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Die Briefe kommen jetzt wieder regelmäßig aus Flandern und enthalten meist gute Nachrichten. Bertrand schreibt, daß nirgends die evangelische Lehre so freudige Aufnahme findet, wie dort.
Die Bürger der großen freien Städte sind so lange schon gewohnt, selbständig zu urteilen und ihre Meinungen frei zu äußern. Die Augustinermönche, welche in Wittenberg studiert hatten, brachten das Evangelium mit nach Antwerpen und predigten es offen in ihrer Kirche, welche so gedrängt voll wurde, daß viele der eifrigen Zuhörer vor den Thüren stehen bleiben mußten. Bertrand sagt zwar, daß der Prior und zwei der Mönche gefangen genommen, in Brüssel verurteilt und auf immer zum Schweigen gebracht worden seien; aber die übrigen fahren unerschrocken fort zu predigen, wie zuvor, und die Verfolgung hat das Interesse der Bürger nur noch erhöht.
Die wichtige Begebenheit übrigens, welche jetzt uns alle beschäftigt, ist die Veröffentlichung des Neuen Testaments in Dr. Luthers deutscher Übersetzung. Chrimhilde schreibt, daß es der größte Segen für sie sei, weil sie, die immer bange ist, zu viel zu sagen, nun einfach den Bauern aus dem Neuen Testament vorlesen kann, und die armen Leute verstehen dies Buch weit besser, als alles, was sie ihnen über die evangelische Wahrheit sagen kann; und wenn sie auch einmal an eine schwierige Stelle kommen, so finden sie gewöhnlich, daß im Weiterlesen alles klar wird. Auch liest Ulrich, wie sie schreibt, jeden Abend vor der ganzen Dienerschaft daraus vor, was wie ein wunderbares Band alle Glieder des Hauses umschlingt und einigt. Sie und Ulrich fühlen, daß sie endlich etwas unschätzbar köstliches gefunden haben, das kein »Privilegium für gewisse Leute oder Stände,« sondern aller gemeinsames Eigentum ist.
In vielen Familien wird täglich aus diesem köstlichen Buche vorgelesen; denn es gibt wenige unter denen, die lesen können, welche zu arm sind, ein Exemplar zu kaufen, da der Preis nur anderthalb Gulden beträgt.
Auch neue geistliche Lieder kommen jetzt unter uns auf. Wir brauchen nicht mehr nur den Alten nachzusingen. Vor einigen Tagen sang ein Fremdling aus dem Norden vor Dr. Luthers Fenster im Augustinerkloster ein Lied, welches, mit den Worten anfing: »Es ist das Heil uns kommen her.« Dr. Luther bat, daß es möchte wiederholt werden. Es war eine Antwort aus Preußen auf die frohe Botschaft, welche seine Schriften durch die ganze Welt verbreitet haben! Er sagte, er habe »Gott aus vollem Herzen dafür gedankt.«
Wir sind sehr glücklich, Eva wieder in unserer Mitte zu haben. Sie scheint überall Frieden mit sich zu bringen; nicht sowohl durch das, was sie thut oder spricht, als durch das, was sie ist. Sie wirkt auf die Gemüter wie eine erhebende Musik. In ihrer Nähe verbreitet sich eine sanfte Ruhe über die Seele. Niemand braucht so wenig Platz oder macht so wenig Geräusch in der Welt, wie Eva, und doch, wenn sie fort ist, scheint Musik und Licht mit ihr dahin zu sein. Alles an ihr ist so harmonisch: ihre leise, süße Stimme, ihre sanften, geräuschlosen Bewegungen, ihre feinen Gesichtszüge, die sanft gerundeten Wangen, die tiefen, liebestrahlenden Augen, aus Denen Eva selbst gleichsam einem in's Herz schaut.
Wie ganz anders ist dies alles bei mir, die selten in ein Zimmer treten kann, ohne etwas umzuwerfen, oder jemanden zu stören, und keine Unterredung führen kann, ohne gegen anderer Vorurteile anzustoßen oder ihre Gefühle zu verletzen.
