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Erfurt 1505.
Die Universität kommt mir nach der lieben alten Heimat in Eisenach wie eine kalte Welt vor. Wie ging es mir doch zu Herzen, zu sehen, wie meine Mutter und Else sich abarbeiten und wie mager und abgehärmt sie aussehen. Freilich hoffen sie noch immer auf die große Erfindung, und ich möchte ihnen die Hoffnung um Alles in der Welt nicht rauben. Allein ich muß suchen, ihnen sofort einige Hülfe zu schaffen. Ich kann zuweilen von meinen Mahlzeiten, welche bei dieser Stiftung sehr reichlich ausgeteilt werden, etwas Fleisch ersparen und es dann verkaufen. Auch kann ich hin und wieder ein wenig Geld verdienen, indem ich Uebersetzungen für reichere Studenten oder Predigten und Postillen für die Mönche abschreibe. Die Buchdruckerkunst hat zwar diesen Erwerbszweig viel unsicherer gemacht; allein gedruckte Bücher sind noch immer sehr teuer und auch sehr groß, so daß die Priester oft froh sind, kleine, deutlich geschriebene Kopieen von einzelnen Abschnitten der Postillen oder der Reden der Kirchenväter zu bekommen, die sie auf ihrer Runde durch die Dörfer mitnehmen können. Auch die Advokaten lassen Manches abschreiben, so daß ich nicht daran zweifle, etwas zu verdienen. Wenn meine Studien dadurch ein wenig verzögert werden, so thut das ja nichts. Es ziemt mir nicht, nach großen Dingen zu streben, es sei denn, daß sie sich mit kleinen, unermüdlichen Schritten erreichen lassen. Meine Aufgabe ist, für meine Familie zu sorgen. Ich muß mit allen Mitteln, die mir zu Gebot stehen, sie zu unterstützen suchen. Wenn mir dies gelingt, so wird vielleicht Christoph oder Pollux Muße finden, ein höheres Ziel zu erstreben; oder vielleicht gewinne ich selbst in reiferem Alter Zeit, das Studium der großen alten Klassiker fortzusetzen, die unsern Gedanken einen so weiten Horizont eröffnen und eine so herrliche Welt erschließen. Es muß freilich eine Lust sein, sich so, wie Martin Luther es jetzt zu thun vermag, ganz der Litteratur und Philosophie zu widmen. Er steht am Eingang einer glänzenden Laufbahn. Diesen Frühling hat er sein Examen als Magister artium bestanden und seitdem Vorlesungen über die Physik und Logik des Aristoteles gehalten. Er hat das Talent, was dunkel ist klar und Altes neu zu machen. Seine Vorlesungen sind gedrängt voll. Zu gleicher Zeit studiert er die Rechte, um sich für ein Staatsamt zu befähigen. Nach seines Vaters Briefen zu urteilen, scheinen seine Eltern alle ihre Hoffnungen auf ihn zu setzen und hier auf der Universität geht es ebenso. Man erwartet Großes von ihm; ich wüßte fast keine Laufbahn, die ihm nicht offen stünde. Da er ebensoviel Gefühl als Geist besitzt, so betrachten ihn die Professoren der Universität, sowohl als die Studenten, als ihr Eigentum und sind stolz auf seine Triumphe. Wie es in unserm kleinen Kreise zu Eisenach war, so ist es hier in dem großen der Universität, Er ist unser Meister Martin; und bei jeder Stufe, welche er ersteigt, fühlen wir uns ein wenig gehoben. Ob wohl sein Ruf sich wirklich so ausbreiten wird, wie wir es erwarten? Ob es einmal dasselbe sein wird in ganz Deutschland? ob einst das ganze Land mit Stolz sagen wird: unser Martin Luther?
Nicht als ob er gar keine Feinde hätte! Sein Charakter ist zu heftig, sein Herz zu warm, um phlegmatischen, negativen Naturen zu gefallen.
Im Juni 1505.
