der sie verknüpfet,
Wird durch keine Lust entweiht.
Von der Sterblichkeit entkleidet
Forschen sie der Dinge Grund,
Und die Wahrheit ohne Schleier
Macht sie selber ihnen kund;
Aus des Lebens Quelle schöpfet
Kraft und Seligkeit ihr Mund.
Alles Alte ist vergangen,
Es erscheinet alles neu.
Von des Zeitenlaufes Wechsel,
Von dem Eitlen sind sie frei.
Weg sind Krankheit und Gebrechen,
Weg sind Thränen und Geschrei.
Ewig leben sie und ewig
Währet, was ihr Herz erfreut.
Stets in frischer Jugendblüte
Trotzen sie der Sterblichkeit,
Keine Furcht, kein Kummer störet
Ihre reine Seligkeit.
Die der Weisheit Urquell kennen,
Was kann denen dunkel sein?
Selbst in And'rer Herzenstiefen
Dringet nun ihr Auge ein.
In dem Wollen, in dem Wünschen
Stimmet alles überein.
Immer neue Harmonien
Tönt der Seligen Gesang,
Und zu himmlischen Gefühlen
Stimmt der Harfen süßer Klang.
Ihrem König, ihrem Retter,
Weih'n die Sieger würd'gen Dank.
Glücklich, einst in diesen Scharen,
Vor des Himmels Herrn zu steh'n!
Glücklich, von dem hohen Sitze,
Diesen Weltenbau zu seh'n,
Und wie in den weiten Bahnen
Tausend Sternenheere gehn.
Christus, Du der Kämpfer Palme,
Führ' in dieses Land mich ein,
Laß auch nach des Lebens Mühen
Mich der Siegeskron' erfreu'n,
Daß ich mit den Himmelsbürgern
Ewig möge selig sein!
Noch ist nicht der Lauf vollendet!
Schenke mir zum Kampfe Mut.
Bis, von seiner Arbeit müde,
Einst bei Dir der Kämpfer ruht,
Und ich Deiner ohne Ende
Mich erfreu', Du höchstes Gut! –
Heilige Woche.
In Wittenberg ist es diese Woche sehr lebhaft zugegangen. Es wurden große Mysterien in der Stadtkirche aufgeführt, und in der Schloßkirche waren alle Reliquien ausgestellt. Scharen von Pilgern kamen aus den benachbarten sächsischen und wendischen Dörfern. Es war sehr unangenehm, durch die Straßen zu gehen, wo so viel Bier getrunken wurde; auch haben die Studenten und Bauern häufig Schlägereien gehabt. Es ist nur gut, daß man jetzt durch den Besuch der Reliquien viel Ablaß erlangen kann; denn die Pilgrime scheinen desselben sehr zu bedürfen.
Die heiligen Mysterienspiele waren prachtvoll. Judas sah ganz abscheulich aus, buckelig und angekleidet wie ein reicher jüdischer Geizhals, und die Teufel waren greulich genug, um Kinder ein ganzes Jahr lang in Furcht zu setzen. Die kleine Thekla, weiß angekleidet, mit Flügeln von Gaze, stellte einen lieblichen Engel vor und war dabei sehr vergnügt. Man bat Eva, eine der heiligen Frauen am Fuße des Kreuzes vorzustellen; allein sie wollte es nicht. Ja, sie hätte beinahe geweint bei dem Gedanken, und die ganze Ceremonie gefiel ihr durchaus nicht. »Alles dies ist wirklich geschehen,« sagte sie; »man hat Ihn wirklich gekreuzigt und Er ist auferstanden und gen Himmel gefahren. Nein, ich kann es nicht ertragen, dies wie ein Märchen aufgeführt zu sehen!«
Am zweiten Tag war in der That mehr Scherz und Satyre als mir lieb war. Christoph sagte, es erinnere ihn an »Reineke Fuchs«.