Es ist mir zuweilen, als ob Gott unsere Eva, wie es im Psalm heißt, wirklich mit den Augen leite, als ob er durch die unmittelbare Unterweisung Seiner Gnade sie zu dem gemacht hätte, was sie ist, anstatt durch die rauhere Erziehung des Schicksals. Und doch gibt sie mir nie das Gefühl einer unerreichbaren Ueberlegenheit. Sie ist nicht wie ein Stern, bei dessen Anblick man denkt, wie friedlich es in jenen Höhen sein muß, sondern wie ein Licht, das unsern Pfad erhellt; wie ein Sonnenstrahl, der zu uns herabkommt und uns wärmt und erheitert.
Sie erinnert mich immer an den Heiligen, der still in den Himmel entrückt ward, weil er mit Gott gewandelt hatte. Ja, so ist es gewiß bei ihr.
Nur beschleicht mich zuweilen der boshafte Wunsch, sie wenigstens einmal ganz aus ihrer stillen Ruhe aufgerüttelt zu sehen, um gewiß zu sein, daß es wirklich der Friede Gottes und nicht eine übernatürliche zauberhafte Gabe oder die stoische Gleichgiltigkeit ihrer » Theologia Germanica« ist. Manchmal will es mich dünken, als ob Eva doch schon ein bißchen zu viel der Erde »entrückt« wäre, als ob sie schon über die höchste irdische Freude und den tiefsten Schmerz hinaus wäre, wenigstens was sie selbst betrifft. In Bezug auf andere ist sie's freilich nicht. Ihre Teilnahme ist gewiß nicht wie ein in Herablassung gespendetes Almosen, von dem jenseitigen Ufer herübergeworfen, kein mitleidiger Blick auf einen Kummer, den sie nicht teilen könnte. Nein! Habe ich doch ihre Lippe beben sehen, während ich mit fester Stimme von den Gefahren sprach, welche Bertrand umringen, und ihre Thränen auf meiner Wange gefühlt, als sie mich an ihr Herz zog.
Im Dezember 1522.
Diese Frage ist gelöst! Ich habe Base Eva endlich aus ihrer Ruhe herausgerissen gesehen und bin nun ganz gewiß, daß sie noch nicht »entrückt« ist. Gestern Abend saßen wir alle traulich im Wohnzimmer. Großmutter war hinter dem Ofen eingenickt, Eva und Mutter arbeiteten emsig am Tische, um Atlantis an ihrem Hochzeitsanzuge, den sie bald nach Neujahr gebrauchen wird, zu helfen. Ich las Vater aus Dr. Melanchthons »Gemeinplätzen« vor, einem unlängst erschienenen Buche, dessen Sprache alle gelehrten Leute so viel schöner finden, als Dr. Luthers Werke, das mir aber wie ein künstlich gemachtes Buch vorkommt, nicht eine Stimme aus der Tiefe des Herzens, wie Dr. Luthers Schriften. Ich war, gleich unserer Großmutter, ein wenig schläfrig, und rings umher herrschte lautlose Stille, als auf einmal unsere kleine Dienstmagd Lottchen mit verstörtem Gesicht die Thüre öffnete, und, ehe sie noch etwas sagen konnte, ein großer bleicher Mann vor uns stand. Nur Eva und ich saßen mit dem Gesicht der Thüre zugewendet. Ich wußte nicht, wer es war,, bis Eva mit leiser, bestürzter Stimme »Fritz« ausrief und in Ohnmacht sank.
Im nächsten Moment kniete er neben ihr, mit den zärtlichsten Worten sie ins Leben zurückrufend, indes meine Mutter auf der andern Seite stand, die bewußtlose Gestalt in ihren Armen zu unterstützen und Fritzens Namen schluchzte.