Vor ein paar Tagen kam Martin Luther in höchster Aufregung zu mir. Sein Freund Alexius ist ermordet worden, und er ist tief betrübt, nicht allein über den Verlust eines Menschen, den er innig liebte, sondern weil ihm der Tod dadurch so entsetzlich nahe trat und jene Fragen wieder in ihm erweckte, welche, ich weiß es, die innersten Tiefen seines Herzens, sowie des meinigen, bewegen, die Fragen über Gott, das Gericht und die dunkle, furchtbare Zukunft, jene Fragen, die wir nicht zu beantworten, aber ebensowenig zu vergessen vermögen.
Heute traf ich ihn wieder, ganz erfüllt von einem Buche, das er in der Universitätsbibliothek entdeckt hatte, wo er seine meisten Freistunden zubringt. Es war eine lateinische Bibel, ein Buch, das er nie zuvor gesehen. Er war höchlich verwundert, so Vieles darin zu finden, das weder in den Evangelien, die in der Kirche gelesen werden, noch in der Sammlung der Homilien steht. Er wurde zu seiner Vorlesung abgerufen, sonst hätte er Stunden lang das Buch nicht weggelegt. Eine Geschichte aus dem alten Testament scheint besonders tiefen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, die von dem Knaben Samuel und seiner Mutter Hanna. »Ich las sie schnell und mit inniger Freude durch,« sagte er; »und weil mir Alles neu war, so wünschte ich von Grund meines Herzens, daß mir Gott einst ein solches Buch zu eigen schenken möchte.«
Vermuthlich macht der Gedanke an seine eigene, fromme Mutter ihm diese Geschichte so besonders merkwürdig. Es ist in der That seiner Erzählung nach eine sehr schöne Geschichte und man möchte fast wünschen, zur Zeit der alten hebräischen Könige geboren zu sein. Gott hat, so scheint es, damals so gnädig das Flehen der armen, sorgenvollen Frau erhört. Und wenn wir doch nur Alle jene Stimme vom Himmel vernehmen könnten, wie gerne und freudig wollten wir mit jenem gesegneten Kinde antworten: »Rede, Herr, dein Knecht höret!« und dann ohne Furcht, uns zu irren, erfahren, was Gott wirklich von einem jeden unter uns verlangt. Ich vermute aber, daß die Mönche, wenn sie die Welt und ihre Heimat verlassen, um Diener der Kirche zu werden, ihres Berufes eben so gewiß sind, wie dieses heilige Kind im Altertum. Wie gut wäre es, wenn auch andere Leute einen Beruf für ihre verschiedenen Beschäftigungen im Leben hätten, so wie Samuel und (vermutlich) die Mönche, damit wir alle furchtlos und festen Schrittes ein jedes seinen Weg wandern könnten, sicher das Rechte zu thun, statt daß wir immer fürchten müssen, durch unsere Irrtümer und Sünden vielleicht Strafgerichte auf diejenigen herabzuziehen, für die wir mit Freuden sterben wollten. Es kann doch wohl nicht Gottes Wille sein, daß alle Menschen Mönche und Nonnen werden sollen. Wollte Gott, die Laien hätten auch ihren Beruf und würden nicht von der schrecklichen Unruhe und dem qualvollen Zweifel gepeinigt, daß sie vielleicht den rechten Weg verfehlt haben (wie ich in dem verschneiten Walde) und, flüchtig vor Gott wie Kain, seinen Fluch auf sich und die Ihrigen laden.
