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Friedrich hat mich gebeten meine Chronik zu schreiben.
Er ist mein ältester Bruder. Ich bin sechszehn und er ist siebzehn Jahre alt. Ich habe immer alles gethan, was er wollte, und darum thue ich's auch jetzt, obgleich mir sein Wunsch sehr sonderbar scheint. Für Friedrich ist es freilich eine Kleinigkeit, Chroniken, oder was man nur immer verlangen mag, zu schreiben; denn er hat Ideen. Ich aber habe so wenig Ideen; ich kann bloß schreiben, was ich sehe oder höre über Menschen und Dinge. Und darüber ist eben nicht sehr viel zu sagen, weil bei uns fast immer alles seinen gewohnten Gang fortgeht. Die Menschen um mich her sind noch dieselben, die ich als kleines Kind gekannt habe, und die Dinge haben sich wenig verändert; nur daß die Menschen sich vermehrt haben, weil jetzt so viele kleine Kinder hier im Hause sind, und der Sachen immer weniger zu werden scheinen, weil Vater nicht reicher wird, und immer mehr Kinder zu ernähren und zu kleiden hat. Jedoch da Fritz es wünscht, so will ich es versuchen; zumal da Tinte, Federn und Papier im Ueberflusse bei uns zu haben sind, weil Vater ein Buchdrucker ist.
Bis jetzt waren Fritz und ich noch nie von einander getrennt. Gestern erst ist er nach der Universität zu Erfurt abgereist. Als er mich bei dem Gedanken an den nahen Abschied weinen sah, sagte er mir seinen Plan mit der Chronik. Er will eine schreiben und ich soll dasselbe thun. Er sagte, das werde ihm Freude machen, wie unser Plauderstündchen in der Dämmerung, wenn wir Sommers unter den großen Birnbaum in unserm Garten schlichen, und Winters an das Erkerfenster in der Rumpelkammer hinter Vaters Druckerei, wo die Papierballen aufbewahrt werden und alte Bücher aufgehäuft sind, von denen wir uns einen Sitz machten.
Die Chronik mag wohl ein Trost für Fritz sein; aber ich begreife nicht, was sie mir helfen soll. Wie vermöchte totes Papier mir seine Stimme, sein liebes, treues Gesicht zu ersetzen?
Ueberdies habe ich als die älteste Tochter immer so viel zu thun; denn die Mutter ist nichts weniger als stark, und Vater braucht mich oft, um ihm bei seinen Lettern zu helfen, oder um ihm vorzulesen, während er sie setzt. Jedoch, da Fritz mich darum gebeten hat, so will ich es thun. Ich bin nur begierig, wie seine Chronik lauten wird!
Aber womit soll ich anfangen? Vier Bücher in der Bibel heißen Chroniken, und das erste Buch derselben beginnt mit Adam. Das weiß ich, weil ich's dem Vater vorlesen mußte, während er druckte. Allein so weit zurück kann doch Fritz nicht verlangen, daß ich mit meiner Geschichte gehen soll. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich mit der ältesten Person meiner Bekanntschaft beginne, und das ist unsere Großmutter von Schönberg.
Sie ist schon sehr alt, mehr als sechzig Jahre; aber sie hält sich noch so aufrecht, ihre schwarzen Augen sind so glänzend, daß sie fast jünger aussieht, als ihre Tochter, unsere liebe, teure Mutter, welche oft von Sorgen und Kränklichkeit niedergebeugt ist.
Der Vater unserer Großmutter stammte aus einer edeln böhmischen Familie, und daher kommt unsere Verwandtschaft mit dem Adel, obgleich meines Vaters Familie zu der Bürgerklasse gehört. Fritz und ich mögen so gerne das alte Siegel unseres Großvaters mit all seinen Schildabteilungen betrachten und den Erzählungen von unsern ritterlichen Vorfahren, von Kreuzfahrern und Baronen lauschen. Meine Mutter sagt freilich, daß dies ein elender Stolz und daß meines Vaters Druckerei das Symbol eines wahreren Adels sei, als irgend ein Wappen mit einer Streitaxt oder einem Schwerte; aber ich glaube, meine Großmutter hält es doch für eine Herablassung von einer Schönberg, einen Bürgerlichen geheiratet zu haben. Fritz denkt wie unsere Mutter und sagt, der wahre Kreuzzug könne weit besser durch Vaters schwarze Lettern als durch unseres Urgroßvaters Lanzen geführt werden. Aber das alte Kriegswesen war doch so schön, mit den stolz dahertrabenden Rossen und wehenden Fahnen! Und ich kann mich nicht enthalten zu denken, daß es angenehmer wäre, an dem Fenster eines solchen alten Schlosses wie die Wartburg zu sitzen und Fritzen mit dem Tuche zu winken, während er in glänzender Rüstung auf mutigem Streitrosse den steilen Hügel hinansprengte, anstatt in unserer Rumpelkammer auf Haufen von Büchern an das Fenster zu klettern und ihm nachzuschauen, während er in seinem einfachen Bürgeranzuge, mit einem nicht allzuwohl gefüllten Felleisen auf dem Rücken, die Straße hinunterzog, ohne daß sich sonst Jemand nach ihm umsah. Nun wohl! der Abschied wäre darum nicht minder traurig gewesen, und Fritz könnte gewiß nicht edler sein. Allein ich kann mir nicht verbergen, was auch Mutter und Fritz sagen mögen, daß die Leute oft mehr den schönen Einband und den vergoldeten Titel, als den Inhalt eines Buches ehren, und ich wollte, daß mein köstliches Buch einen solchen Einband hätte, daß diejenigen, welche das Innere nicht lesen könnten, doch stehen blieben, um das goldene Schloß und den mit Edelsteinen gezierten Rücken zu bewundern! Für diejenigen, welche den Inhalt lesen können, würde es vielleicht gleichgültig sein. Denn ich weiß gewiß, daß keiner der alten Barone und Kreuzfahrer, von welchen Großmutter uns erzählte, edler war oder aussah, als unser Fritz. Seine Augen sind nicht blau, wie die meinigen, die nur deutsche Cotta-Augen sind, sondern dunkel und feurig. Die meinigen sind sehr gut zum Sehen, Nähen und um beim Drucken zu helfen, aber die seinigen könnten die Herzen der Menschen durchschauen, sie regieren und ein Schlachtfeld mit einem Blicke übersehen.
Vergangene Woche jedoch, als ich etwas der Art zu ihm sagte, lachte er darüber und versetzte, es gebe bessere Schlachtfelder als diejenigen, auf welchen Menschengebeine bleichten, und da bemerkte ich jenen tiefen Blick in seinen Augen, wo er in eine höhere Welt zu sehen scheint.
Doch ich begann ja mit unserer Großmutter, und da denke ich schon wieder an Friedrich. Ich fürchte, dies wird der Anfang und das Ende meiner Chronik sein. Fritz ist eigentlich meine ganze Welt gewesen. Ob er wohl darum mich verlassen mußte? Die Mönche sagen, daß wir Niemand zu sehr lieben dürfen; und eines Tages, da wir unsere Tante Agnes, meiner Mutter einzige Schwester in dem Kloster besuchten, erinnere ich mich noch wohl, daß sie zu mir sagte, als ich die Mumm in dem Klostergarten bewunderte: »Elschen, willst du zu uns kommen und eine glückselige Schwester bei uns werden?«
Ich sagte: » Wessen Schwester, Tante Agnes? Ich bin Fritzens Schwester. Soll Fritz auch hierherkommen?«
»Fritz könnte in das Kloster zu Eisenach gehen,« erwiderte sie.
»Dann will ich mit ihm gehen,« sagte ich. »Ich bin Fritzens Schwester, und ich möchte nirgends in der Welt hingehen ohne ihn.«
Sie sah mich mit einem Blick voll kalten, ernsten Mitleids an und murmelte: »Arme Kleine, sie ist wie ihre Mutter! Das Herz lernt früh die Geschöpfe vergöttern. Sie hat viel zu verlernen. Gott ist ein Feind aller Götzen.«
Das ist nun schon viele Jahre her, aber ich erinnere mich noch so gut, als ob es erst gestern gewesen wäre, wie mir der schöne Klostergarten bei ihren Worten und ernsten Blicken auf einmal so traurig und öde vorkam, und wie es mich so feucht, und kalt durchrieselte; auf einmal erschienen mir die Blumen wie gemachte, die Mauern wuchsen in meiner Einbildung zu einer unermeßlichen Höhe empor, ich glaubte mich in einem Keller zu befinden und vermochte kaum noch zu atmen, bis ich wieder draußen war und Fritzens Hand in der meinigen hielt.
