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Wittenberg im Juni 1512.
Unsere Eva scheint im Kloster glücklich zu sein. Sie hat den Schleier genommen und ist nun wirklich Schwester Ave. Sie hat auch für Vater Augenwasser geschickt. Allein trotz aller angewandten Mittel nimmt das Gesicht immer mehr ab.
Ich weiß nicht wie, aber Vaters Erblinden scheint der Familie zum Segen zu gereichen.
Unsere Großmutter, die jetzt sehr schwach ist und selten ihren Lehnstuhl am Ofen verläßt, ist viel duldsamer gegen seine Pläne geworden, seitdem keine Aussicht mehr vorhanden ist, sie auszuführen und hört mit bewunderungswürdiger Geduld zu. wenn er ihr von den Wundern erzählt, die er vollbracht haben würde, falls er sein Gesicht nur noch einige Jahre behalten hätte.
Auch scheint Vater viel weniger niedergeschlagen, als man erwarten sollte.
Als ich ihn eines Tages tröstete, indem ich davon sprach, wie unserer Mutter Züge viel weniger sorgenvoll seien, sagte er:
»Ja, Kind, auf die Länge ist das praeteritum plusquamperfectum conjunctivi viel angenehmer als das futurum conjunctivi.«
Er merkte, daß ich ihn nicht verstand und erklärte mir's deutlicher.
»Es ist leichter, wenn man sich einmal drein ergeben hat, zu sagen: »wenn ich dies gehabt hätte, würde ich das gethan haben,« als: »wenn ich dies bekommen kann, werde ich das thun;« wenigstens ist es für das erregbare und sorgliche Gemüt der Frauen leichter.«
»Aber für dich, Vater?«
»Für mich ist es ein Trost, endlich Anerkennung zu finden. Selbst deine Großmutter begreift nun, welche große Resultate ich erzielt hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre, meine letzte Erfindung, vermittelst des Dampfes Wasser zu pumpen, zur Ausführung zu bringen.«
Unsere Großmutter muß in der That sich sehr bezwungen haben, um ihre gewohnte Freimütigkeit zu überwinden. Denn ich muß gestehen, daß ihre ganze Familie diese letzte Idee mit dem Dampfe für die seltsamste und unausführbarste von Vaters Erfindungen hält. Das Geheimnis einer beständigen Bewegung kann ohne Zweifel entdeckt und eine Uhr zusammengesetzt werden, die nie aufgezogen zu werden braucht, –ich halte das gar nicht für sehr schwierig. Es kann auch sehr wohl möglich sein, Blei in Gold oder Eisen in Silber zu verwandeln, wenn man den richtigen Grad von Hitze findet. Mein Vater hat mir das ganz klar bewiesen. Das Elixier, welches das Leben ins Unendliche verlängert, scheint mir schon viel schwieriger; aber der Gedanke, Wasser zu pumpen vermittelst des Dampfes, der sich aus dem kochenden Wasser entwickelt und in einem Augenblick sich zerteilt, scheint uns Allen wie ein Traum und ganz unmöglich, so daß es vielleicht ein Glück für uns ist, daß Vater keine Zeit und kein Geld mehr dafür verschwenden kann. Ueberdies haben seine Experimente schon zwei oder drei Explosionen verursacht und einige unserer Nachbarn machten sehr unangenehme Anspielungen auf die Schwarzkunst und Zauberei, so daß ohne Zweifel sich so alles zum Besten gewendet hat.
Natürlich hätte ich ihn dies um die ganze Welt nicht mögen merken lassen, und sagte daher bloß ausweichend:
»Großmutter ist in der letzten Zeit wirklich viel sanfter und ruhiger geworden.«
»Nicht nur das,« erwiderte er, »sondern sie hat auch einen überlegenen Verstand; sie begreift. Und,« fuhr er fort, »ich habe sogar die leise Hoffnung, daß der junge Edelmann, Ulrich von Gersdorf, der so oft zu uns kommt, um sich nach Eva zu erkundigen, noch einst meine Pläne ausführen wird. Er und Chrimhilde scheinen ganz verständig auf die Idee einzugehen. Da ist überdies auch Meister Reichenbach, der reiche Kaufmann, welchen Tante Cotta uns empfohlen hat, der Geld genug hat, meine Pläne großartig auszuführen. Er verspricht freilich nicht viel, aber er ist ein kluger und aufmerksamer Zuhörer und das ist schon etwas. Gottfried Reichenbach ist auch sehr gebildet und aufgeklärt für einen Kaufmann, nur vielleicht ein bißchen langsam im Begreifen und gar zu vorsichtig.«
»Bei seinen Almosen ist er nicht allzu vorsichtig, Vater,« sagte ich, »wenigstens nach Dr. Luthers Urteil.«
»Das mag wohl sein,« antwortete er. »Jedenfalls sind die Bürger von Wittenberg denen von Eisenach weit überlegen; denn die letztem waren ungläubig und dumm in hohem Grade. Das wird etwas Großartiges sein, wenn Reichenbach und Gersdorf meinen Plan ins Werk setzen. Reichenbach kann ihn bei den Patrizierfamilien der großen Städte, mit welchen er in Verbindung steht, einführen, und von Gersdorf bei seinen Verwandten unter dem Adel. Es würde freilich kein so großer Vorteil für die Familie sein, als wenn Pollux und Christoph oder unser armer Fritz meine Erfindung benutzt hätten. Aber tröste dich, meine Else, wir sind Kinder Adams, noch ehe wir Cottas sind. Man muß nicht blos an die Familie, sondern an die Welt denken.«
Meister Reichenbach mag wohl ein aufrichtiges Interesse an Vaters Erfindung haben; allein Ulrich von Gersdorfs Teilnahme ist mir ein wenig verdächtig. Chrimhildens Stickerei interessiert ihn, wenn ich mich nicht sehr irre, weit mehr als Vaters Dampfpumpe, und obgleich er noch immer von Eva spricht, als ob er sie für einen Engel halte, so sieht er gleichwohl zuweilen Chrimhilden an, als ob sie ihm ein nicht minder verehrungswürdiges Wesen sei.
Eine solche Unbeständigkeit gefällt mir nicht. Auch ist seine Unterhaltung so ganz anders als die des Meisters Reichenbach. Ulrich von Gersdorf kennt nichts vom Leben als Eberjagden, Kämpfe mit feindlichen Rittern, oder Hinterhalt und Angriff auf irgend einen wehrlosen Krämer. Er hat sein Leben in dem Schlosse seines Oheims im Thüringer Walde zugebracht, und ich nehme es Chrimhilden nicht übel, daß sie mit gespannter Aufmerksamkeit und glühenden Wangen, über ihre Stickerei gebeugt, seinen Geschichten von Ueberfällen und wilden Abenteuern lauscht. Mir kommt aber ein solches Leben roh und ungesetzlich vor. Ulrichs Oheim ist unverheiratet und es war keine Dame im Schlosse, außer einer verwitweten Tante Ulrichs, die stolz wie Lucifer sein muß und sich besonders viel darauf zu Gute thut, daß sie Perlen und Sammt tragen darf, was keiner Bürgersfrau erlaubt ist.