12. Juli 1505.
Eine tiefe Trauer hängt über unserer Stadt. Die Pest ist unter uns ausgebrochen. Viele, die noch vor einigen Tagen in frischer Jugendfülle dastanden, liegen jetzt im Grabe. Eine Menge Professoren und Studenten sind in ihre Heimat oder in die nächsten Dörfer des Thüringer Waldes entflohen. Die Kirchen sind bei jedem Gottesdienste gedrängt voll Menschen. Die Priester und Mönche, welche in der Stadt zurückgeblieben sind, benutzten die Angst, die alle Gemüter ergriffen hat, um die Menschen an den noch viel entsetzlichern Tag des jüngsten Gerichts zu mahnen, dem keiner zu entfliehen vermag. Oft werden Frauen und selbst Männer ohnmächtig aus der Kirche getragen, dann plötzlich von der Pest ergriffen und nicht wieder gesehen. Martin Luther scheint in großer Gemütsunruhe zu sein. Die Epidemie, welche so schnell auf den Tod seines Freundes folgte, beugt ihn schwer danieder, doch denkt er nicht daran, die Stadt zu verlassen. Vielleicht ist die auf seinem Herzen lastende Angst gerade diejenige, an welche die Priester uns jetzt mit solchem Ernste erinnern und welcher man nicht durch Veränderung des Ortes, sondern nur durch Aenderung des Lebens entgehen kann. Seitdem er vergangene Woche auf der Landstraße bei Erfurt von einem furchtbaren Gewitter überfallen wurde, ist er merkwürdig verändert. Sein Gesicht zeigt die Spuren tiefer Schwermut, und er vermeidet den Umgang seiner alten Freunde. Ich habe fast gar nicht mit ihm gesprochen.
14. Juli.
Zu meiner großen Verwunderung hat heute Martin Luther mich und mehrere andere seiner Freunde zu einem kleinen Feste auf übermorgen Abend eingeladen. Die Pest hat nachgelassen; doch wundere ich mich, wie es jemand einfallen kann, ein fröhliches Fest zu feiern. Allein man sagt, ein fröhliches Herz sei das beste Schutzmittel gegen die Plage.
17. Juli.
Die geheime Bedeutung von Martin Luthers Fest ist nun offenbar. Die ganze Universität ist in Bestürzung. Er hat sich entschlossen Mönch zu werden. Viele halten es für eine vorübergehende. Laune, ich nicht. Ich halte es für das Ergebnis jahrelanger Kämpfe, und glaube, daß er darin erst der Ueberzeugung nachgegeben, die sich ihm beständig, während seiner ganzen glänzenden Universitätslaufbahn, aufgedrängt hat.
Nie schien er munterer als gestern Abend. In lebhaften, heitern Gesprächen flohen uns die Stunden schnell dahin. Wir fühlten uns von einer schweren Last befreit. Die Pest ist im Abnehmen, Professoren und Studenten kehren zurück; das Leben scheint in sein gewohntes Geleise zurückgekehrt; so wagten wir es wieder, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen.
Mehrere von uns haben ihre Studien beendigt und stehen im Begriffe, in die große Welt –die Schule des Lebens –einzutreten. Einige haben schon Stellen in Aussicht und die meisten sprachen von großen Hoffnungen der Zukunft, die sie, je unbestimmter sie sind, desto glänzender sich ausmalten. Martin Luther äußerte keine Vermutungen über seine künftige Laufbahn; doch dies wunderte keinen von uns. Sein Glück, sagten wir, sei gemacht, und scherzend empfahlen wir uns seiner Fürsprache, wenn er einst ein großer Mann sein werde.
Auch an trefflicher Musik fehlte es nicht, wie dies in Martin Luthers Gesellschaft nicht anders sein kann. Mit einer vollen, klaren Stimme sang er manch wohlbekanntes Lied, welches sodann von uns allen im fröhlichen Chor wiederholt wurde. So verfloß der Abend, bis die Stunde herannahte, in welcher die Studenten sich zur Ruhe begeben müssen. Da plötzlich, als eben der letzte Ton des Chors verhallt war, sagte er uns Lebewohl, weil er Morgen als Novize in das Augustinerkloster eintreten werde. Einige von uns hielten es zuerst für einen Scherz; allein bald erkannten wir aus Blick und Mienen, daß es ihm völlig ernst war. Nun suchten alle ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Einige sprachen von den Erwartungen, die man auf der Universität von ihm hegte, andere von der glänzenden Laufbahn, die ihm in der Welt offen stehe; –allein er antwortete darauf nur mit einem wehmütigen Lächeln. Als aber einer von uns ihn an seinen Vater erinnerte, wie schmerzlich dessen Hoffnungen getäuscht würden, da bemerkte ich eine Veränderung in seinen Zügen und ein leises Zucken seines Mundes. Jedoch alle freundschaftlichen Vorstellungen, alle ruhigen Vernunftgründe, alles Bitten und Flehen blieb vergebens.