Am Nachmittag des zweiten Festtages vermißten wir Eva, und als ich ein paar Stunden später nach Hause ging, um sie zu suchen, fand ich sie vor unserm Bette knieend und schluchzend, als ob ihr das Herz brechen wollte. Ich schloß sie in meine Arme; aber ich konnte nichts entdecken, was ihr widerfahren war, außer daß der junge Ritter, der uns im Walde angehalten und nachher geleitet hatte, sie sehr ehrfurchtsvoll gegrüßt und ihr einige getrocknete Veilchen gezeigt hatte, welche er, wie er versicherte, ewig als Andenken an sie und ihre Worte aufbewahren wolle.
Mir schien dies keine unverzeihliche Beleidigung, und ich sagte es ihr.
»Er hat kein Recht, etwas um meinetwillen aufzubewahren,« schluchzte sie. »Niemand soll je ein Recht haben, etwas von mir zu bewahren, und wenn Fritz hier wäre, würde er es nicht erlaubt haben.«
»Evchen,« sagte ich, »was ist aus deiner Theologia Germanica geworden? Dein Buch sagt, du sollst alles sanftmütig aufnehmen und gleichgiltig sein gegen Bewunderung sowie gegen Tadel.«
»Base Else,« sagte Eva sich aufrichtend und mit gefalteten Händen vor mir stehend, »ich habe meine Theologia noch nicht ganz ausgelernt; aber ich habe mir vorgenommen, es zu versuchen. Die Welt scheint mir sehr böse und sehr traurig, und es gibt darin keinen Platz für eine Waise wie ich. Nur als Frau oder Nonne kann man hier Ruhe haben. Eine Frau werde ich nie werden und deshalb, liebe, liebe Else,« fuhr sie fort, wieder niederknieend, und mich in ihre Arme schließend, »habe ich mich soeben entschlossen: ich will in das Kloster gehen, wo Tante Agnes ist und eine Nonne werden.«
Ich versuchte nicht, ihr Einwendungen zu machen, aber den nächsten Tag erzählte ich es der Mutter, welche traurig sagte: »Armes Kind! Sie wird dort glücklicher sein. Wir müssen sie gehen lassen.«
Allein sie wurde blaß wie der Tod, ihre Lippen zitterten, und sie setzte hinzu: »Ja, Gott muß die vorzüglichsten haben. Da hilft kein Widerstreben.« Dann fürchtend, mir wehe gethan zu haben, küßte sie mich und sagte: »Seitdem Fritz uns verlassen hat, ist sie mir so teuer geworden. Allein ich darf nicht murren, wenn meine liebe Else mir noch bleibt.«
»Mutter,« fragte ich, »glaubst du, daß Tante Agnes auch dies erbetet hat?«
»Wahrscheinlich,« antwortete sie mit erschrockener Miene, »sie hat Eva sehr ernstlich angesehen.«
»Dann, Mutter,« versetzte ich. »werde ich sogleich an Tante Agnes schreiben, daß sie nicht so weder für dich noch für mich beten soll. Denn bei mir wäre es ganz vergeblich.. Und wenn du die heilige Elisabeth nachahmen und uns verlassen wolltest, so würde es uns allen das Herz brechen, und die Familie würde ganz zu Grunde gehen.«
»Wo denkst du hin, Else?« antwortete die Mutter sanft. »Für mich ist es wahrscheinlich zu spät, eine Heilige werden zu wollen. Ich kann nur noch hoffen, daß Gott nach seiner großen Barmherzigkeit mir dereinst meine Sünden verzeihen, und mich als das geringste seiner Geschöpfe annehmen wird, um seines lieben Sohnes willen, der am Kreuze gestorben ist. Was meintest Du denn mit dem Nachahmen der heiligen Elisabeth?«
Ich war beruhigt und ließ das Gespräch fallen, aus Furcht, meine Mutter möchte dadurch gerade auf den Gedanken, den ich fürchte, gebracht werden.
Wittenberg, im Juni.