Ulrichs Mutter starb schon früh. Ich glaube, daß sie bescheidener und von edlerer Gesinnung war. Er sagt, daß ein altes Meßbuch, das seiner Mutter gehört hat, das einzige Buch im ganzen Schlosse sei. Er hat noch eine andere Tante, namens Beatrix, die bei unserer Eva im Kloster zu Rimptschen ist. Sie wurde dorthin geschickt, um sie zu verhindern, einen jungen Mann zu heiraten, mit dessen Familie sie eine von den Vorfahren ererbte Fehde hatten. Ich fange an zu glauben, daß Fritz Recht hatte, zu behaupten, daß das Leben dieser kleinen Edelleute nicht halb so edel ist wie das der Bürger. Außer dem kleinen Distrikt, wo sie ihre Gewaltherrschaft üben, kennen sie nichts von der Welt. Sie haben keine ehrliche Weise, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, sondern ernähren sich von der harten Arbeit ihrer unglücklichen, bedrückten Bauern und von der Plünderung ihrer Feinde.
Herr Reichenbach dagegen ist mit den Patrizierfamilien der großen Stadt Nürnberg verwandt; und obgleich er nicht sehr viel spricht, so weiß er doch Geschichten von Malern und Dichtern und großen Weltbegebenheiten zu erzählen. Ach, wenn er nur Fritz gekannt hätte! Er hört es gerne, wenn ich von ihm rede.
Auch von Bruder Martin Luther, der hier an der Spitze des Augustinerklosters steht und der bedeutendste Mann in Wittenberg ist, erzählt mir Herr Reichenbach sehr viel.
19. Oktober 1512.
Dies war ein wichtiger Tag für Wittenberg. Der Mönch Martin Luther ist zum Doktor der Gottesgelehrtheit ernannt worden. Herr Reichenbach verschaffte uns vortreffliche Plätze, und so sahen wir, wie er von Dr. Andreas Bodenstein von Karlstadt diese Würde empfing.
Die große Glocke der Stadtkirche, welche nur bei besonders wichtigen Gelegenheiten geläutet wird, erschallte wie an einem großen Festtage. Die Autoritäten der Universität zogen in Prozession durch die Straßen; und nachdem Bruder Martin Luther den Eid abgelegt hatte, wurde er feierlich mit dem Doktorskleid und Hut und Ring eingekleidet, welch letzterer von massivem Golde ihm von dem Kurfürsten geschenkt wurde.
Was aber den meisten Eindruck auf mich machte, war der Schwur, den Dr. Luther mit seiner schönen, klaren Stimme sehr feierlich ablegte. Dr. Bodenstein, gewöhnlich Karlstadt genannt, sprach ihm die Worte vor. Herr Reichenbach hat mir die lateinischen Worte ausgeschrieben, um sie Eva zu senden: » Juro me veritatem evangelicam viriliter defensurum«; was, wie Herr Reichenbach mir übersetzt hat, auf deutsch heißt: »Ich schwöre, die evangelische Wahrheit mutig zu verteidigen.«
Nur noch auf der Universität zu Tübingen wird dieser Eid verlangt. Dr. Luther schwor ihn, als ob er ein Ritter aus alten Zeiten wäre, gelobend, Gut und Blut für irgend eine heilige Sache zu wagen. Mir, welche die Worte nicht sogleich verstehen konnte, schien seine Miene mehr die eines auf sein Schwert gelobenden Kriegers, als die eines Doktors der Theologie.
»Und was er geschworen hat, das wird er auch halten!« sagt Herr Reichenbach.
Chrimhilde lacht über Meister Reichenbach, weil er sich für Dr. Luthers Vorlesungen eingeschrieben hat.
»Mit seinem ernsten, alten Gesicht und seinem grauen. Haar unter den jungen wilden Studenten zu sitzen!« sagt sie.
Allein ich kann gar nichts Lächerliches daran finden. Ich finde etwas Edles darin, daß ein Mann in voller Lebenskraft sich entschließt, wie ein Kind zu lernen. Ueberdies, was Chrimhilde auch sagen mag, ist Herr Reichenbach, wenn er auch ein bißchen kahl ist und einige graue Haare hat, dämm noch kein alter Mann. In diesen stürmischen Zeiten kann man nicht erwarten, daß gesetzte Männer solch glatte Gesichter und volles, dunkles Lockenhaar haben, wie Ulrich von Gersdorf.
Ich weiß gewiß, wenn ich ein Mann und noch einmal so alt wäre als er, so würde ich nichts lieber thun, als Doktor Luthers Vorlesungen zuzuhören. Ich habe ihn einmal in der Stadtkirche predigen hören, wie ich nie zuvor predigen hörte. Er sprach von Gott und Christo, von Himmel und Hölle so einfach und überzeugend, wie wenn er irgend eine menschliche Sache verfechten oder eine Begebenheit erzählen wollte, die sich erst gestern zugetragen, anstatt uns seine Rede herzusagen, wie viele Mönche thun, als ob es ein Abschnitt aus der lateinischen Grammatik wäre.
Mir kam dabei der Gedanke, daß ich vielleicht doch eine Religion finden könnte, die für mich paßt. Sogar Christoph war aufmerksam. Er sagte, Dr. Luther spreche so einfach, daß man ihn verstehen müsse.
Er hat uns einmal besucht und war so ehrerbietig gegen unsere Großmutter, so geduldig mit Vater, und sprach mit solcher Liebe von Fritz!
Fritz hat geschrieben und uns sehr dringend empfohlen,. Dr. Luther zum Beichtvater der Familie zu wählen. Er sagt, er könne Dr. Luther nie vergelten, was er ihm Gutes gethan habe. In der That schreibt er auch heiterer, als er je gethan, seitdem er uns verlassen hat, obgleich er das schreckliche, unwiderrufliche Gelübde endlich abgelegt hat.
März 1513.
Dr. Luther hat eingewilligt, unser Beichtvater zu sein; und Gott Lob! ich glaube, ich habe endlich die Religion gefunden, die mich sogar lehren wird, Gott zu lieben. Dr. Luther sagt, ich habe Gott und den Herrn Jesum völlig mißverstanden. Er schien mit einem Blicke alles zu verstehen, wonach ich mich mein Leben lang gesehnt und was mich verwirrt hatte. Als ich begann, ihm stammelnd meine Beichte und alle meine Bedenken vorzutragen, schienen sie alle klar vor seinen Augen da zu liegen, und er erklärte sie mir alle. Er sagt, ich habe mir Gott als einen strengen Richter, einen Erpresser, einen harten Gläubiger vorgestellt, während Er doch ein Geber alles Guten, ein verzeihender Heiland, ja der Quell unaussprechlicher Liebe ist.