Ich bin eben gar nicht fromm und ich fürchte sogar, daß ich nicht einmal wünsche, es zu werden. Alle frommen Männer und Frauen, die ich je gesehen, scheinen mir nicht halb so lieb, wie meine gute arme Mutter, noch so freundlich, klug und heiter wie mein Vater, noch halb so gut und edel wie Fritz. Und die Lebensgeschichten der Heiligen machen mich ganz verwirrt; denn es scheint mir, wenn jedermann das Beispiel der heiligen Katharina, oder selbst das unserer heiligen Elisabeth von Ungarn nachahmen, den Eltern ungehorsam sein und seine kleinen Kinder verlassen wollte, so müßte ja die größte Verwirrung und schreckliches Unheil daraus entstehen. Ob wohl andere Menschen dasselbe fühlen wie ich? Ich habe diese Gedanken noch Niemanden, selbst Fritzen nicht mitgeteilt; er ist so fromm, daß ich fürchte, sie möchten ihn betrüben.
Der Gatte unserer Großmutter floh aus Böhmen um der Religion willen; aber ich fürchte, es war nicht die rechte, denn Keiner spricht gern davon, und was Fritz und ich darüber wissen, haben wir nur so nach und nach herausgebracht und uns selbst zurechtgelegt.
Vor beinahe hundert Jahren predigten in Böhmen zwei Priester, Namens Johann Huß und Hieronymus von Prag. Sie müssen wohl sehr beliebt gewesen und während ihres Lebens für sehr gute Menschen gehalten worden sein; aber das war wohl ein arger Irrtum; denn beide wurden nach einander in den Jahren 1415 und 1416 zu Costnitz als Ketzer verbrannt; natürlich ein Beweis, daß sie nicht gut und fromm, sondern entsetzlich böse gewesen sein mußten.
Ihre Freunde in Böhmen jedoch, obgleich sie gesehen hatten, welches Ende es mit ihnen nahm, wollten nicht aufgeben das zu glauben, was diese beiden Männer gelehrt hatten. Das begreife ich ganz wohl; denn es ist so schwer, einen Menschen dazu zu bringen, daß er glaubt, was man glauben soll, und sogar die Furcht, verbrannt zu werden, kann einen nicht dazu zwingen; wohl aber natürlich zum Schweigen bringen. Unter den Freunden des Johann Huß waren jedoch viele angesehene, adelige Männer, die nicht gewohnt waren, ihre Gedanken zu Verbergen, und diese wollten das, was Huß sie gelehrt hatte, nicht verschweigen. Was dies wohl sein mochte, haben Fritz und ich niemals herausfinden können; denn unsere Großmutter, die sonst alle unsere Fragen beantwortet, hat uns nie ein Wort darüber sagen wollen. Wir denken deshalb, daß es etwas entsetzlich Gottloses sein mußte. Und doch, als ich eines Tages fragte, ob denn unser Großvater, der, wie ich glaube, ein Anhänger von Huß war, ein böser Mann gewesen sei, rief sie mit blitzenden Augen heftig aus:
»Kein besserer Mensch hat je gelebt!«
Dies macht uns ganz verwirrt; aber vielleicht werden wir dies, sowie viele andere Dinge, verstehen, wenn wir älter sind.
Auf Hussens Tod folgten große Unruhen. Böhmen war in drei Parteien geteilt, die einander bekämpften. Schlösser wurden geplündert; Edelfrauen und Kinder in Höhlen und Wälder getrieben. Unsere Voreltern gehörten zu den Bedrängten. Mein Großvater wurde auf der Flucht getötet, meine Großmutter hatte viele Gefahren zu bestehen und verlor zuletzt auch noch den kleinen Rest ihres Vermögens, den sie gerettet hatte. So kam sie als junge Witwe mit ihren zwei kleinen Kindern, meiner Mutter und Tante Agnes, nach Eisenach.
Was nun auch mein Großvater für falsche Ansichten gehabt haben mochte, so scheint meine Großmutter sie nicht geteilt zu haben. Sie fand eine Zuflucht in dem Augustinerkloster, wo sie blieb, bis Tante Agnes den Schleier nahm und meine Mutter sich verheiratete, worauf sie zu uns zog. Sie hat in ihrer Weise Fritz fast eben so lieb wie ich, obgleich sie uns alle öfters schilt, was vielleicht sehr gut ist, weil es, wie sie sagt, sonst Niemand thut. Und sie hat mich beinahe Alles gelehrt, was ich kann, ausgenommen das Glaubensbekenntnis und die zehn Gebote, welche Vater uns gelehrt hat; das Paternoster und Ave Maria lernten wir aus unserer Mutter Schoß.
Fritz weiß freilich viel mehr als ich. Er kann das Cisio Janus (den Kirchenkalender) ohne Anstoß sagen, und ich glaube, auch die lateinische Grammatik; er hat schon lateinische Bücher gelesen, deren Namen ich nicht einmal behalten kann; auch versteht er Alles, was die Priester lesen und singen, und kann selbst eben so gut singen, wie sie.
Aber die Legenden der Heiligen, das Einmaleins, die Namen der Blumen und Kräuter, die Beschreibung des Heiligen Grabes und der Pilgerschaft nach Rom, das alles hat Großmutter uns gelehrt. Sie ist so schön, unsere gute, alte Großmutter, wenn sie so mit ihrem Strickzeug am Ofen sitzt und mit Fritz und mir plaudert; ihr schneeweißes Haar und ihre dunkeln, glänzenden Augen, so lebhaft und jugendlich, erinnern uns an das Feuer auf dem Herde, während das Dach mit Schnee bedeckt ist, oder wie Fritz sagt:
»Es scheint, als ob es in ihrem Herzen immer Sommer bliebe und der Winter des Alters nur ihren Körper berühren dürfe.«
Aber ich glaube, der Sommer, worin der Großmutter Seele lebt, muß ein glühender sein, in welchem es eben so wohl Blitze als Sonnenschein gibt. Fritz denkt, wir werden sie bei der Auferstehung an diesem, nur vielleicht dann etwas gemilderten Blicke wieder erkennen. Aber das ist für mich schrecklich und noch in weiter Ferne, so daß ich gar nicht daran denken mag. Wir überlegen oft, welcher Heiligen sie wohl gleiche. Ich glaube, der heiligen Anna, der Mutter Maria's; allein Fritz meint, eher der heiligen Katharina von Aegypten, weil sie einen so fürstlichen Anstand hat.
Fast hätte ich vergessen, daß ich auch die Namen verschiedener Sterne von Fritz gelernt habe. Außerdem kann ich stricken und spinnen, nähen und ein wenig sticken. Das alles will ich die Kinder lehren. Ich habe viele Geschwister und ihre Zahl nimmt alle Jahre zu. Wenn das nicht wäre, hätte ich Zeit gehabt, mehr zu lernen und auch frömmer zu werden. Aber ich sehe gar nicht ein, was man zu Hause anfangen sollte, wenn ich einen Beruf fürs Kloster hätte. Vielleicht, daß einige der jüngern Geschwister Heilige werden können. Ich möchte wohl wissen, ob man damit ein bescheidenes Plätzchen im Himmel verdienen kann, wenn man Andern hilft, fromm zu werden? Dann wäre ja auch für mich noch Hoffnung vorhanden!