»Heute,« sagte er, »seht ihr mich noch –und dann nicht mehr.«
So trennten wir uns. Am folgenden Morgen, als einige seiner vertrautesten Freunde, mit der leisen Hoffnung, ihn zu überreden, den tausend Gründen Gehör zu geben, welche uns seitdem eingefallen waren, ganz früh zu ihm eilten, fanden wir seine Wohnung leer und von ihm war nichts mehr zu sehen. Auf alle unsere Fragen erhielten wir blos die kurze Antwort, daß Magister Martin diesen Morgen vor Tagesanbruch nach dem Augustinerkloster gegangen sei.
Dorthin folgten wir ihm und pochten stark an das schwere Klosterthor. Einige Minuten darauf wurde es halb geöffnet und ein schläfriger Pförtner erschien.
»Ist Martin Luther hier?« fragten wir.
»Er ist hier,« war die Antwort, die uns wie ein leiser Triumph klang.
»Wir wünschen ihn zu sprechen,« sagte einer von uns.
»Niemand darf mit ihm verkehren,« erwiderte der Pförtner mürrisch.
»Bis wann?« fragten wir.
Nun wurde drinnen geflüstert, dann erhielten wir die bestimmte Antwort: »Nicht vor einem Monat.«
Wir würden noch länger unterhandelt haben, wäre nicht die schwere, eisenbeschlagene Thüre uns vor der Nase zugeworfen worden; wir hörten die gewichtigen Riegel vorschieben, und all unser Poltern an der Klosterthüre mit unsern Fäusten und Eisenstöcken vermochte nicht einen Laut weiter aus dem Innern des Gebäudes hervorzulocken.
»Also wirklich tot für die Welt!« murmelte endlich einer aus der Schar; »das Grab könnte nicht stiller sein.« –
Wie vernichtet und heiser vom Schreien wanderten wir nach Luthers Stube zurück. Die alten, wohlbekannten Räume, wo wir erst vor kurzem solch fröhliche Stunden mit ihm verlebt, wo ich und einige andere so manchen Abend traulich mit ihm verplaudert hatten, sie waren verlassen; er wollte nie mehr dahin zurückkehren, und gerade das unveränderte Aussehen der stummen, leblosen Dinge machte durch den Kontrast die Leere und den Wechsel nur um so schmerzlicher.
Als wir uns jedoch genauer umsahen, fand sich allerdings manches verändert. Seine Flöte und Laute lagen freilich noch wie am vorigen Abend auf dem Tische. Allein die Bücher über Scholastik, Rechtswissenschaft und klassische Litteratur waren sorgfältig in einer Ecke aufgehäuft und an Buchhändler adressiert. Bei sorgfältiger Durchsicht der wohlbekannten Bände vermißte ich zwei, Virgil und Plautus; ich vermute, daß er sie mitgenommen hat.
Während wir ein sauber zusammengewickeltes Päckchen, das besonders lag, betrachteten, trat der alte Mann herein, der ihm aufgewartet hatte und sagte: »dies ist Magister Martins Magisterrock, sein Ring und sein Sonntagsanzug, das soll seinen Eltern nach Mansfeld geschickt werden.«
Ein Gefühl der Beklemmung ergriff mich bei dem Gedanken, daß sein Vater, welcher es sich so sauer hatte werden lassen, damit sein Sohn, auf den er seine ganze Hoffnung setzte, studieren könnte, diesen Pack empfangen sollte. Nicht als einen Toten durfte er ihn beweinen; schlimmer noch schien es mir. Freiwillig hat der Sohn sich selbst begraben, freiwillig mit eigener Hand zwischen sich und alle, die ihn so innig und warm lieben, eine Schranke gebaut. Mit den Toten, die in dem Herrn gestorben, können wir noch im Verkehr bleiben, –wenigstens spricht das Credo von einer Gemeinschaft der Heiligen; –wir können zu ihnen oder im schlimmsten Falle für sie beten. Aber zwischen dem Sohne im Kloster und dem Vater ins Mansfeld steht eine Mauer, die nicht blos aus Erde und Steinen besteht, sondern aus dem undurchdringlichen Eisen des Willens und Gewissens. Es würde jetzt für Martin Luther eine Versuchung sein, sein Herz vertraulich gegen Vater, Mutter oder Freund auszuschütten.