»Gottes Liebe,« sagte er, »gibt aus der Fülle eines Vaterherzens; Er ist der Urquell alles Guten. Die Liebe des Gebers macht die Gabe erst köstlich und wert; wie wir Menschen untereinander selbst von einer kleinen Gabe zuweilen sagen: ›Sie kommt von einer lieben Hand,‹ und weniger das Geschenk ansehen als das Herz.«
»Wenn wir Ihn nur in seinen Werken betrachten wollen, werden wir lernen, daß Gott nichts als die reinste unaussprechliche Liebe ist. Schande genug, daß die Welt dies nicht einsieht, noch Ihm dankt, obgleich sie täglich zahllose Wohlthaten vor Augen hat. Sie verdiente, daß die Sonne keinen Augenblick länger schiene, noch das Gras wüchse; allein Er hört keinen Augenblick auf, uns zu lieben und uns Gutes zu thun. Es fehlt mir an Worten, von Seinen geistlichen Gaben zu sprechen. Hier gibt Er uns nicht Sonne und Mond oder Himmel und Erde, nein, Sein eigenes Herz, Seinen geliebten Sohn, den Er sein Blut vergießen und den schmachvollsten Tod erleiden läßt für uns elende, undankbare, gottlose Geschöpfe! Wie sollten wir nun etwas anderes zu sagen wagen, als daß Gott ein Abgrund endloser, unergründlicher Liebe ist.«
»Die ganze Bibel,« sagt er, »ist voll von diesen Versicherungen, damit wir nicht zweifeln, sondern ganz gewiß sein sollen, daß Gott barmherzig, gnädig, geduldig, treu und wahr ist. Daß Er nicht nur Seine Verheißungen erfüllen will, sondern sie schon gehalten und überschwänglich mehr gethan bat, als Er versprochen, da Er seinen Sohn für uns ans Kreuz schlagen ließ, damit Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben sollen.«
»Wer dies glaubt und annimmt,« fügte er hinzu, »daß Gott seinen eingebornen Sohn gegeben hat, um für uns arme Sünder zu sterben, der hegt nicht mehr den geringsten Zweifel, sondern dem ist es untrügliche Wahrheit, daß Gott uns mit ihm selber versöhnt hat und uns herzlich gnädig ist.«
»Da das Evangelium uns Christus, den Sohn Gottes zeigt, welcher nach dem Willen des Vaters sich für uns geopfert und unsere Sünde gebüßt hat, so kann das Herz nicht mehr an Gottes Güte und Gnade zweifeln; es ist nicht mehr bange, noch flieht es vor Gott, sondern setzt alle Hoffnung auf Seine Güte und Barmherzigkeit.«
»Die Apostel ermahnen beständig,« sagt er, »in der Liebe Gottes zu bleiben, –das heißt, ein Jedes soll in seinem Herzen völlig gewiß sein, daß es von Gott geliebt wird und diesen Beweis vor Augen behalten, daß Gott seines Sohnes nicht hat verschonet, sondern Ihn für die Welt dahingegeben hat, damit die Welt durch seinen Tod das ewige Leben haben möchte.«
»Gott setzt seinen Ruhm und Ehre darein, reichlich zu geben. Er ist die reinste Liebe, so daß wenn Jemand Gott beschreiben oder schildern wollte, so müßte er ein Wesen beschreiben, das ganz Liebe ist, da Er eigentlich ein Feuer von Liebe ist, das Himmel und Erde erfüllt.«
»Liebe ist ein Bild von Gott, nicht ein totes oder auf ein Papier gemaltes, sondern das wirkliche Wesen der göttlichen Natur.«
»Er ist nicht hart, wie wir es gegen diejenigen sind, welche uns beleidigt haben. Wir ziehen unsere Hand ab und verschließen unsere Börse, aber Er ist freundlich und gütige selbst gegen die Undankbaren und Bösen.«
»Er sieht dich in dieser Armut und in deinem Elend, und weiß, daß du nichts bezahlen kannst. Deshalb vergibt Er dir umsonst und schenkt dir alles.«
»Es ist unerträglich, wenn Christenmenschen sagen: »Wir können nicht wissen, ob Gott uns gnädig ist oder nicht.« Wir sollten im Gegenteil sprechen lernen, »ich weiß, daß ich an Christum glaube, und deßhalb auch, daß Gott mein gnädiger Vater ist.«
»Weßhalb gibt Gott uns so viel?« sagte Luther eines Tages. »Was bewegt ihn dazu? Nichts als unaussprechliche Liebe, weil es Ihm Freude macht, zu geben und zu segnen. Was gibt Er? Nicht blos Königreiche, nicht eine Welt voll Silber und Gold, nicht bloß Himmel und Erde, sondern seinen Sohn, der so erhaben ist wie Er selbst, das heißt, der ewig und unbegreiflich ist; eine Gabe, ebenso unendlich, wie der Geber, der Quell aller Gnade; der Inbegriff aller Reichtümer und Schätze Gottes.«
Dr. Luther sagt auch, daß der beste Name, unter dem wir uns Gott denken können, der Vatername sei. »Es ist ein lieber, süßer, inniger, rührender Name; denn er ist seiner Natur nach voll süßen Trostes; dadurch bekennen wir uns auch als Kinder Gottes, damit bewegen wir unsern Gott aufs Innigste; denn es gibt für den Vater keinen lieblicheren Laut, als die Stimme Seines Kindes.«
Dies alles kommt mir höchst wunderbar vor. Kaum wage ich es, meine Hand auszustrecken und diese Wahrheit auch auf mein Herz anzuwenden.
Muß man wirklich so von Gott denken? Ist Er wirklich, wie Dr. Luther sagt, bereit, auf unsern leisesten Ruf zu hören, bereit uns zu vergeben und zu helfen?
Und wenn Er so ist, wenn es Ihm nicht gleichgiltig ist, was wir von Ihm denken, wie sehr muß ich Ihn alle vergangenen Jahre hindurch betrübt haben?
Nein, ich will Dir keinen Augenblick länger mißtrauen. Sieh, himmlischer Vater, ich bin zu Dir zurückgekehrt.
Kann es denn wahr sein, daß es Gott wohlgefällt, wenn wir Ihm trauen, wenn wir Ihn bitten, bloß weil Er uns liebt?
Kann es denn wahr sein, was Dr. Luther sagt, daß Liebe unsere größte Tugend ist, und daß dies Gott am wohlgefälligsten ist, wenn wir liebevoll und freundlich gegen einander sind, weil dies uns Ihm ähnlich macht?