Unser Vater ist der klügste Mann in Eisenach! nach der Mutter Ansicht sogar in der ganzen Welt. Dies jedoch bezweifelt die Großmutter, vielleicht weil sie schon so viel von der Welt gesehen hat. Jedenfalls ist er der weiseste Mann, den ich kenne. Er spricht von so vielen Dingen, die ich nicht verstehe. Auch ist er ein großer Erfinder. Er hatte vor allen andern an das Buchdrucken gedacht, und die Erfindung fast vollendet, ehe eine Druckerei eingerichtet wurde. Auch glaubte er, daß es eine neue Welt jenseits des Meeres gebe, lange ehe Christoph Columbus Amerika entdeckte. Nur schade, daß ihm immer einer zuvorkam, ehe er seine Erfindung ganz vollendet hatte, gerade als nichts mehr zu ihrer Vollkommenheit fehlte außer einigen unbedeutenden Kleinigkeiten, und ihn so um Ruhm und Vorteil brachte. Das ist's, was uns verhindert hat, reich zu werden –dies und die vielen Kinder. Aber Vater ist so gelassen und sanft! nichts kann ihn erbittern; und darum lieben und bewundern wir ihn alle so sehr, noch mehr als wegen seines großen Verstandes. Er freut sich über die Erfolge anderer ebenso, wie wenn es seine eigenen wären. Wenn Mutter sich zuweilen ein wenig grämt über den Ruhm, den er hätte erlangen können, sagte er lächelnd:
»Laß gut sein, Mütterchen. In hundert Jahren wird das ganz gleich sein. Laß uns niemanden seine Belohnung mißgönnen. Die Welt erntet doch den Vorteil davon, wenn wir auch keinen haben.«
Wenn dann Mutter über die schlecht versehene Speisekammer und die leeren Kleiderschränke ein wenig seufzt, versetzt er:
»Sei guten Mutes, Mütterchen, es gibt noch mehr Amerikas zu entdecken, und mehr Erfindungen zu machen. In der That,« fügt er dann mit jenem weitsichtigen, tiefen Blicke hinzu, »ich habe erst kürzlich einen Fall gehabt, der, wenn er ausgeführt ist, alle andern Erfindungen und alle frühem Jahrhunderte verdunkeln wird.«
Damit küßt er die Mutter und zieht sich in seine Druckstube zurück. Sie schaut ihm verwundert nach und sagt:
»Wir müssen den Vater nicht mit unsern kleinen Sorgen belästigen, Kinder! Er hat große Entwürfe im Kopfe, deren Vorteile wir noch einst alle genießen werden.«
Damit geht sie fort, um ein altes Kleidchen zu flicken, oder um das Mittagessen für einen Tag so zu strecken, daß es auf zwei Tage reicht.
Was für eine Erfindung der Vater jetzt im Sinne hat, wissen wir nicht recht. Aber wir glauben, daß sie mit den Planeten und Sternen in Verbindung steht oder mit dem wunderbaren Steine der Weisen, nach dem man schon so lange gesucht hat. Auf jeden Fall wird sie uns in einem Nu unermeßlich reich machen; und bis dahin können wir uns schon begnügen, unser Leben so gut als möglich zu fristen.
Ueber unsere Mutter weiß ich eigentlich gar nichts zu sagen. Sie ist eben die Mutter –unser süßes, geduldiges, liebevolles Mütterchen. –Niemand ist ihr ähnlich; und doch scheint es, als ob nichts von ihr zu sagen wäre, wodurch man sie einem Andern kenntlich machen könnte. –Sie ist wohl für uns Menschenkinder (mit Ehrfurcht sei es gesagt), was die gebenedeite Mutter Gottes für die Heiligen ist. Die heilige Katharina hat ihr Rädchen und ihre Krone; die heilige Agnes ihr Lamm und ihre Palme, und die heilige Ursula ihre elftausend Jungfrauen; aber Maria, die ewig Gebenedeite, hat nur das Christuskindlein. Sie ist nur die Mutter Gottes und sonst nichts. Gerade so ist's mit unserer Mutter. Sie ist die beste Frau auf der Welt, unser teueres Mütterlein, und das ist Alles. Ich könnte sie eigentlich besser beschreiben, wenn ich sagte, wie sie nicht ist. Sie sagt nie ein hartes Wort, weder zu, noch von Jemanden. Sie ist niemals ungeduldig gegen Vater, wie unsere Großmutter, noch mit den Kleinen, wie ich zuweilen. Sie klagt und zankt niemals. Sie geht nie müßig. Sie sieht uns nie streng und böse an, wie Tante Agnes. Allein ich darf sie nicht mit der Tante vergleichen; denn sie hat mich einst getadelt, indem sie sagte, Tante Agnes sei eine fromme, reine, heilige Frau, weit, weit über uns Alle erhaben, und wir dürften uns freuen, so wir je in den Himmel kommen, wenn sie uns den Saum ihres Gewandes küssen lasse.
Ja, Tante Agnes ist eine heilige Frau, eine Nonne; ich muß wohl überlegen, was ich von ihr sagen darf. Sie sagt Lange, lange Gebete her –so lange, daß man sie schon des Morgens ohnmächtig auf dem kalten Boden der Klosterkirche gefunden hat. Dabei ißt sie so wenig, daß Pater Christoph, der Beichtvater des Klosters und der unsrige, sagt, er denke zuweilen, daß sie von Engeln erhalten werden müsse. Allein Fritz und ich finden, daß, wenn dies wahr ist, die Kost der Engel nicht sehr stärkend sein kann; denn als wir sie zuletzt durch das Klostergitter sahen, war sie in ihrem schwarzen Kleide einem Schatten ähnlich oder jenem schauerlichen Bilde des Todes, das wir in der Kapelle des Klosters betrachteten. Sie trägt die rauheste Sackleinwand und schläft, wie man sagt, oft auf der Asche. Eine der Nonnen erzählte meiner Mutter, daß man, als sie einst ohnmächtig geworden und die Schwestern sie deshalb entkleideten, kaum geheilte Wunden und Striemen auf ihrem weißen Rücken und ihren Armen entdeckt habe, die sie sich selbst geschlagen hatte. Jedermann sagt, sie werde einen hohen Platz im Himmel bekommen; wenn aber nicht ein sehr großer Unterschied ist zwischen den höchsten und den niedrigsten Stellen im Himmel, so scheint mir's, daß sie sich doch zu viele Mühe darum gibt. Jedoch es ist für mich sehr schwer, mir eine Vorstellung von dem Himmel zu machen, weil ich eben gar nicht fromm bin. Wird man im Himmel sich immer um die besten Plätze bemühen? –Wenn man das an den großen Festtagen in der Kirche thut, so ist dies gar nicht angenehm; diejenigen, welchen es gelingt, sehen stolz, die andern mürrisch aus. Allein natürlich im Himmel wird niemand stolz noch mürrisch sein. Wie wird aber den Heiligen zu Mute sein, die nicht die höchsten Stellen erlangen? Werden sie froh oder unzufrieden sein? Und wenn sie froh sind, wozu denn solches Ringen, um ein wenig höher zu steigen? Und wenn sie nicht zufrieden sind, wäre dies für Heilige schicklich? Unsere Mutter lehrt uns immer die niedrigsten Plätze zu wählen, und ermahnt die älteren Kinder, die besten Plätze den kleinen Geschwistern zu überlassen. Sollten darum die Großen im Himmel nicht auch den Kleinen ein Opfer bringen? Das weiß ich gewiß, wenn unsere Mutter eine hohe Stelle im Himmel hätte, würde sie beständig sich bücken, um Andern hinaufzuhelfen, oder um ihnen Platz zu machen. Und welches sind denn die höchsten Stellen im Himmel? Am Hofe des Kaisers sind es die Stellen in seiner unmittelbaren Nähe; die sieben Kurfürsten umgeben rings den Thron. Aber kann man sich so nahe bei dem Allmächtigen wohl und glücklich fühlen? Es scheint so unendlich schwer, ihm wohlgefällig zu sein, und so sehr leicht, ihn zu beleidigen, daß ich meine, man müßte sich ein wenig weiter von ihm entfernt, in einem ruhigen Winkelchen am Thore, durch viele Heiligen von ihm getrennt, viel wohler fühlen. Neulich legte mir Pater Christoph eine äußerst harte Buße auf, weil ich ein kleines Krümmchen von der heiligen Hostie hatte fallen lassen, obgleich ich überzeugt war, daß der Priester eben so viel Schuld daran trug, als ich. Allein er sagte, Gott würde sehr unwillig darüber sein, und Fritz erzählte mir, daß die Priester sich oft Fasten und andere Kasteiungen auflegen, wenn sie bei der Messe bloß ein einziges Wörtchen ausgelassen haben.
Wie furchtbar ist doch das Bild des Herrn Jesu mit den Blitzen in der Hand! Wie verschieden von dem geschnitzten am Kreuze. Warum hat er so gelitten? War es, wie bei Tante Agnes, um eine desto höhere Stelle im Himmel zu bekommen? oder um das Recht zu haben, strenge gegen uns zu sein wie sie? Solche sonderbare Dinge scheinen Gott wohlgefällig zu sein, daß ich gar nicht klug daraus werden kann. Die Mutter sagt, im Kloster werde man Gott ähnlich, und dann verstehe man ihn auch besser.
Sollte wohl Tante Agnes Gott ähnlicher sein als unsere Mutter? Dieses ruhige, totenbleiche Gesicht, diese alten, strengen Augen, diese hohle, eintönige Stimme, die eher aus einem Metallrohr oder einem Grabe zu kommen scheint, als aus einem Herzen? Wird Gott uns mit solchem Blicke anschauen, mit einer solchen Stimme zu uns reden? Ach, wie schrecklich ist doch der Gedanke an den Tag des jüngsten Gerichts! und man muß wohl viele Jahre im Kloster zugebracht haben, um sich nicht davor zu fürchten in den Himmel zu kommen.