Unser lieber Vater hatte sich erhoben und fragte erstaunt, was es denn gebe? Großmutter erwachte, rieb sich die Augen,, überschaute die ganze Gruppe mit Verwunderung und murmelte leise:
»Ist's ein Traum? oder haben die Zwickauer Propheten doch Recht, und dies ist die Auferstehung?«
Keines aber dachte daran, daß weder Thränen noch zärtliche Worte, noch Ausrufungen eine Ohnmächtige wieder zu sich bringen können, bis zu meiner großen Beruhigung die gute, mütterliche Else erschien und sagte: »Was gibt es denn hier? Lottchen kam herübergerannt und sagte, sie glaube, es seien Diebe ins Haus gedrungen.«
Dann, mit einem Blicke alles begreifend, tauchte sie ein Tuch in Wasser, wusch Evas Schläfe und fächelte sie damit, bis nach wenigen Minuten Eva mit leisem Schluchzen erwachte, ein Weilchen darauf die Augen aufschlug, und, als sie Fritz erblickte, mit dem Ausdrucke der süßesten Ruhe ihre andere Hand auf die seinige legte, welche schon die eine festhielt, und auf's neue die Augen schloß. Ich sah große Thränen unter den geschlossenen Augenliedern hervorquellen. Dann blickte sie wieder auf, sah meine Mutter an, die sich zu ihr herabbeugte, ergriff ihre Hand, und legte sie in Fritzens; hierauf ließen wir alle drei alleine.
Im andern Zimmer fingen wir alle an zu weinen.
»Er sieht schrecklich elend aus,« schluchzte ich. »Sie müssen ihn beinahe umgebracht haben.«
Else sagte: »Sein Gesicht hat ganz denselben Ausdruck wie damals, als sie eben von der Pest genesen war und er mit der strengen, hoffnungslosen. Ruhe unbeweglich neben ihr stand, ehe er uns verließ, um ins Kloster zu gehen. Was wird jetzt wohl kommen?«
Großmutter sagte mit schwacher, gebrochener Stimme:
»So sah Euer Großvater aus, als er im Gefängnisse von mir Abschied nahm. Ich bin oft ganz verwirrt. Es ist mir, als ob die alten Zeiten wieder kämen. Ich kann nicht ergründen, ob dies ein Traum, oder eine Erscheinung, oder die Auferstehung ist.«
Nur unser Vater weinte nicht mit, sondern sprach die viel weiseren Worte:
»Kinder, die größte Freude, die uns zu Teil werden konnte, seit Fritz uns verlassen hatte, ist in unser Haus eingekehrt. Laßt uns Gott dafür danken! Wir standen alle um ihn her, während er sein Sammelkäppchen von dem kahlen Schädel nahm und ein inniges Dankgebet sprach, zu dem wir alle unser »Amen« schluchzten. Hierauf wurden wir ein wenig ruhiger; der überwältigende Sturm der Gefühle, indem wir nicht wußten, ob wir uns freuen oder betrüben sollten, legte sich allmälig und wir erkannten, daß uns wirklich eine unbeschreibliche Freude zu teil geworden war.
Jetzt wurde es etwas unruhig im Hause, und Mutter rief uns ins Wohnzimmer zurück. Wir fanden sie allein mit Fritz, der sich nun der Reihe nach von uns allen herzen und küssen lassen mußte.
»Komm Fritz,« sagte Else, »und versichere unsere Großmutter, daß du wirklich am Leben, daß du nicht tot gewesen bist.« Und dann setzte sie hinzu, während ihre Augen sich mit Thränen füllten: »Ach, was mußt du gelitten haben! Wenn ich mich nicht erinnert hätte, wie du aussahst, ehe du die Tonsur empfingst, würde ich dich schwerlich erkannt haben, mit deinem langen, schwarzen Bart und deinem bleichen magern Gesichte.«
»Ja,« bemerkte Atlantis mit dem entschiedenen Tone, womit sie gewöhnlich ihre Entdeckungen verkündigt, »deshalb hat auch Eva ohne Zweifel Fritz erkannt noch vor unserer Thekla, obgleich beide der Thüre gegenüber saßen und ihn zu gleicher Zeit sehen mußten. Sie erinnerte sich seiner noch vor seiner Tonsur.«
Wir lächelten alle über der Schwester Entdeckung, worüber sie uns verwundert ansah und fragte: »Glaubt Ihr denn, daß sie ihn nicht erkannt hat? Daran habe ich nicht gedacht, sie hat ihn also wahrscheinlich für einen Dieb gehalten, wie Lottchen!«
Fritz war mit Mutter ins Gespräch vertieft und hörte nicht auf uns; Else aber sagte lachend, indem sie Atlantis freundlich auf die Hand klopfte:
»Konrad Winkelried muß sich sehr deutlich ausgedrückt haben, Schwesterchen, ehe du ihn verstandest!«
»Gewiß that er das, Schwester Else,« erwiderte Atlantis ernsthaft. »Aber was hat dies mit Eva zu thun?«
Als ich in unser Zimmer hinauf kam, fand ich Eva vor dem Bette knieend. Nach wenigen Minuten erhob sie sich, schloß mich in ihre Arme und sagte:
»Gott ist unendlich gütig, Thekla. Ich habe es schon lange geglaubt, aber nie so, wie heute Abend.«
Ich sah, daß sie geweint hatte; aber ihre Züge hatten die gewohnte Ruhe wieder gewonnen, nur strahlten sie jetzt gleichsam in mildem Sonnenlichte.