Ja gewiß, es ist wahr! Es ist so schön, es muß wahr sein!
So ist es also auch mir, selbst mir möglich, Gott zu lieben. Wie sollte ich Ihn denn nicht lieben? Und es ist auch mir möglich, fromm zu sein, wenn fromm sein nichts anderes ist, als Gott lieben und Alles zu thun, was man kann, um andere glücklich zu machen.
Ja, wenn dies wirklich Religion ist, –dann ist es Freiheit; es ist Glück, es ist Leben!
Aber warum sehen denn so viele fromme Leute, die ich kenne, so traurig und niedergeschlagen aus, als ob sie Sklaven Mären, die für einen hartherzigen Herrn arbeiten müßten?
Ich will doch einmal Dr. Luther darum fragen.
April 1513.
Ich habe mit Dr. Luther darüber gesprochen, und er hat mir gesagt, es komme daher, weil der Teufel einen großen Teil an der Frömmigkeit habe, die wir vor Augen sehen. Er gibt sich selbst für Christum aus, ängstigt und schreckt die Menschen, geißelt sie mit der Erinnerung an ihre Sünden, und sagt ihnen, sie dürfen ihre Augen nicht gen Himmel erheben, weil Gott so heilig sei und sie so sündhaft. Allein das thut er nur, weil er weiß, daß ihre Furcht verschwinden würde, sobald sie ihre Augen gen Himmel richteten, weil sie dort Christum sähen, nicht als den Richter und den harten, strengen Gläubiger, sondern als den mitleidigen, liebevollen Heiland.
Es ist mir ein großer Trost, dieses vom Teufel zu glauben. Hat er doch mein ganzes Leben lang versucht, mich seine Religion zu lehren. Und jetzt habe ich seine Tücke erkannt. Er hat mir Lügen vorgesagt, nicht über mich (Dr. Luther sagt, er könne uns nicht sündhafter schildern als wir sind), sondern über Gott. Es thut mir fast eben so wohl, wenn Dr. Luther vom Teufel, als wenn er von Gott spricht. »Dieser traurige, boshafte Geist,« sagt er, »möchte gern jedermann unglücklich machen.«
Nun mit Gottes Hilfe will ich ihm nie mehr glauben. Allein Dr. Luther sagt, ich werde es doch noch oft thun; er werde wieder kommen und Gott verläumden und meinen Frieden auf so mancherlei Weise stören, daß es lange dauern werde, ehe ich ihn recht kennen lerne.
Ich schauderte, als er dies sagte; aber dann beruhigte er mich wieder, indem er mir eine schöne Geschichte aus der Bibel erzählte. Sie handelte von einem guten Hirten und thörichten, verirrten Schafen und einem grausamen Wolfe, der sie zu verschlingen trachtet. »Der Hirte,« sagt er, »sucht auf die freundlichste Weise die Schafe zu locken, daß sie immer nah bei ihm bleiben; und wenn sie sich verirren, so geht er ihnen nach, sucht sie, nimmt sie auf seine Schultern und trägt sie sicher heim. Unsere ganze Weisheit besteht darin, immer bei diesem guten Hirten, welcher der Herr Jesus ist, zu bleiben und auf seine Stimme zu hören.«
Ich wußte wohl, daß der Herr Jesus der gute Hirte genannt wird. Ich habe auch ein Bild von ihm gesehen, wie er ein Lamm auf seiner Schulter trägt. Allein bis Dr. Luther es mir erklärte, glaubte ich, es bedeute bloß, daß Er der Herr und Gebieter der ganzen Welt. sei. Aber ich dachte nie, daß auch ich ein Schäflein seiner Herde sei, daß er mich Tag für Tag suche, mich rufe, mich behüte.
Andere Menschen haben ohne Zweifel dies alles schon früher verstanden. Allein, wenn dies der Fall ist, warum predigen die Mönche nichts davon? warum dient Ihm dann Tante Agnes mit Bußübungen und Kasteiungen im Kloster, anstatt Ihm in der Welt durch thätige Menschenliebe zu dienen? Warum macht sich denn unsere gute, sanfte Mutter solche traurige Vorwürfe und glaubt, daß ein Fluch auf ihr und unserer Familie laste?
Dr. Luther sagt, »daß Christus für uns zum Fluch gemacht worden ist,« daß Er, das reine unbefleckte Lamm Gottes, am Kreuze für uns den Fluch getragen hat, und daß wir, wenn wir an ihn glauben, nicht unter dem Fluche, sondern unter dem Segen stehen, –daß wir die Gesegneten sind.
Dies ist also der Sinn des Kreuzes und des Agnus Dei.
Gewiß haben Viele dies längst begriffen, und ganz sicher wußte es wenigstens Eva von Kindheit an.
Allein welch' unaussprechliche Freude ist es jetzt für mich, wenn ich mit meiner Stickerei im Garten sitze, aufzuschauen zu den rötlichen Blüten des Apfelbaumes und den zarten grünen Blättchen und Gottes Liebe daran zu erkennen; der kleinen Drossel zu lauschen, welche dort ihr Nest gebaut hat, und in jedem Tone, der ihre kleine Kehle schwellt, die Liebe Gottes zu fühlen, welche auch für die kleiner: Vöglein Sorge trägt; –hinaufzuschauen zu dem klaren tiefen Himmelsblau und zu denken, daß dort mein Vaterhaus ist, daß, wenn Wolken es umziehen, sie das unveränderliche Licht nur umschleiern, daß, wenn der Tag dahinschwindet, die Nacht selbst neue, herrlich strahlende Welten mir enthüllt; –zu wissen, daß wenn ich im ganzen Weltall Gottes eine Falte nach der andern entrollen könnte, ich nur immer mehr Segen enthüllen, nur immer tiefer und tiefer die Liebe durchschauen könnte, welche von allem der Mittelpunkt ist.
Und dann, mit welcher Freude kehre ich wieder zu meiner Stickerei zurück und denke, während meine Finger emsig die Nadel führen:
»Damit werde ich meine Eltern unterstützen, auch dies ist ein kleines Liebeswerk. Und während ich so dasitze und sticke, ruht Gottes Wohlgefallen auf mir und meiner Arbeit. Er hat mir dies aufgetragen zu thun, so gut wie dem Mönche zu beten und Dr. Luther zu predigen. Ich diene Ihm und Er ist mir nahe in meinem kleinen Plätzchen, Er ist mit mir zufrieden, –sogar mit mir!« –
O Fritz und Eva! Hättet ihr dies gewußt, ihr hättet nicht nötig gehabt, uns zu verlassen, um in weiter Ferne Gott zu dienen!
So habe ich nun wirklich, wie St. Christophorus, mein Ufer gefunden, wo ich meinem Heilande dienen kann, indem ich, soviel mir möglich ist, den Pilgern hilfreich beistehe!