Ach, wenn doch nur unsere Mutter eine solche Heilige wäre, die Gott wohlgefällt, anstatt Tante Agnes, wie gern würde man sich da bemühen, auch eine Heilige zu werden! Wie sicher könnte man dann hoffen, in den Himmel zu kommen; wie gewiß wäre man, dort glücklich zu werden!
Tante Ursula Cotta ist auch eine Frau, die so liebenswürdig ist, wie ich wollte, daß man sich die Heiligen vorstellen dürfe. Sie ist die Gattin des Vetters meines Vaters; aber wir haben sie immer Tante genannt, wie fast alle Kinder, die sie kennen; denn sie hat die Kinder so lieb und ist so gütig gegen alle. Sie ist nicht arm wie wir, obgleich Vetter Cotta niemals oder fast niemals Entdeckungen gemacht hat. Ein Bild der heiligen Elisabeth, unserer Landgräfin von Thüringen, in unserer Kirche erinnert mich immer an Tante Ursula. Die heilige Elisabeth steht an dem Thore eines schönen Schlosses, ungefähr wie die Wartburg, und um sie her kniet eine Schar armer Leute, Krüppel und Blinde, arme, magere Mütter mit ihren halbverhungerten Kindern; alle strecken die Hände nach der Dame aus, welche sie mit so freundlichen, mitleidsvollen Blicken anschaut, gerade wie Tante Ursula, nur daß Elisabeth ganz mager und bleich ist und fast eben so verhungert aussieht, wie die Bettler, die sie umringen, während Tante Ursula rosig und dick ist, mit reizenden Grübchen in ihren runden Wangen. Aber der Blick ist derselbe, so liebevoll und treu, so ernst und mitleidig. Die Magerkeit und Blässe machen natürlich gerade den Unterschied aus, der zwischen einer Heiligen, welche fastet, sich viele Bußübungen auflegt und ganze Nächte im Gebet durchwach und einer wohlhabenden Bürgersfrau stattfinden muß, welche ißt und trinkt wie andere Leute und nur ebenso freundlich gegen jedermann ist, wie die gute Landgräfin. Der übrige Teil der Geschichte, die das Bild darstellt, würde freilich für unsere Tante Ursula nicht passen. Die Heilige hält in ihrer Schürze nicht Brot, sondern wunderschöne rote Rosen. Unsere Großmutter hat uns den Sinn davon erklärt. Der Gemahl der guten Landgräfin sah es nicht gern, daß sie den Armen so viel schenkte; denn da sie so mildthätig war, würde sie den Schatz ganz ausgeleert haben. Daher gab sie ihre Almosen heimlich. Allein als sie eines Tages an dem Burgthore Brot unter die Bettler verteilte, kam er zufälliger Weise ganz unerwartet zurück und fragte seine Gattin, da er sie so beschäftigt fand, in ziemlich strengem Tone, was sie in ihrer Schürze habe. Sie antwortete: »Rosen!«
»Laß mich sie sehen,« sagte der Landgraf.
Und Gott liebte sie so sehr, daß er, um ihr einen Verweis zu ersparen, ein Wunder that. Als sie ihre Schürze öffnete, waren anstatt der Brote, die sie auszuteilen im Begriffe gewesen, die herrlichsten Blumen darin. Dies ist auf dem Bilde dargestellt. Ich wünschte immer das Ende der Geschichte zu wissen. Ich hoffe, Gott wirkte noch ein zweites Wunder, als der Landgraf fort war, und verwandelte die Rosen wieder in Brote. Wahrscheinlich that er das, denn die halbverhungerten Leute sehen so vergnügt aus. Aber Großmutter weiß es nicht. Nur darin, glaube ich, würde Tante Ursula anders gehandelt haben. Sie würde, wenn Vetter Cotta sie gefragt hätte, offen gesagt haben: »Ich habe Brote in meiner Schürze, die ich unsern hungrigen Unterthanen bringe,« und würde nicht bange gewesen sein, was er ihr auch sagen mochte. Dadurch würde vielleicht Vetter Cotta's (ich meine des Landgrafen) Herz so gerührt worden sein, daß er ihr vergeben, ja sie sogar gelobt und ihr noch mehr Brote gebracht hätte. Dann würde statt der Verwandlung des Brotes in Rosen, des Landgrafen steinernes Herz in ein fleischernes verwandelt worden sein, was noch viel besser gewesen wäre. Als ich dies einmal der Großmutter sagte, erwiderte sie mir, daß es sehr unrecht sei, zu den Legenden der Heiligen ein anderes Ende zu erdichten, gerade als ob es Märchen wären; daß die heilige Elisabeth vor wenig mehr als hundert Jahren wirklich auf der Wartburg gelebt habe, durch diese selben Straßen von Eisenach gewandert sei und den Armen Almosen gespendet, die Hospitäler besucht, die eckelhaftesten Wunden, die sonst niemand berühren mochte, verbunden und die elendesten Ausgestoßenen mit liebevollen Worten getröstet habe. Allein dies Alles hat sie nicht zu einer Heiligen gemacht; denn Tante Ursula und unsere Mutter thun Aehnliches, und doch hat Mutter mir schon oft wiederholt, daß nicht sie, sondern Tante Agnes der Heiligen ähnlich sei.
Also hat man sie wahrscheinlich um ihrer Leiden willen in den Kalender aufgenommen, und doch macht das Leiden an und für sich die Menschen nicht zu Heiligen; denn ich glaube, daß selbst Elisabeth nicht mehr litt als unsere Mutter. Wohl wahr, daß sie von der Seite ihres Gemahls sich wegschlich und ganze Nächte auf dem kalten Boden kniete, während er schlief. Aber wie oft hat nicht unsere Mutter das auch gethan! Wenn eines der Kleinen krank war, ist sie Stunden lang mit dem kranken Kinde auf den Armen auf- und abgegangen, es herzend und tröstend, während sie sein ärgerliches Geschrei mit unermüdlicher Geduld zu beschwichtigen suchte. Dann pflegte die heilige Elisabeth zu fasten, bis sie fast nur ein Schatten war, aber wie oft habe ich nicht unsere Mutter bei unsern spärlichen Mahlzeiten unter Vater und Kinder alles, was gut und wohlschmeckend war, austeilen und kaum einen Bissen für sich behalten sehen, während sie ihren Teller hinter einer Schüssel versteckte, damit Vater es nicht bemerken sollte. Fritz und ich sprechen oft davon, wie abgezehrt und hinfällig sie aussieht, gar nicht gleich der Gnadenmutter wie in früheren Jahren, sondern leider viel zu sehr wie die matte, bleiche Schmerzensmutter mit dem durchbohrten Herzen. Denn was den Schmerz anbelangt, habe ich nicht unsere Mutter Schmerzen leiden sehen, gegen die Tante Agnesen's und Elisabeth's Geißelhiebe nur Nadelstiche sein mußten?
Allein das ist alles nicht die rechte Art des Leidens, wodurch man zu einer Heiligen wird. Unsere liebe Mutter durchwacht die Nächte, nicht um eine Heilige zu werden, sondern um ihr krankes Kind zu pflegen. Sie entzieht sich das Mittagessen, nicht um zu fasten, sondern weil wir arm sind und das Brot teuer ist. Sie leidet Schmerzen, weil Gott sie ihr auflegt, nicht weil sie dieselben freiwillig auf sich nimmt. Und alles dieses kann sie zu keiner Heiligen machen.
Wenn ich ihr dann mein Mitleid oder meine Verehrung ausdrücke, sagt sie lächelnd:
»Liebe Else, ich habe selbst diesen niedrigen Stand gewählt, anstatt des hohen Berufes deiner Tante Agnes, und ich muß die Folgen davon tragen. Wir können nicht unser Teil in dieser und in jener Welt haben.« Wenn in der bessern Welt unserer Mutter Teil um so größer sein wird, je kleiner dasjenige, welches ihr hier unten beschieden ist, so muß sie sich keinen geringen Reichtum aufgespart haben, dachte ich; allein ich wagte nicht, es ihr zu sagen. Eines würde unsere Mutter gewiß nie thun, was Elisabeth gethan hat; ihre vaterlosen Kinder verlassen, um ins Kloster zu gehen. Vielleicht hat gerade dies Gott und dem Herrn Jesu so wohl gefallen, daß sie ihr eine so hohe Stelle im Himmel gegeben haben. Wenn dies der Fall ist, so ist es ein großes Glück für Vater und uns, daß unsere Mutter kein solches Verlangen hat, eine Heilige zu werden. Wir denken aber oft, wenn er sie auch wegen der Regeln, die man im Himmel hat, zu keiner Heiligen machen kann, so wird Gott vielleicht unserer Mutter doch irgend etwas Gutes, ein freundliches Wort schenken, weil sie so gut gegen uns ist. Sie sagt freilich, da sei kein Verdienst dabei, weil sie uns eben so herzlich lieb habe. Wenn sie uns weniger liebte und es ihr daher mehr Mühe kostete, für uns zu arbeiten, oder wenn wir fremde Bettelkinder wären, anstatt ihre eigenen, und sie würde dann gütig gegen uns sein, so würde dies vermutlich Gott besser gefallen.