Dann wie wenn sie fürchte, über ihrem eigenen Glücke andere zu vergessen, nahm sie meine Hände und sagte:
»Liebe Thekla! Er leitet uns durch alle dunkeln Wege zum Lichte. Wir wollen ihm nie mehr mißtrauen.«
Ohne ein Wort weiter zu reden, begaben wir uns zur Ruhe. Als ich am Morgen erwachte, sah ich Eva neben mir am Tische sitzen, und die lateinische Bibel lag aufgeschlagen vor ihr. Ich beobachtete ihr Gesicht eine Weile. Es war so rein, so fromm, so glücklich, es trug so ganz den Ausdruck, der mir stets den Sinn der Worte »Kind Gottes« und »meine Kindlein«, wie unser Herr seine Jünger kurz vor seinem Scheiden genannt hat, klar machte. Es lag so viel von den: ungetrübten Vertrauen eines »Kindes« und doch wieder solch ein tiefer Frieden »Gottes« darin.
Nach einer Weile schloß sie die Bibel und begann an einem Kleide zu nähen, das sie versprochen hatte, mir für Weihnachten zurecht zu machen. Während der Arbeit summte sie, wie gewöhnlich, leise ein altes Kirchenlied. Endlich fragte ich:
»Eva, wie alt warst du, als Fritz Mönch wurde?«
»Sechzehn,« antwortete sie sanft. »Er ging gleich nach der Pest ins Kloster.«
»So seid ihr also zwölf lange Jahre getrennt gewesen,« sagte ich. »Gott scheint also die Geduld oft eine lange Zeit zu üben.«
»Jetzt scheint es nicht mehr lange,« sagte sie; »wir glaubten beide, daß Gott uns hienieden auf immer getrennt habe.«
»Arme Eva!« rief ich aus. »Dieser Kummer also hat dich so gut gemacht.«
»Ich wußte gar nicht, daß es ein so großer Kummer war, bis gestern Abend,« sagte sie mit zitternder Stimme.
»Ihr habt euch also immer im Stillen geliebt,« sprach ich, wie zu mir selbst.
»Ich glaube, ja,« erwiderte sie leise. »Aber bis gestern wußte ich nicht wie sehr.«
Nach einer kurzen Pause fing sie lächelnd wieder an:
»Denke dir, Thekla, er findet mich gar nicht verändert nach so vielen Jahren! Mich, die Vorsteherin der Novizen! Aber ach! wie verändert er ist! Welche tiefe Spuren des Leidens auf seinem Gesichte! Wie muß er gequält worden sein!«
»Gott gibt Dir jetzt die Lebensaufgabe, ihn zu pflegen und ihm beizustehen,« sagte ich. »O Eva! es muß gewiß das schönste Los in der Welt sein, dem Teuersten, den man auf Erden besitzt, die Wunden zu verbinden, welche Menschen ihm geschlagen haben, weil er Gott vor allem liebte! Es muß unaussprechliche Freude sein, aus Gottes Hand eine Liebe wieder zu empfangen, die ihr beide willig gewesen seid, zu opfern!«
»Das ist auch deiner Mutter Meinung,« erwiderte Eva. »Sie sagte gestern Abend, das Gelübde, das uns verbinden werde, sei heiliger, als das irgend eines Heiligen oder Einsiedlers.«
»Sagte das unsere Mutter wirklich?« fragte ich erstaunt.
»Ja,« antwortete Eva. »Und sie sagt, daß Dr. Luther gewiß eben so denken werde.«