Besser, viel bester als St. Christophorus; denn ich kenne die Stimme, welche mir zuruft: »Else, Else, thue dies mir zu lieb!«
Nun ist mir auch gar nicht mehr bange vor dem Alter, was eine große Wohlthat ist; denn ich bin schon sechsundzwanzig und die Kinder halten mich fast für eben so alt wie unsere Mutter. Denn was ist das Altern anders, wenn Dr. Luther recht hat (und das hat er gewiß), als täglich Gott und seiner heiligen, seligen Wohnung näher kommen! Unser Heiland hat den Himmel seines Vaters Haus genannt, sagt Dr. Luther.
Nicht als ob ich mich von dieser Welt hinwegsehnte. Ist es doch heimatlich genug hier unten, so lange es Gottes Wille ist, daß wir hier bleiben und er uns nahe ist!
Im Mai 1513.
Diesen Morgen, als ich eben beschäftigt war, Vaters Lieblingskuchen zu bereiten, hörte ich Herrn Reichenbachs Stimme an der Thür. Er ging ins Wohnzimmer und bald stürmten Chrimhilde, Atlantis und Thekla in die Küche.
»Herr Reichenbach wünscht mit den Eltern zu sprechen,« sagte Chrimhilde, »und deshalb hat man uns hinausgeschickt.« Ich wurde ein wenig bestürzt. Es erinnerte mich an frühere Zeiten in Eisenach; aber seitdem wir in Wittenberg wohnen, sind wir nicht mehr in Schulden geraten; daher beruhigte ich mich nach kurzem Nachdenken. Die Kinder stellten allerlei Vermutungen an, was dieser Besuch wohl bedeuten möchte. Chrimhilde meinte, es müsse wohl eine Staatsangelegenheit betreffen, denn sie hatte ihn in ernstem Gespräche mit Ulrich von Gersdorf die Straße heraufkommen sehen, wobei sie wahrscheinlich über die Vorrechte des Adels und der Bürgerschaft gestritten haben.
Atlantis meinte: es müsse sich wohl auf Dr. Luther beziehen, weil Herr Reichenbach unserer Mutter bei seinem Eintreten ein neues Schriftchen von Dr. Luther überreicht habe.
Thekla war überzeugt, daß endlich der Augenblick gekommen sei, Vaters Erfindungen zu benützen; –ob es aber die beständig gehende Uhr, oder die Verwandlung der Metalle, oder die Dampfpumpe sei, wußte sie nicht zu sagen; allein sie glaubte ganz gewiß, daß es uns endlich unermeßlich reich machen müsse, weil Herr Reichenbach so ernsthaft ausgesehen habe und so ehrfurchtsvoll gewesen sei.
Sie hatten nicht lange Zeit, ihre verschiedenen Ansichten zu verfechten; denn wir hörten bald Herrn Reichenbachs Schritt rasch durch die Hausflur eilen und die Thüre eilig hinter ihm zumachen.
»Heißt das eine Besprechung?« sagte Chrimhilde verächtlich; »er ist nicht einmal zehn Minuten dageblieben.«
Gleich darauf kam unsere Mutter, welche ganz blaß und angegriffen aussah und mit zitternder Stimme sagte:
»Liebe Else, wir haben mit dir zu reden.«
»Du darfst es zuerst erfahren, Else,« sagten die Kinder. »Nun, das ist auch ganz in der Ordnung; du bist eine liebe,, gute ältere Schwester und wirst es uns gewiß auch mitteilen!«
Ich weiß nicht, warum ich meine Finger gar nicht so in der Gewalt hatte, wie sonst; denn es dauerte ziemlich lange, ehe ich mit dem Kuchen fertig wurde, meine Hände gewaschen und meine weißen Aermel, die hinaufgeschlagen waren, heruntergelassen und zugeknöpft hatte, um mich ins Wohnzimmer zu begeben, so daß meine Mutter mit einer an ihr ganz ungewohnten Geduld abermals herauskam und mich selbst in die Stube führte.
»Else, meine liebe Tochter, komm her,« rief mein Vater. Als er meine Hand in der seinigen hielt, fuhr er fort: »Herr Reichenbach hat mir einen Auftrag an dich gegeben. Viele Eltern bestimmen selbst über ihre Kinder; allein deine Mutter und ich wollen dir ganz freie Hand lassen. –Könntest du seine Frau werden?«
Diese Frage kam mir ganz unerwartet und ich vermochte bloß zu antworten:
»Ist's möglich, daß er an mich denkt?«
»Daran sehe ich nichts Unmögliches, meine liebe Tochter,« sagte der Vater; »jedenfalls hat Herr Reichenbach dieß außer allen Zweifel gesetzt. Es ist nur die Frage, ob unsere Else an ihn denken kann.«
Ich konnte nichts erwidern.
»Ueberlege es wohl, ehe du ihn abweisest,« sagte mein Vater. »Er ist ein guter, edeldenkender Mann; er verlangt kein Heiratsgut und sagt, du wärest für einen König reich genug; und ich muß sagen, daß er ein sehr kluger und gebildeter Mann ist, der wissenschaftliche Erfindungen bester zu schätzen weiß, als die meisten Männer jetziger Zeit.«
»Ich will ihn auch gar nicht abweisen,« stammelte ich errötend.
Allein meine zärtlich besorgte Mutter sagte, indem sie meinen Kopf auf ihre Schulter legte:
»Bedenke es wohl, liebes Herz, ehe du Ja sagst. Wir sind jetzt nicht mehr arm und bedürfen nicht den Reichtum eines Fremden, um uns glücklich zu machen. Der Himmel verhüte, daß unser Kind sich für uns aufopfern sollte. Herr Reichenbach ist ohne Zweifel ein guter und kluger Mann; aber ich kenne den Geschmack eines jungen Mädchens. Ich weiß, er ist klein von Gestalt, nicht kräftig und von hohem Wüchse wie unser Fritz und Christoph; auch ist er ein wenig kahl und nicht sehr jung und wohl ein wenig ernst und still, während junge Mädchen« –
»Aber Mutter,« unterbrach ich sie, »ich bin kein junges Mädchen, ich bin sechsundzwanzig und Herr Reichenbach kommt mir gar nicht alt vor; auch habe ich nie bemerkt, daß er kahl sei, und mit mir ist er gewiß nie schweigsam.«
»Schon recht, Else,« sagte lachend die Großmutter von ihrem Lehnstuhl hinter dem Ofen hervor. »Laßt nur die beiden es mit einander ausmachen, sie werden es besser in's reine bringen, als wir es könnten.
Am Abend kam Herr Reichenbach, und bald war alles in Ordnung.
»Das war also die ganze Verhandlung!« sagten die Kinder fast unzufrieden.