Die Geschichte von der heiligen Elisabeth brachte einmal Fritz und mich in große Angst und Not. Als wir noch kleine Kinder und nicht so verständig waren wie jetzt, sondern glaubten, wir sollten uns bemühen, die Heiligen nachzuahmen, und was für sie recht war, müßte es auch für uns sein, beschlossen wir eines Tages, es zu machen wie die heilige Landgräfin, von welcher Großmutter uns erzählt hatte, daß sie heimlich ihre Juwelen verkaufte und ihres Gatten Schatzkammer leerte, um die Armen zu speisen. Wir kannten eine sehr arme alte Frau in der nächsten Straße mit einer großen Menge verwaister Enkelchen, und wir beratschlagten lange, ehe uns ein Mittel einfiel, ihr zu helfen, wie die heilige Elisabeth. Endlich zeigte sich eine Gelegenheit. Es war am Weihnachtsabend, und ausnahmsweise gab es Fleisch, Aepfel und Kuchen in der Vorratskammer. In der Dämmerung schlichen wir uns hinein, füllten unsere Schürzchen mit Fleisch, Kuchen und Stollen, und rannten zu der alten Frau, ihr unsere Beute zu bringen.
Den folgenden Morgen war die Hälfte von dem, was unsere Festtagsmahlzeit geben sollte, fort. Die Kinder weinten, und unsere Mutter sah fast ebenso betrübt aus wie sie. Selbst des Vaters gewohnte Gemütsruhe war erschüttert, und er verfluchte die Katzen und Ratten und wünschte, daß er seine neue vortreffliche Rattenfalle fertig hätte. Allein unsere Großmutter sagte ganz ruhig:
»Hier müssen schlauere Diebe gewesen sein, als Ratten oder Mäuse. Da sind gar keine Krümmchen und alles ist an seinem Platze. Auch habe ich nie gehört, daß Ratten oder Mäuse auch die Kuchenteller fressen.«
Fritz und ich sahen einander an und begannen zu fürchten, daß wir Unrecht gethan hätten, als der kleine Christoph sagte:
»Gestern Abend sah ich Fritz und Else die Kuchen forttragen.«
»Else! Fritz!« rief unser Vater, »was soll das bedeuten?«
Jetzt würde ich bekannt haben; allein ich erinnerte mich der heiligen Elisabeth und ihrer Rosen und sagte daher:
»Es waren keine Kuchen, was du gesehen hast, Christoph, sondern Rosen.«
»Rosen?« entgegnete die Mutter sehr ernst, »an Weihnachten?«
Ich hatte halb gehofft, die Kuchen würden wieder auf den Brettern der Speisekammer erscheinen. Dies war gerade der entscheidende Augenblick, wo das Wunder in der Legende geschah; aber sie kamen nicht wieder. Im Gegenteil nahm alles eine sehr schlimme Wendung für uns.
»Fritz!« sagte unser Vater sehr aufgebracht, »sage die Wahrheit, oder du bekommst Schläge!«
Bei diesem Teil der Geschichte ließ uns das Beispiel der heiligen Elisabeth völlig im Stich. Ich wußte nicht, was sie gethan haben würde, wenn ein Anderes für ihre Mildthätigkeit hätte bestraft werden sollen; allein ich fühlte, was ich zu thun hatte.
»O Vater!« sagte ich, »es ist meine Schuld –ich hatte den Einfall! Wir nahmen die Sachen, um sie der armen alten Frau in unserer Nachbarschaft für ihre Enkelchen zu bringen.«
»Dann bist du nicht besser als eine Diebin,« sagte der Vater. »Fritz und Else, ihr thörichten Kinder, sollt heute gar kein Mittagessen bekommen, und Else soll überdies für ihre Lüge oben in ihrer Kammer eingesperrt werden!«
Ich saß vor Kälte zitternd in meiner Stube und sann darüber nach, warum es uns so ganz anders ergangen war, als der heiligen Elisabeth, als die klangvolle, liebe Stimme meiner Tante Ursula auf der Treppe ertönte, und sie mich eine Minute darauf lachend in ihre Arme schloß.
»Mein armes Elschen! Wir müssen noch ein wenig warten, ehe wir unsere Schutzheiligen nachahmen, oder es wenigstens anders anfangen. So würde es z. B. für mich gewiß nicht passen, mit elftausend Jungfrauen nach Rom zu pilgern, wie die heilige Ursula!«
Meine Großmutter hatte den wahren Sinn unserer That erraten; Tante Ursula, die uns gerade besuchte, hörte die Geschichte und bestand darauf, uns ein anderes Festessen zu schicken.
Fritz und ich waren aber insgeheim überzeugt, daß dies das Werk der heiligen Elisabeth war. Allein wir verstanden nun, daß Vorsicht dazu gehöre, in unserm Leben das hohe Beispiel der Heiligen nachzuahmen, und daß wir für jetzt uns auf die Zehn Gebote beschränken müssen.
Und doch hat Elisabeth, eine wirklich kanonisierte Heilige, deren Bild über den Altären in den Kirchen hängt, deren gute Thaten auf den Kirchenfenstern gemalt sind und von der Sonne herrlich erleuchtet werden, deren Gebeine man als Reliquien verehrt, von denen ich eine stets auf meinem Herzen trage, –doch hat diese Heilige wirklich in jenem alten, düstern Schlosse dort oben gelebt und gebetet, ist durch diese Straßen gewandelt und ist vielleicht von dem Fenster unserer lieben Rumpelkammer aus gesehen worden!
Vor kaum hundert Jahren! Wenn ich nur hundert Jahre früher oder sie um so viel später gelebt hätte, dann hätte ich sie sehen, mit ihr sprechen und sie fragen können, wodurch sie eine Heilige geworden ist. Was hätte ich sie nicht alles fragen wollen! »Liebe, heilige Elisabeth,« würde ich zu ihr gesagt haben, »sage mir doch, was dich zu einer Heiligen gemacht hat? Deine Mildthätigkeit kann es nicht sein; denn niemand kann mildthätiger sein als Tante Ursula, und doch ist sie keine Heilige. Deine Leiden, deine Geduld, deine Liebe, deine Aufopferung für Andere können es nicht sein; denn unsere Mutter gleicht dir in diesem allem und ist doch keine Heilige. Hat dich Gott darum besonders lieb gehabt, weil du deine kleinen Kinder verlassen hast? Oder weil du nicht bloß wie eine Mutter das thatest und littest, was Gott dir auflegte, sondern sogar noch härtere Prüfungen und Qualen dir selbst auflegtest?« Und wenn sie dann recht sanft und freundlich mich angehört hätte –wie sie es gewiß gethan haben würde –so hätte ich sie fragen mögen: »Heilige Landgräfin, warum sind denn Dinge, welche von dir gut und heilig waren, von Fritz und mir unrecht? Liebe Schutzpatronin, was macht dich denn so glücklich im Himmel?«
»Was sage ich?« Sie würde ja noch nicht im Himmel gewesen sein! Sie wäre ja noch nicht kanonisiert, da es sich erst nach ihrem Tode, als die Kranken und Lahmen durch Berührung ihres Leichnams geheilt wurden, herausstellte, daß sie eine Heilige gewesen war. Vielleicht würde sie es selbst nicht gewußt haben. Wenn dies der Fall war, wer weiß, ob nicht unsere Mutter doch eine Heilige ist, ohne es selbst zu wissen. –
Fritz und ich sind vier oder fünf Jahre älter als die andern Kinder. Zwei kleine Schwestern starben an der Pest, ehe die andern zur Welt kamen. Eine war getauft und starb im ersten Jahre, ehe sie noch ihre Taufgnade verlieren konnte; deßhalb sind wir sicher, daß sie im Himmel ist. Ich denke jedesmal an sie, wenn ich die strahlende Wolke um die heilige Jungfrau in der Kapelle des heiligen Georg betrachte. Eine Menge lieblicher, seliger Kindergesichtchen sehen aus der Wolke heraus; einige stützen ihre runden, rosigen Wangen auf ihre niedlichen Händchen, und alle schauen mit solchem Vertrauen zu der lieben Mutter Gottes hinauf. Wahrscheinlich gehören ihr besonders die kleinen Kinder im Himmel. Dann muß es ein Glück sein, früh zu sterben.