Und doch, wenn er Recht hätte, wenn das Fleisch nur auf diese Weise unterworfen, Gott nur so zufrieden gestellt, der Himmel nur also gewonnen werden könnte, so läge in der Thal wenig daran, welche Schmerzen es uns oder die Unsrigen in diesem flüchtigen Erdenleben kosten möchte, auf welches die schaurigen Pforten des Todes, die es beschließen, beständig ihre düstern Schatten werfen.
Kann nicht vielleicht Martin Luther seiner Familie in dem Kloster bessere Dienste leisten als am kaiserlichen Hofe? Ist nicht das Kloster der Hof eines noch viel herrlicheren Palastes, ja wir dürfen sagen das Audienzzimmer des Königs aller Könige! Ueberdies, wenn er wirklich den Beruf hätte, welchen Fluch könnte er durch Widerstreben nicht auf sich ziehen? Wohl allen, die ihren Beruf so klar erkennen, daß sie nicht wagen, ihm ungehorsam zu sein, oder deren Herz so rein ist, daß sie es nicht wollten, selbst wenn sie es wagen könnten!
19. Juli.
Seit zwei Tagen ist die Universität in furchtbarer Gährung über das Verschwinden Martin Luthers. Viele sind über ihn, aber noch viel mehr über die Mönche entrüstet, welche, wie man sagt, eine schwärmerische Aufwallung benutzt haben, um ihn in ihr Netz zu ziehen. Einige jedoch, besonders die von der Schule des Mutianus, die Humanisten, lachen und sagen, es gebe Wege durch das Kloster an den Hof und selbst auf den päpstlichen Stuhl. Doch diese verkennen Martin Luther! Wir, die wir ihn genau kennen, sind nur zu gewiß, daß er ein wahrer Mönch sein wird und daß für ihn kein Weg aus dem Kloster in die Welt führt.
Es geht jetzt aus allem hervor, daß er mehr als vierzehn Tage diesen Schritt überlegt hat.
Am ersten dieses Monats ging er auf der Straße zwischen Erfurt und Stotterheim spazieren, als ein heftiges Gewitter, das sich über dem Thüringer Walde zusammengezogen hatte und mit drückender Schwüle die pestbeladene Luft erfüllte, plötzlich über seinem Haupte losbrach. Er war ganz allein und nirgends ein Obdach zu entdecken. Ein Donnerschlag folgte auf den andern, dazwischen herrschte furchtbare Stille; wild zuckten die Blitze um ihn her, bis endlich ein entsetzlicher Blitzstrahl, der ihn beinahe getroffen hätte, vor seinen Füßen in den Boden schlug. Eine schreckliche Seelenangst bemächtigte sich seiner. Der Donner klang ihm wie die zornige Stimme eines unwiderstehlichen, beleidigten Gottes. Der nächste Strahl konnte seinen Leib zu Asche verbrennen, seine Seele den Flammen überliefern, an die er sich auf so schreckliche Weise erinnerte, und der nächste Donnerschlag konnte gleich der Posaune des Weltgerichts über seinem entseelten Leichname dahinrollen. Aber wie namenlos schrecklich wäre es erst gewesen, wenn er möglicherweise zu furchtbaren, ewigen Qualen erwacht wäre, um in seinem unseligen Geiste ringsum schauerliches Jammergeheul zu vernehmen und verzweiflungsvoll und doch vergebens um Gnade zum Himmel zu schreien! Er fiel auf seine Kniee, warf sich mit dem Angesicht zur Erde und rief in seinem Entsetzen und in seiner Todesangst: »Hilf mir, liebe, heilige Anna; ich will auch gewiß sogleich ein Mönch werden!«
Das Gewitter zog langsam vorüber; allein das unwiderrufliche Gelübde war ausgesprochen, und die immer schwächer in der Ferne verhallenden Donnerschläge fanden in seinem Herzen ein Echo, als wären sie das Grabgeläute all seiner weltlichen Freuden.