»Es scheint etwas so gewöhnliches,« sagte Atlantis. »Wir sind es gewohnt, Herrn Reichenbach zu sehen; er besucht uns ja fast täglich.«
»Das ist doch wohl kein Hindernis,« sagte Chrimhilde; »allein es kommt mir gar nicht recht wie heiraten vor, nur eben über die Straße zu gehen. Sein Haus ist ja gerade dem. unsrigen gegenüber.«
»Es ist aber viel schöner als das unsrige,« sagte Thekla. »Ich habe Herrn Reichenbach sehr gern; keiner hat sich je so für meine Zeichnungen interessiert wie er. Er sagt mir die Fehler und zeigt, wie ich sie verbessern soll, als ob er sie für etwas wichtiges hielte, was sie auch wirklich sind, da ich auch sticken lernen will wie du, Else, um die Eltern zu unterstützen. Auch ist niemand so gut gegen Nix wie er. Neulich hat er ihn sogar auf seinen Schoß genommen und ihm einen Splitter aus dem Fuß gezogen, was Nix sich von niemand wollte thun lassen als von mir. Nix hat Herrn Reichenbach sehr lieb und ich auch. Ich glaube, er ist viel vernünftiger als Ulrich, welcher Nix fortwährend neckt und sich anstellt, als ob er meine Katzen nicht von meinen Kühen unterscheiden könne. Uebrigens ist er gar nicht viel älter, und ich könnte es gar nicht aushalten, wenn unsere Else auch nur einen Schritt weiter entfernt von uns wohnte.«
Mit diesen Worten kletterte Thekla auf meinen Schoß und küßte mich, während Nix, auf seinen Hinterfüßen stehend, uns anbellte, indem er es augenscheinlich für eine wichtige Begebenheit ansah. So haben wenigstens zwei von der Familie ihre Einwilligung gegeben.
Allein niemand weiß bis jetzt, was Herr Reichenbach zu mir sagte, als wir diesen Abend einen Augenblick beisammen am Fenster standen. Er sagte:
»Else, diese Freude kommt von Gott. Seit dem Abend wo ihr alle in Wittenberg ankamet, und ich sah, wie sehr du dich der Betagten annahmst und die Jungen leitetest, wie du bei aller Unruhe nie aufgeregt wurdest, sondern immer bereit warst, für den kleinsten Liebesdienst zu danken, oder andern aus der Verlegenheit zu helfen, dachte ich, daß du die Sonne des Hauses seist, und bat Gott, daß du einst die Sonne des meinigen werden möchtest.«
Ach! da sieht man recht, wie die Liebe alle Fehler bedeckt. Allein er hat Fritz gar nicht, und Eva nur sehr wenig gekannt. Sie waren der rechte Sonnenschein in unserer Familie. Jedoch mit Gottes Hilfe will ich mein bestes thun, Herrn Reichenbachs Häuslichkeit zu erheitern.
Was aber das beste ist, ich bin gar nicht bange, dieses Glück anzunehmen. Ich glaube, daß Gott aus unaussprechlicher Liebe, wie Dr. Luther sagt, es mir gegeben hat, und ich fürchte nicht, daß er mir mein Glück mißgönnen werde.
Bevor Dr. Luther mein Beichtvater geworden, hätte ich nicht gewußt, ob ich es als einen Segen oder Fluch ansehen sollte; aber jetzt hege ich keine Furcht mehr. Eine schwere Last ist mir vom Herzen gewälzt, eine Binde von den Augen genommen; ich kann Gott meinen Vater nennen und unbesorgt alles aus Seiner Hand annehmen.
Und ich weiß, Gottfried fühlt wie ich. Da ich nie Beruf zu außerordentlicher Frömmigkeit hatte, ist es eine ganz besondere Gnade, nun eine Religion gefunden zu haben, die es einem armen, gewöhnlichen Mädchen in der Welt möglich macht, Gott zu lieben und Seinen Segen zu erlangen.
Juni.
Diese ganze Woche wußte unsere liebe Mutter nicht, wie sie sich genug entschuldigen sollte, Gottfried (so wünscht Herr Reichenbach, daß ich ihn nenne) alt, kahl, klein und ernst genannt zu haben.
»Du weißt, mein Herz, daß ich nur damit sagen wollte, daß du ihn nicht uns zu Liebe annehmen solltest. Ueberdies ist er auch, wie du sagst, fast gar nicht kahl, und man sagt, daß alle Männer, welche viel nachdenken, früh ihre Haare verlieren, und es ist gewiß gar nicht schön, immerwährend zu plaudern, und es können nicht alle Leute so groß sein wie Fritz und Christoph.«
»Und glaube nur, liebe Mutter,« sagte die Großmutter, »daß Else Herrn Reichenbach nicht um euretwillen gewählt hat. Aber bist du auch gewiß, daß er nicht Elsen um ihres Vaters willen nimmt? Er schien sich immer so sehr für die Dampfpumpe zu interessieren!«
Mutter und ich freuen uns sehr über den wohlthätigen Einfluß, den Herr Reichenbach über Christoph ausübt, dessen Kameraden und spätes Nachhausekommen uns seit einiger Zeit große Besorgnisse verursacht hatten. In ihn setzt Christoph kein Mißtrauen, weil er kein Priester und auch kein Freund der Mönche und Klöster ist; und er hinwiederum ist nicht so besorgt wegen Christoph, wie wir furchtsame Frauen es geworden waren. Er glaubt, daß edles Metall in ihm steckt; aber er sagt, das beste Erz könne nicht wie Gold glänzen, ehe es geschmolzen worden. Allein wie schwer ist es für uns Frauen von unserm stillen Herde aus zu unterscheiden, ob der Schein von einem Schmelzofen oder von einer gefährlichen Feuersbrunst herrührt.
Wittenberg im September 1513.
Diesen Morgen kamen Herr Reichenbach, Christoph und Ulrich von Gersdorf (welcher hier studiert) ganz aufgeregt von einem Streite zwischen Dr. Luther und einigen Doktoren und Professoren von Erfurt, dem sie zugehört hatten, zurück.
Ich kann nicht gerade sagen, daß ich ganz klar verstehe, um was es sich handelte, allein sie schienen es alle für sehr wichtig zu halten.
Unser Haus ist neuerdings ein rechter Versammlungsort geworden, was wohl zum Teil Vaters Blindheit zuzuschreiben ist, welche dafür bürgt, daß man immer jemand zu Hause finden kann.