Aber von dem andern Säugling ohne Namen, der zur selben Zeit starb, wagt Keines von uns zu reden. Er war noch nicht getauft, und man sagt, daß die Seelen der kleinen, ungetauften Kinder ewig in der Dunkelheit zwischen Himmel und Hölle schweben müssen. Welch ein schauderhaftes Geschick! Aus den liebenden Armen unserer guten Mutter plötzlich in den kalten, düstern Raum zu fallen, dort frieren und jammern zu müssen und niemanden anzugehören! Wir haben in Eisenach ein Findelhaus, verbunden mit einem Nonnenkloster, das die heilige Elisabeth für arme, verlassene Kindlein gestiftet hat. Wenn doch nur die heilige Elisabeth irgendwo an den Thoren des Paradieses ein solches Findelhaus für diese armen, ausgestoßenen, namenlosen Kinderseelen stiften wollte! Aber sie wird wohl zu hoch erhaben im Himmel und zu weit von den Thoren entfernt sein, um das Jammergeschrei dieser armen Verlassenen zu hören. Oder vielleicht würde Gott, dem es so wohlgefällig war, daß sie ihre eigenen Kinder verließ, es nicht erlauben. Wahrscheinlich lassen die Heiligen im Himmel, die hier unten Mütter oder, wie ich, ältere Schwestern gewesen sind, ihre Mutterherzen auf der Erde zurück, und es gibt im Himmel nur Mönche und Nonnen wie Pater Christoph und Tante Agnes. –
Nach diesen armen, namenlosen Wesen kamen zwei Zwillingsschwestern; die eine nach unserer Großmutter Chrimhilde, die andere von unserm Vater Atlantis genannt, wegen der Entdeckung der neuen Welt jenseits des Oceans, an die er so oft gedacht und die Christoph Kolumbus ungefähr um jene Zeit zustande gebracht hatte.
Dann kamen die Zwillingsbrüder Bonifacius Pollux und Christoph Kastor, deren Namen von Vater und Mutter gemeinschaftlich gewählt wurden; er nannte sie nach Sternen, deren merkwürdige Zusammenkunft bei ihrer Geburt ihm auffallend gewesen, und Mutter hielt es für Pflicht, solchen heidnischen Namen durch andere, die im Himmel angeschrieben sind, das Gegengewicht zu halten. Hierauf kam wieder ein Knabe, der nur wenige Wochen alt wurde, und zuletzt unser jüngstes Schwesterchen Thekla, unser aller Spielzeug und Liebling.
Dies sind so ziemlich alle Menschen, die ich kenne, ausgenommen jedoch Martin Luther, den Bergmannssohn, gegen den Tante Ursula so gütig war. Wir haben ihn alle so lieb, wie wenn er zu unserer Familie gehörte. Er ist ungefähr so alt wie Fritz, der große Stücke auf ihn hält. Er hat eine herrliche Stimme, ist sehr fromm und doch auch zuweilen recht heiter. Seine Stimme und seine andächtige Miene zogen zuerst Tante Ursulas Aufmerksamkeit auf ihn. Sie hatte ihn oft in der Kirche bei den täglichen Gebeten gesehen. Er pflegte mit den Knaben der lateinischen Schule vom heiligen Georg, welche er und Fritz besuchten, im Chore zu singen. Seine helle, klangvolle, liebe Stimme fiel ihr auf; er schien immer so andächtig. Aber wir wußten damals noch wenig von ihm. Er war sehr arm und sah gedrückt und halbverhungert aus, als wir ihn zuerst bemerkten. Oft habe ich ihn an kalten Winterabenden singend durch die Straßen ziehen und dankbar einige Stückchen Brot und Fleisch an den Thüren der Bürger empfangen sehen; denn er war nie ein frecher Bettler, wie so manche unter den Schülern. Ich erinnere mich noch sehr wohl des Tages, da wir ihn zuerst kennen lernten. Ich war bei Tante Ursula, deren Haus in der Georgstraße nahe bei der Kirche und Schule steht. Ich hatte die Chorknaben vor allen Thüren der Straße singen hören; niemand hatte ihnen etwas gegeben und sie sahen ganz entmutigt und hungrig aus. Endlich hielten sie unter dem Fenster, an welchem ich mit Tante Ursula und ihrem kleinen Söhnchen saß. Die sanfte, klare Stimme ertönte wieder. Tante Ursula ging nach der Thüre und rief Martin herein; dann begab sie sich in die Küche, und nachdem sie ihn mit einer guten Mahlzeit erquickt hatte, entließ sie ihn mit wohlgefülltem Schnappsack und forderte ihn auf, bald wieder zu kommen. Nachher mag sie wohl mit Vetter Konrad Cotta beratschlagt haben; denn sie nahmen Martin Luther in ihr Haus, wo er seitdem so vertraulich mit uns gelebt hat, wie unsere leiblichen Vettern.
Seit diesem Tage ist eine merkwürdige Veränderung mit ihm vorgegangen. Niemand würde zuvor geahnt haben, welch ein fröhliches Gemüt er hat. Nur in seiner klaren, lieben Stimme schien es sich Luft zu machen. Er war so schweigsam und schüchtern wie ein Wesen, das ohne Liebe erzogen worden ist. Besonders zurückhaltend war er mit jungen Mädchen und schien sich zu scheuen, einer Frau ins Gesicht zu sehen. Er hat auch Fritzen gestanden, daß er als Kind oft für kleine Vergehen, wenn er z. B. eine Nuß genommen hatte, bis auf's Blut geschlagen worden sei und nicht gewagt habe, vor den Augen seiner Eltern zu spielen. Und doch darf man vor ihm nichts über seine Eltern sagen. Er versichert, seine Mutter sei das frömmste Weib in Mansfeld, wo seine Familie lebt, und sein Vater darbt selbst, um seine Kinder zu ernähren und zu erziehen, besonders Martin, der der Gelehrte in der Familie werden soll. Seine Eltern sind an Mühseligkeiten und Entbehrungen gewöhnt und halten sie für die beste Zucht der Knaben. Der arme Martin hat gewiß hier Entbehrungen genug gehabt. Doch vielleicht war es auch die Schuld der Verwandten seiner Mutter, bei denen sie hofften, daß er Unterstützung finden werde, die sich aber gar nicht um ihn bekümmert haben. Einmal sei er so gedrückt und entmutigt gewesen durch den schrecklichen Mangel, den er zu leiden hatte, erzählte er Fritzen, daß er in der Verzweiflung daran gedacht habe, das Studieren aufzugeben und nach Mansfeld zurückzukehren, um mit seinem Vater in den Bergwerken oder an den Schmelzöfen zu arbeiten. Allein Thränen der Entrüstung treten ihm in die Augen, wenn es Jemand wagt, anzudeuten, daß sein Vater mehr für ihn hätte thun können. Oft hat er Fritz gesagt, sein Vater sei ein armer Bergmann, und er habe seine Mutter häufig auf ihren Schultern Holz aus den Tannenwäldern nach Mansfeld tragen sehen.
Gewiß ist er in den Klosterschulen so ernst und schüchtern geworden. Man hat ihn das eheliche Leben als etwas Niedriges und Böses ansehen gelehrt, und wir wissen ja auch alle recht wohl, daß es nicht so edel und rein sein kann wie das Klosterleben. Wie erstaunt sah er nicht Tante Ursula eines Tages an, als diese, welche den Mönchen nicht sehr hold ist, zu ihm sagte: »Es gibt auf der Erde nichts Lieblicheres als die Gattenliebe, wenn sie mit Gottesfurcht gepaart ist.«
An der Wärme ihres reinen, sonnigen Gemüts schien sein Wesen sich zu entfalten, wie die Blumen im Sommer. Und jetzt ist er der beliebteste und gefälligste in unserm kleinen Kreise. Er spielt die Laute und singt so schön, wie es sonst niemand vermag. Alle unsere Kinder lieben ihn, denn er weiß so schöne seltsame Geschichten von verzauberten Gärten und Kreuzzügen und von seiner eigenen Kindheit in den Tannenwäldern und Bergwerken zu erzählen.