So sind also Eva und Fritz, die zwei Frommen der Familie fort. Sie sind in ihre verschiedenen Klöster gegangen, um zu Heiligen gemacht zu werden, und haben uns allein gelassen, damit wir uns ohne sie in der Welt durchkämpfen;, und mit ihnen ist uns alles genommen, was uns antrieb, weniger irdisch gesinnt zu sein. Es ist mir, als ob ein liebliches Madonnenbild aus der Wohnstube hinweggenommen wäre, seit Eva fort ist, und daß wir statt dessen nichts als Familienbilder oder Gemälde von gewöhnlichen irdischen Gegenständen hätten; oder als ob ein Fenster, das nach den Sternen hinausging, verbaut oder zugemauert worden wäre. Sie war immer so ein Stückchen Himmel unter uns.
Und wie sehr vermisse ich sie des Nachts in unserm kleinen. Stübchen! Es war geheiligt durch ihre Gebete. Mir fehlt ihr süßer, frommer Gesang bei meiner Stickerei. Ich habe nichts mehr, das meine Gedanken von den Anordnungen des nächsten, von den Mühen des gestrigen und den Sorgen und Verlegenheiten des heutigen Tages ablenkte. Ich wußte gar nicht, welche Stütze sie für mich war. Sie war immer so kindlich und über meine kleinlichen Sorgen erhaben; in praktischen Dingen verstand ich sicher viel mehr als sie, und doch wenn ich etwas mit ihr besprach, so schien mir die Bürde abgenommen, –Sorgen verwandelten sich in Pflichten, meine Gedanken wurden klarer, indem mein Herz sich erleichtert fühlte. Sie riet mir nicht, was ich thun sollte, aber sie überzeugte mich, daß alles zum Besten sei, daß Gott es so gelenkt habe; und dann kamen mir die richtigen Einfälle wie von selbst.
Ich fürchte, Mutter härmt sich um Eva ebensosehr wie um Fritz; aber sie bemüht sich, es zu verbergen, um nicht undankbar für die Liebe ihrer übrigen Kinder zu scheinen.
Oft überfällt mich eine entsetzliche Angst, daß Tante Agnesens Gebete auch für unsere liebe teure Mutter auf die eine oder andere Weise erhört werden können. Sie steht so bleich und niedergeschlagen aus.
20. Juni.
Soeben ist Christoph, der Eva nach dem Kloster gebracht hat, zurückgekehrt. Er sagt, sie habe bei seinem Abschied viele Thränen vergossen, und das ist ein Trost. Ich könnte es nicht ertragen, daß ihr schon alles gleichgiltig wäre. Er sagte mir auch etwas, das mich sehr besorgt macht. Unterwegs bat ihn Eva, meines Vaters Gesicht, das in der letzten Zeit ein wenig abgenommen habe, sehr zu schonen. Und vor seiner Abreise brachte sie ihm einen kleinen Krug mit destilliertem Augenwasser, welches die Nonnen sehr gut zu bereiten verstehen, und sandte es unserem Vater mit Schwester Aves Gruß.
Es ist wahr, mein Vater hat neuerdings weniger gelesen und jetzt fällt mir ein, daß er mich ein paar Mal Dinge suchen und ihm bei seinen Modellen helfen ließ, wie er es sonst nie zu thun pflegte.
Es ist seltsam, daß Eva mit ihren tiefen, ernsten, sanften Augen, welche so wenig herumzuschauen schienen, doch immer vor allen andern bemerkte, was einem fehlte. Süßes Kind! Sie wird oft an uns und unsere kleinen Sorgen denken! Und sie wird Augenwasser machen, was gewiß besser ist, als den ganzen Tag in der melancholischen » Theologia Germanica« zu lesen.
Müssen wir denn unsere Eva jetzt Ave nennen? Sie hat mir das Lied selbst abgeschrieben und durch Christoph geschickt. Sie sang es sehr oft und hat mir die Worte erklärt:
Ave maris stella,
Dei mater alma
Atque semper virgo
Felix cœli porta.
Sumans illud Ave
Gabrielis ore,
Funda nos in pace
Mutans nomen Evæ.