Es scheint, daß Dr. Luther die alte Lehrmethode auf den Universitäten angreift, weshalb die alten Professoren ihn für einen gefährlichen Neuerer halten, und die jungen sich seiner freuen als eines Helden, der ihre Sache verficht. Und doch ist die Autorität, welche Dr. Luther wieder in ihre Rechte einzusetzen bemüht ist, älter als jene, welche er bekämpft. Er verlangt, daß nichts anderes als die heilige Schrift für theologische Wahrheit angenommen werde. Ich begreife nicht, warum man sich darüber noch streiten soll; denn ich meinte, alles was wir glauben, sei auf die heilige Schrift gegründet. Ich will doch Gottfried einmal darüber fragen, wenn wir allein sind.
Der Streit wurde heute geführt zwischen Dr. Andreas Bodenstein, Archidiakonus von Wittenberg, Dr. Luther und Dr. Jodocus von Eisenach, genannt Trutvetter, seinem alten Lehrer. Dr. Carlstadt selbst soll ganz überzeugt gewesen sein, und Dr. Jodocus zum Schweigen gebracht und bereit, nach Erfurt zurückzukehren.
Es herrscht eine große Begeisterung unter den Studenten. Dr. Luthers Hauptangriff scheint gegen den Aristoteles gerichtet zu sein, der ein heidnischer Grieche war. Ich kann mir gar nicht denken, warum diese Doktoren der Kirche ihn so eifrig verteidigen mögen; allein Herr Reichenbach sagt, daß der ganze Unterricht in den Schulen und die ganze Lehre von dem Ablaß irgendwie auf diesen Aristoteles gegründet sei, und daß Dr. Luther alles wegräumen möchte, was, einem Schirme gleich, sich zwischen die Studenten und die Bibel stelle.
Ulrich von Gersdorf sagt, Luther streite gerade so, wie sein Onkel Franz von Sickingen fechte. Er steht wie ein Fels auf irgend einem Punkte, auf dem er sich sicher fühlt, und dann, wenn seine Gegner müde sind von den Versuchen, ihn von der Stelle zu bringen, fällt er plötzlich über sie her und fegt sie hinweg wie ein Strom.
»Seine größte Macht scheint darin zu bestehen,« sagte Christoph, »daß er selbst jedes Wort glaubt, das er ausspricht. Er redet wie andere Menschen und arbeitet, als ob jeder Schlag treffen müsse.«
Und Gottfried sagte ruhig: »Er führt den Kampf Gottes gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer unserer Zeit, und die Schlacht wird gewonnen werden, er mag siegen oder untergehen. Es ist eine Schlacht, nicht blos gegen die Lüge, sondern hauptsächlich für die Wahrheit, um ihr den Platz zu sichern, den sie einmal gewonnen hat.«
»Wenn ich ihm zuhöre,« sagte Ulrich, »wünsche ich, daß meine Studien zu Ende wären und ich in unser altes Schloß im Thüringer Walde zurückkehren könnte, um dort allem Guten und Wahren einen neuen Antrieb zu geben. Ich glaube, daß der große Kampf eines jeden darin besteht, die Feinde Gottes in seinem eigenen Herzen und Hause zu überwinden. Luther redet von Aristoteles und Augustin; allein er erinnert mich an die Tyrannei und Trägheit in dem Schlosse und an das Elend und die Bedrückung in der Bauernhütte, die für mich das sind, was Aristoteles und die Scholastiker für ihn.«
»Und ich,« sagte Christoph, »denke an unsere Druckerpresse, wenn er spricht, bis mir meine tägliche Arbeit als das edelste Geschäft vorkommt, das ich nur verrichten könnte, und Drucker zu sein, und Worten wie den seinigen Flügel zu leihen um durch die ganze Welt zu fliegen, mir der höchste Beruf auf Erden erscheint.«
»Allein in seinen Vorlesungen kämpft Luther noch bester den guten Kampf als in seinen Disputationen,« bemerkte Gottfried. »In jenen befreit er die Welt von dem Feinde, in seiner Erklärung der Psalmen und des Römerbriefes führt er den Kampf auf das innere zurück und reinigt das Herz von den Lügen, die es von Gott fern hielten. In seinen Angriffen gegen Aristoteles leitet er uns zur Bibel, als der einzigen Quelle der Wahrheit; in seinen Reden über die Rechtfertigung durch den Glauben führt er uns zu Gott als der einzigen Quelle der Heiligkeit und Freude.«
»Man sagt, der arme Dr. Jodocus sei ganz krank aus Aerger über seine Niederlage,« erzählte Christoph, »und daß man in Erfurt über Dr. Luther sehr erbittert sei.«
»Was schadet das,« erwiderte Ulrich, »da jeden Monat neue Studenten aus allen Teilen Deutschlands nach Wittenberg strömen und das Augustinerkloster schon ganz voll von jungen Mönchen ist, die aus verschiedenen Klöstern dahin geschickt worden sind, um unter Dr. Luther zu studieren? Wir haben die Jugend und Kraft der Nation für uns. Laßt die Toten ihre Toten begraben!«
»Ach, Kinder!« murmelte unsere Großmutter von ihrem Strickzeug aufsehend, »das ist ein langwieriger Leichenzug. Die Jugend redet immer von den Alten, als ob sie schon alt zur Welt gekommen wären. Glaubt ihr, unsere Herzen haben nie höher geschlagen in freudiger Hoffnung, und wir haben nie mit Drachen gekämpft? Allein die alte Schlange ist noch nicht erlegt, und wird auch nicht erlegt sein, wenn wir tot sind, und ihr alt geworden, und eure Enkel den alten Streit aufnehmen, wähnend, den ersten Kampf zu kämpfen, den die Welt gesehen hat, und den letzten Feind zu besiegen.«
»Möglich,« versetzte Gottfried, »aber der letzte Feind wird endlich überwältigt werden, und wer weiß, wie bald?«
Wittenberg, im Oktober 1513.
Ein starkes Band zwischen Herrn Reichenbach und mir ist unsere Verehrung und Liebe für Dr. Luther.
Er hält Vorlesungen über die Epistel an die Römer und über die Psalmen, und während ich am Spinnrad sitze oder nähe, liest mir Gottfried oft Auszüge daraus vor, die er geschrieben, oder erzählt mir, was er von ihm gehört hat. Das ist mir ein rechter Trost; denn er hat so viele Zweifel, welche mich, wäre er nicht ein so warmer Freund Dr. Luthers, ernstlich um ihn besorgt machen könnten. Diese Zweifel sind mir so fremd und neu, und ich wage es gar nicht, sie der Mutter mitzuteilen.
Er glaubt, daß der Kirche große Reformen not thun. Ja er meint, Christoph habe gar nicht so Unrecht mit seiner Abneigung gegen viele Priester und Mönche, deren Leben der Christenheit zur Schande gereiche.