Durch Martin Luther habe ich nach meiner Großmutter am meisten von der weiten Welt draußen gehört. Er hat schon in drei andern Städten gewohnt und kennt daher schon viel von der Welt, obgleich er noch nicht zwanzig Jahre alt ist. Unser Vater hat uns freilich wunderbare Dinge erzählt, von den Inseln jenseits des Meeres, welche der Admiral Kolumbus entdeckt hat, und die, wie er gar nicht zweifelt, sich noch als die andere Seite von Indien und Arabien herausstellen werden. Schon haben die Spanier Gold auf diesen Inseln gefunden, und Vater glaubt sicher, daß sie jenes Ophir sind, woher Salomons Schiffe das Gold zum Tempelbau brachten. Auch hat er uns von den seltsamen Ländern des südlichen Afrikas erzählt, wo die Zwerge wohnen und schwarze Riesen und große haarige Menschen, welche auf die Bäume klettern und dort Nester bauen, und von den schrecklichen Menschenfressern und dem Volke, das die Köpfe zwischen den Schultern hat; allein wir haben noch niemand getroffen, der alle diese Wunder selbst gesehen hat, und daher sind Martin Luther und unsere Großmutter die größten Reisenden, die wir kennen.
Martin Luther wurde 1483 zu Eisleben geboren. Seine Mutter ist aus dem Bürgerstande. Drei ihrer Brüder leben hier in Eisenach und hier wurde sie auch getraut. Sein Vater dagegen stammt von einer Bauernfamilie ab. Sein Großvater besaß ein kleines Gut zu Möhra im Thüringerwalde. Allein da Martins Vater der zweite Sohn war, so bekam der ältere Bruder das Gütchen und der jüngere ging nach Eisleben, wurde ein Bergmann und ließ sich dann zu Mansfeld im Harze, wo so viel Silber und Kupfer in der Erde begraben liegt, nieder.
Bis in sein dreizehntes Jahr lebte Martin zu Mansfeld. Ich möchte den Ort sehen, wo man das kostbare Silber und Kupfer in den großen Hochöfen schmilzt, welche die ganze Nacht hindurch brennen und weithin durch die dunkeln Tannenwälder leuchten. Als Martin ein kleiner Knabe war, mag er oft mit seinem Vater dabei gewacht haben. Jetzt hat dieser eigene Oefen und eine Gießerei. Dort sind auch tiefe Gruben unter den Hügeln, aus welchen von Zeit zu Zeit Scharen wild aussehender Bergleute heraufsteigen. Martin hat große Vorliebe für die Bergleute, weil sie ein so mutiges, herzliches Völkchen sind, so schöne, kühne Lieder zu singen wissen und solch wilden, seltsamen Zeitvertreib haben. Das Schach ist ihr Lieblingsspiel. Dabei sind sie sehr nachdenklich, wie es Leuten wohl zukommt, die so tief in die Geheimnisse der Erde eindringen. Als Martin noch ein Knabe war, ist er oft mit ihnen in die dunkeln, geheimnisvollen Schachte und Stollen hinabgestiegen und hat die Adern des kostbaren Metalles gesehen. Er hat auch oft mit Fremden von verschiedenen Nationen gesprochen. Von allen Teilen der Erde kommen sie des Silbers wegen nach Mansfeld, von Bayern und der Schweiz, ja selbst aus dem prachtvollen Venedig, das eine Stadt der Paläste ist, wo die Straßen Kanäle voll blauen Meerwassers sind, und wo man anstatt in Wagen in Gondeln fährt, von welchen aus die Leute an den Marmorstufen der Paläste landen. Alle diese Dinge hat Martin von Leuten beschreiben hören, welche sie selbst gesehen haben. Auch lud Martins Vater sehr oft die Schulmeister und Gelehrten zu sich ein, damit seine Söhne aus ihren klugen Reden Nutzen ziehen sollten. Ich würde aber wohl wenig Freude daran gehabt haben. Ich hätte schwerlich die Rute vergessen können, womit Martin an einem Morgen vierzehnmal gehauen wurde, um mich hinlänglich frei und wohl bei ihrer Unterhaltung zu fühlen. Der alte Graf Günther von Mansfeld hält sehr viel auf Martins Vater und läßt ihn oft holen, um seinen Rat über die Bergwerke zu vernehmen.
Ihr Haus in Mansfeld war etwas fern von der Schule, die auf einem Hügel stand, so daß ein größerer Knabe so freundlich war, Martin auf seinen Armen zur Schule zu tragen. Das war sicher im Winter, wenn seine Füßchen von den Frostbeulen geschwollen waren, und seine arme Mutter in den Wäldern Reisig zusammen suchte, ihre Stube zu erwärmen.
Seine Mutter muß eine sehr gute, fromme Frau sein; doch, denke ich, nicht wie unsere Mutter, sondern eher wie Tante Agnes. Ich glaube, daß ich mich ein wenig vor ihr fürchten würde. Martin sagt, sie sei sehr fromm. Er liebt und verehrt sie unbeschreiblich, obgleich sie ihn sehr streng gehalten und einmal bis aufs Blut geschlagen hat, weil er eine Nuß von ihrem Vorräte weggenommen. Sie muß eine sehr brave, aufrichtige Frau sein, die sich so wenig als die Andern schont; allein ich glaube, daß mir bei Martins Vater wohler zu Mute wäre, der oft des Nachts an Martins Bett niedergekniet ist und Gott gebeten hat, einen guten, nützlichen Mann aus ihm zu machen. Martins Vater scheint jedoch nicht besonders viel auf Mönche und Nonnen zu halten und ist also wohl nicht so fromm wie seine Frau. Er wünscht durchaus nicht, daß Martin ein Priester oder Mönch, sondern daß er Rechtsgelehrter oder Arzt oder Professor an der Universität werde.
Mansfeld ist übrigens ein sehr religiöser Ort. Es giebt daselbst eine Menge Mönchs- und Frauenklöster und in einem der letzteren waren zwei Gräfinnen als Nonnen. Auch ein Schloß ist dort, wo die heilige Elisabeth ebenfalls Wunder verrichtet hat. Allein der Teufel ist auch nicht müßig in Mansfeld. So lebte dort neben Martins Hause eine böse alte Hexe, die seine Mutter oft erschreckte und in große Not brachte, indem sie die Kinder verhexte, so daß sie sich fast zu Tode schrieen. Ja man sagt sogar, daß der Teufel dort einmal auf die Kanzel gestiegen sei und gepredigt habe, natürlich verkleidet. Aber so geht's in allen Legenden. Nirgends scheint der Teufel so geschäftig, als wo Heilige sind, und dies ist ein anderer Grund, warum es mir so schwer vorkommt, fromm zu werden.
Martin hatte schon als Knabe eine liebliche Stimme und sang oft vor den Thüren anderer Leute, so wie hier. Einmal, um die Weihnachtszeit, zog er mit andern Knaben durch die Wälder, von Dorf zu Dorf, Weihnachtslieder singend. Da kam ein Bauer an die Thüre seiner Hütte und fragte mit rauher Stimme: »Wo seid ihr denn, ihr Jungens?« Die Knaben erschraken so sehr, daß sie so schnell fortrannten, als ihre Füße sie tragen konnten, und erst später erfuhren sie, daß der Mann mit der rauhen Stimme ein mildes Herz hatte und ihnen einige Würste herausbringen wollte. Der arme Martin war in jener Zeit an Schläge gewöhnt und hatte alle Ursache, sich davor zu fürchten. Es muß aber gar lieblich gewesen sein, die Knabenstimmen von Jesu Geburt zu Bethlehem singen zu hören. Der Gesang tönt so wundersam durch die stillen Tannenwälder!
Als Martin dreizehn Jahre alt war, verließ er Mansfeld und ging nach Magdeburg, wo der Bruder unseres Kurfürsten in einem prachtvollen Palaste wohnt und von zwölf Trompetern sich Musik machen läßt, während er bei Tische sitzt. Magdeburg muß eine prächtige Stadt sein, fast so großartig wie Rom selbst. Es hat eine große Kathedrale, viele Ritter, Fürsten und Kriegsvolk, welche stolz durch die Straßen traben; auch werden dort häufig Turniere und glänzende Feste gehalten. Unser Martin mag freilich von all diesen Herrlichkeiten mehr gehört als gesehen haben. Er und Johann Reineck von Mansfeld, sein bester Freund, gingen in die Schule des Franziskanerklosters und mußten ihre Zeit bei den Mönchen zubringen oder bettelnd durch die Straßen oder auf dem Kirchhofe singen, wenn die Franziskaner ihr Amt, die Toten zu beerdigen, verwalteten. Allein welches Recht hatte er, eines Bergmanns Sohn, sich zu beklagen, sagte er, wenn er einen Prinzen von Anhalt in einer Mönchskutte bettelnd durch die Straßen ziehen sah, mit einem Sacke auf der Schulter, der ihn fast zu Boden drückte? Der arme Prinz, sagte Martin, hatte so lange gefastet, gewacht, sich kasteit, bis er nur noch Haut und Knochen hatte und wie ein Bild des Todes aussah. Bald darauf ist er auch wirklich gestorben.