Solve vincla reis,
Profer lumen cæcis,
Mala nostra pelle,
Bona cuncta posce.
Monstra te esse matrem,
Sumat per te precem,
Qui pro nobis natus
Tulit esse tuus.
Virgo singularis,
Inter omnes mitis,
Nos culpis solutos
Mites fac et castos.
Vitam præsta puram,
Iter para tutum,
üt videntes Jesum
Semper collætemur.
Sit laus Deo patri,
Summo Christo decus,
Spiritui sancto
Honor trinus et unus.
Zu deutsch:
Ave, Stern im Lebensmeere,
Mutter Gottes voll der Ehre,
Reinste Jungfrau, sei gegrüßt;
Hochbeglückte Himmelspforte,
Du hast durch des Engels Worte
Evas Namen uns versüßt.
Gieb den Sündern Gottesfrieden,
Löse unsre Schuld hienieden,
Gieb den Blinden Trost und Licht!
Was uns schädlich ist, verhüte!
Was uns nützlich ist, erbitte!
Mutter, ach verlaß uns nicht!
Schönstes Muster aller Tugend,
Hilf dem Alter, hilf der Jugend,
Mach' uns schuldlos, sanft und rein!
Hilf uns Schwachen durchzudringen,
Wenn wir mit der Sünde ringen
Und zu Gott um Beistand schrei'n.
Lehr' uns leben, lehr' uns sterben,
Führe uns als Himmelserben
Einst in Deines Sohnes Reich!
Gott der Vater sei gepriesen,
Ehre sei dem Sohn erwiesen
Und dem heil'gen Geist zugleich.
Ich weiß wohl, es ist kein ungewöhnlicher Name bei den Nonnen.
Nun wohlan, so teuer mir auch der alte Name war, so kann ich mich doch über den Tausch nicht beklagen. Schwester Ave wird mir so teuer bleiben wie Base Eva, nur ein bißchen ferner von mir und näher dem Himmel.
So lange sie bei uns war, entfremdete ihr dem Himmel zugewandtes Wesen sie uns nicht im mindesten, ja wir liebten sie darum nur um so inniger. Allein jetzt kann dies nicht mehr sein.
Großmutter hält fest an dem Taufnamen.
Als die gebenedeite Mutter das Ave von den Lippen des Engels Gabriel empfing, verwandelte sie den Namen unserer armen Mutter Eva. Und jetzt ist unser liebes Kind Eva auf dem Wege, eine heilige Ave zu werden, Gottes Engel Ave im Himmel.
30. Juni.
Der junge Ritter, dem wir im Walde begegneten, hat uns heute besucht.
Kaum vermochte ich meine Stimme zu bemeistern, um ihm zu sagen, wo unsere Eva ist, denn ich kann mich nicht enthalten, ihn zum Teil dafür anzuklagen, daß sie uns verlassen hat.
»Nach Nimptschen!« sagte er; »also ist sie doch von Adel! Nur Jungfrauen aus vornehmen Häusern werden dort aufgenommen.«
»Ja,« erwiderte ich; »unserer Mutter Familie ist adelig.«
»Sie war zu himmlisch für diese Welt,« murmelte er leise. »Ihr Gesicht und etwas in ihren Worten, ihre Stimme lag mir immer in dem Sinn, wie die Erscheinung einer Heiligen, oder eine fromme Melodie, seitdem ich sie gesehen habe.«
Ich konnte über den jungen Ritter nicht so aufgebracht werden wie Eva. Er schien sich so sehr für Vaters Modelle zu interessieren, daß wir ihm die Erlaubnis, uns wieder zu besuchen, nicht verweigern konnten.
Ja, ich glaube selbst, er hat Recht; unsere Eva war zu fromm, zu himmlisch für diese Welt.
Ich meine nur, da so viele von uns doch in der Welt leben müssen (es wäre denn, daß die ganze Welt unterginge), so wäre es eine große Wohlthat, wenn Gott auch für uns arme Weltleute eine Religion gegeben hätte, wie für die Mönche und Nonnen.