Aber was er am meisten verabscheut, ist der Ablaßhandel, welchen Dr. Tetzel jetzt in vielen sächsischen Städten predigt. Er sagt, es sei ein schmachvoller Handel mit Lügen und die meisten klugen und angesehenen Männer in den großen Städten denken dasselbe. Auch erzählte er mir, ein sehr frommer Mann, Dr. Johann Wesel, ein Professor der Theologie, habe vor fünfzig Jahren offen dagegen gepredigt, auf der Universität zu Erfurt, und nachher zu Worms und Mainz, und daß Johann von Goch und andere fromme Männer sich ebenfalls sehr entschieden dagegen ausgesprochen hätten.
Als ich ihn fragte, ob denn der Papst sie nicht bestätigte, sagte er, man müsse nach Rom gehen, um zu wissen, was der Papst sei. Er ist in seiner Jugend in Rom gewesen, nicht um eine Pilgerfahrt zu machen, sondern in Handelsgeschäften, und er erzählte mir, daß die Gottlosigkeit, welche er da gesehen, besonders von der Familie des damals regierenden Papstes Borgia, ihm für viele Jahre sogar den Namen der Religion verhaßt gemacht habe. Erst durch Dr. Luther, sagt er, sei er auf den Gedanken gekommen, daß es eine Art Religion geben könne, welche, anstatt der Deckmantel für die Sünde, ein Antrieb zur Heiligung des Herzens und Lebens sei. In Bezug auf »Reineke Fuchs«, sagt er, sei ich ganz im Irrtum gewesen, da dies kein gemeines Scherzbuch sei, welches wirklich heilige Dinge verspotte, sondern eine ernste bittere Satyre über die Heuchelei, welche unter dem Deckmantel der Religion alle möglichen Sünden begeht.
Ja, er bezweifelt sehr, daß die Calixtiner und Hussiten so schlimm seien, als man sie gewöhnlich geschildert hat. Ich werde oft ganz ängstlich, wenn ich solche Reden von ihm höre. Sein Gesichtskreis ist so viel weiter als der meinige, daß es mir oft schwer wird, seinen Gedanken zu folgen. Wenn die Welt wirklich so böse ist, wenn in den heiligsten Aemtern so viel Heuchelei getrieben wird, so habe ich vielleicht doch unsern Christoph manchmal zu hart beurteilt. Aber wenn Fritz es so gefunden hat, wie unglücklich muß es ihn machen! –
Sollten wirklich fromme Menschen, wie Fritz und Eva, der Welt keinen besseren Dienst zu leisten vermögen, als sie ganz und gar ihrem Verderbnis und Unglauben zu überlassen, während sie sich absondern, um in Klöstern sich Heiligen-Röcke zu weben? Ich meine, die Zeit wäre da, etwas anderes zu thun! Aber wer wird die Hand an's Werk legen?
Ich dachte, vielleicht könnte es der Papst sein; allein Gottfried schüttelt den Kopf und sagt: »Aus Rom kann nichts Gutes kommen.«
»Oder die Prälaten?« fragte ich ihn jüngst.
»Diesen liegt zu viel daran, einen eben so prachtvollen Hofstaat um sich zu versammeln, wie die Prinzen, als daß sie Lust haben sollten, Mißbräuche abzuschaffen, wodurch ihre Einnahmen vermindert würden.«
»Oder die Fürsten?«
»Diese setzen zu viel Wert in die Freundschaft der hohen Würdenträger der Kirche, um sich in geistliche Angelegenheiten zu mischen.«
»Vielleicht der Kaiser?«
»Der Kaiser hat genug zu thun, sein Ansehen gegen die Prinzen, Prälaten und den Papst zu behaupten.«
»Oder die Ritter?«
»Die Ritter sind mit aller Welt im Streit,« erwiderte er, »nichts zu sagen von ihren unaufhörlichen Fehden unter einander. Umgeben einerseits von den wilden, aufrührerischen Bauern, andererseits von dem hohen Adel, der ihnen ihre Rechte streitig macht, und von den reichen Bürgerfamilien, welche ihren barbarischen Glanz eben so verdunkeln, wie die prächtigen Paläste in den Städten ihre kahlen Raubschlösser, haben die Ritter und der niedere Adel nichts aufzubringen, als bittern Spott gegen die Mißbräuche der Geistlichkeit. Viele von ihnen haben überdies Verwandte, die sie mit irgend einer guten Pfründe zu versorgen hoffen.«
»Nun, dann die Bauern?« warf ich ein. »Hat nicht das Evangelium zuerst unter Bauern Wurzel gefaßt?«
»Erleuchtete Bauern und Fischer,« versetzte er gedankenvoll. »Bauern, welche drei Jahre lang mit ihrem Meister das Land durchzogen hatten. Aber wer soll jetzt unsere Bauern unterrichten? Sie können nicht einmal lesen.«
»Dann müssens die Bürger sein,« sagte ich.
»Jeder ist wohl für seinen Stand eingenommen,« antwortete er lächelnd; »allein ich denke, aus den Städten wird es hervorgehen, wenn eine bessere Zeit hereinbricht. Hier hat die Gelehrsamkeit neuen Fuß gefaßt; hier finden die Reichen Umgang und Bildung, die Armen Unterricht; hier wird durch Zusammenkünfte und Widerspruch der Verstand geschärft; hier ist Muße zum Nachdenken, und Freiheit sich auszusprechen. Ich glaube, wenn eine Reform der Mißbräuche beginnen sollte, so würden die Bürger die ersten sein, sie zu befördern.
»Aber wer soll damit anfangen?« fragte ich. »Hat es noch niemand versucht?«
Traurig versetzte Gottfried: »Wohl Viele haben es versucht und sind über dem Versuche umgekommen. Wenn sie einen Mißbrauch angriffen, so nahmen andere dafür noch mehr zu. Während sie eine Wunde zu heilen versuchten, stand ein anderer auf und behauptete, es sei unmöglich, die Krankheit von dem ganzen Körper zu trennen, und sie gefährdeten auf diese Weise das Leben unserer heiligen Mutter, der Kirche.«
»Wer wird es denn noch wagen anzufangen?« fragte ich. »Sollte es vielleicht Dr. Luther sein? Er ist kühn genug, um alles zu wagen; und da er Fritz und dir und mir so viel Gutes gethan hat, warum sollte er es nicht der ganzen Kirche thun?«
»Dr. Luther ist aufrichtig und kühn genug, alles zu thun, was sein Gewissen ihm befiehlt,« sagte Gottfried; »aber er beschäftigt sich damit, Seelen zu erretten und nicht kirchliche Mißbräuche abzuschaffen.«
»Aber wenn diese Mißbräuche der Kirche das Heil der Seelen gefährdeten,« wendete ich ein, »was würde Dr. Luther dann thun?«
»Das würde sich zeigen, Else,« sagte Gottfried. »Wenn die Wölfe ein Schaf aus Dr. Luthers Herde angriffen, dann, denke ich, würde er sich nicht um die Art der Waffen und um die Gefahren kümmern, wenn er es nur befreite.«