In Magdeburg sah Mattin auch das Bild, das er uns so oft beschrieben hat.
»Es war ein großes Schiff gemalt,« erzählte er, »das die Kirche bedeuten sollte, darin war kein Laie, nicht einmal ein König oder ein Prinz. Nur der Papst mit den Kardinälen und Bischöfen saß im Vorderteil und der heilige Geist schwebte über ihnen; die Priester und Mönche hatten Ruder in den Händen und so segelten sie gen Himmel. Rings um das Schiff aber schwammen die Laien alle; einige waren dem Versinken nahe, andere zogen sich vermittelst Seilen, welche die mitleidigen Mönche ihnen zuwarfen, an das Schiff, so daß sie sich festhalten konnten und mit den Andern in den Himmel kamen. Im Wasser war kein Papst oder Kardinal oder Bischof, kein Priester oder Mönch, sondern nichts als Laien.«
Das muß ein schreckliches Bild gewesen sein, das wohl Jedem bange machte, der nicht fromm ist, aber auch zeigen konnte, wie vergeblich es für alle Andern, ausgenommen Mönche und Nonnen, ist, sich Mühe zu geben, fromm zu sein. Denn wenn man auch vielleicht noch so wenig Gutes gethan hat, so kann doch irgend ein freundlicher Mönch Einem ein Seil zuwerfen und in das Schiff helfen; dagegen mag ein Laie noch so viel gute Werke gethan haben, so ist doch alles vergebens, wenn er nicht irgend einen Freund im Kloster hat, der ihn aus den Fluten zieht und vor dem Verderben bewahrt.
Ich habe gesagt, Luther sei fröhlich; und das ist er auch mit den Kindern, oder wenn er durch Musik und Gesang erheitert wird. Aber im Ganzen halte ich ihn eher für ernst; denn er sieht oft recht gedankenvoll, ja sogar schwermütig aus. Seine Fröhlichkeit scheint nicht sowohl aus Leichtsinn, als aus der Lebhaftigkeit seiner Gefühle zu entspringen. Was er auch thun mag, ob er den Kleinen eine Geschichte erzählt oder ein heiteres Lied singt, ob er spielt oder arbeitet, er thut es mit ungeteiltem Herzen.
Fritz sagt, in den Studien thue es ihm hier in Eisenach Keiner gleich, weder im Hersagen noch im Schreiben von Prosa und Versen, weder im Uebersetzen noch in der Kirchenmusik.
Magister Trebonius, der Vorsteher der St. Georgen-Schule, ist ein sehr gelehrter und höflicher Mann. Fritz sagt, er nehme seinen Hut ab und verbeuge sich vor den Schülern, wenn er in die Klasse komme, weil er sage, unter diesen Knaben seien zukünftige Bürgermeister, Kanzler, Doktoren und Magistratspersonen. Wie verschieden muß dies sein von den Lehrern in Mansfeld! Magister Trebonius hält sehr viel auf Martin. Ich will nur sehen, ob er und Fritz einmal Bürgermeister oder Doktoren werden.
Martin ist gewiß sehr fromm für einen Knaben und Fritz auch. Sie hören regelmäßig die Messe, beichten und fasten sehr häufig.
Nach dem aber, was ich von Martin gehört habe, ist er eben so bange, wie ich, vor Gott und Christo und dem jüngsten Gericht. Ja gewiß fühlt er, wie sicher ein Jedes, daß wir keine Hoffnung haben dürften, wenn die gebenedeite Mutter Gottes nicht wäre, welche ihren Sohn daran erinnert, wie sie ihn genährt und gepflegt hat, und ihn bittet, sich unser zu erbarmen.
Seit beinahe zwei Jahren ist Martin nun auf der Universität zu Erfurt, und Fritz hat uns vor Kurzem auch verlassen, um mit ihm zu studieren, und nun ist's aus mit Musik und Geschichten erzählen, wer weiß wie lange!
Dies sind die Menschen, welche ich kenne. Jetzt habe ich nur noch die Dinge zu beschreiben, die mir gehören, und den Ort, wo wir leben.
Mein kleines Eigentum ist bald beschrieben. Mein größter Schatz ist ein silbernes Reliquienkästchen mit einer Locke der heiligen Elisabeth darin. Auch besitze ich einen schwarzen Rosenkranz mit einem eisernen Kruzifix, den Tante Agnes mir geschenkt hat. Ich habe ein Meßbuch und ein Stück von dem Nibelungenlied. Außer meinem Alltagsanzug habe ich eine schwarze Taffetjacke und einen Rock von karmesinrotem Zeug, ein Paar goldene Ohrringe und eine silberne Kette, die mir Tante Ursula zum Schmuck an Festtagen geschenkt hat. Fritz und ich haben miteinander einige alte lateinische Lieder mit Holzschnitten aus Nürnberg. Im Garten gehören mir zwei Rosenstöcke; außerdem habe ich ein in Rom geschnitztes Kruzifix von Holz, welches aus Bethlehem kommt, und endlich einen Goldgulden in einer ledernen Börse, den mir meine Patin an der Taufe schenkte. Das ist mein ganzer Reichtum!
Wir leben in Eisenach, einer sehr schönen Stadt, wenigstens meiner Ansicht nach. Allein da ich noch keine andere gesehen habe, kann ich wohl nicht recht darüber urteilen. Es sind hier neun Klöster, wovon mehrere durch die heilige Elisabeth gestiftet worden sind, und ich weiß nicht wie viele Priester. In den Kirchen befinden sich viele wunderschöne Gemälde, welche die Leiden und Herrlichkeit der Heiligen vorstellen, und gemalte Fenster; auf den Altären stehen prächtige goldene und silberne Gefäße und eine Menge wunderbarer Reliquien, die wir an großen Festen der Heiligen anbeten.
Die Stadt liegt in einem Thale und hoch über den Häusern erhebt sich der Hügel, auf welchem die Wartburg steht, in der die heilige Elisabeth gewohnt hat. Einmal durfte ich mit Vater, welcher dem Kurfürsten einige Bücher zu bringen hatte, hineingehen. Die Gemächer waren prachtvoll ausgestattet mit Teppichen und Sammtsesseln. Eine, wie die heilige Elisabeth auf den Bildern, in Seide und Edelsteine gekleidete Dame gab mir Zuckerwerk. Aber das Schloß schien mir düster und traurig. Ich hätte wissen mögen, in welchem Zimmer die stolze Mutter des Landgrafen gewohnt hat, welche so unfreundlich gegen die heilige Elisabeth war, als diese als ein junges Mädchen aus ihrer fernen Heimat in Ungarn hierher kam, und an welche kalte Mauern die Heilige ihre brennende Stirne drückte, als sie bei der plötzlichen Nachricht von dem Tode ihres Gemahls verzweiflungsvoll das Schloß durcheilte.
Ich war froh, wieder in den freien Wald zu kommen; denn rings um das Schloß und die Stadt dehnt sich der Wald aus. Hohe dunkle Tannen bekleiden die Hügel; aber in den Thälern schlängeln sich Flüsse durch grüne Wiesen dahin. Unter den bunten Blumen auf den Auen ist es besser als in dem finstern alten Schlosse, und ich begreife seither gar wohl, warum die heilige Elisabeth sich in einem einsamen von Wäldern umgebenen Thälchen eine Hütte gebaut hat, um dort ihre Tage zu beschließen.
Im Sommer ist es wunderschön auf den Wiesen am Rande der Fichtenwälder, wenn sie in der Sonne ihren köstlichen aromatischen Duft aushauchen, wenn die Vögelein singen und die Krähen krächzen. Mir ist dies lieber als der Weihrauch in der St. Georgskirche, ja sogar als der Chorgesang und ganz gewiß lieber als die Predigten, welche so oft von dem furchtbaren Höllenfeuer und vom letzten Gerichte handeln, oder als der Beichtstuhl, wo man uns so harte Bußübungen auflegt.
Dort, in der freien Natur scheint es mir fast, als ob die liebe Mutter Gottes die Welt regiere und nicht Christus, der Richter oder der Allmächtige mit dem Donnerkeil. Jedes Geschöpf scheint dort so fröhlich; es ist für jedes so wohl gesorgt, daß es mir dort weit wohler ist als in der Kirche. Allein das kommt nur daher, weil ich so wenig Religion habe.