Unbeschädigt erreichte er Erfurt, allein seiner eigenen Festigkeit mißtrauend, teilte er nur solchen seinen Entschluß mit, von denen er wußte, daß sie ihn darin bestärken würden. Daher rührte ohne Zweifel sein seltsames, gedankenvolles Wesen und die Absichtlichkeit, womit er uns in den letzten Wochen vermied.
Dem Rektor der Universität, Andreas Staffelstein, teilte er zuerst seinen Entschluß mit; dieser lobte und ermunterte ihn dazu und führte ihn sogleich in das neue Franziskanerkloster. Die Mönche nahmen ihn mit Jubel auf und drangen in ihn, sogleich in ihren Orden zu treten. Er sagte ihnen, er müsse zuerst seine Eltern mit seiner Absicht bekannt machen, er sei diesen Beweis des Vertrauens seinem Vater schuldig, der es sich so sauer habe werden lassen, um ihn auf der Universität zu unterhalten. Allein der Rektor und die Mönche hielten ihm vor, daß er sich nicht mit Fleisch und Blut beraten, sondern Vater und Mutter verlassen und zum Kreuze Christi hinschleichen müsse. »Wer seine Hand an den Pflug legt und zurücksiehet, der taugt nicht in das Reich Gottes.« In der Welt zu bleiben, war Gefahr; zu ihr zurückzukehren, ewiges Verderben.
Einige fromme Frauen, denen der Rektor Martins Absicht mitteilte, befestigten ihn darin durch die Bewunderung, welche sie ihm zollten.
War denn gar keiner, der mit seinen Eltern Mitleid gefühlt und ihm von diesem Schritte abgeraten hätte? Ich zweifle jedoch, daß seine Mutter auch nur mit einem Worte Einsprache gethan hätte. Sie ist eine sehr fromme Frau; ihren Sohn, ihren Stolz, Gott darzubringen, hieße ihm ihr Teuerstes opfern, und das weibliche Geschlecht hat solche Kraft und geheime Freude in der Selbstverläugnung, daß sie ohne Zweifel das Opfer vollbracht hätte.
Allein bei Martins Vater wäre es sicher anders gewesen. Er hat keine gute Meinung von den Mönchen und eine hohe Idee von den väterlichen und kindlichen Pflichten. Er, der kluge, rastlos thätige, wohlhabende Bauer betrachtet die Mönche als eine Gesellschaft fauler Drohnen, die, in der Einbildung auf die Freuden der Welt zu verzichten, sehr oft nur ihre Pflichten aufgeben. Mit Freuden unterzog Luthers Vater sich jeder Entbehrung und Mühseligkeit, damit Martin, der Stolz der Familie, die Mittel hätte, alle seine Anlagen zu entwickeln. Und nun den Gegenstand seiner treuen Sorge, Belehrung und Arbeit in ein Kloster eingeschlossen zu sehen, das muß sehr bitter für ihn sein. Wie konnte nur der Rektor einem Sohne solch einen Rat geben! Freilich hat Gott den ersten Anspruch auf uns, und Martin einem Einflusse auszusetzen, der ihn bewegen konnte, seinen Beruf aufzugeben, wäre in der That gefährlich gewesen. Der Kampf in Martins Seele mag schon hart genug gewesen sein bei seinem liebevollen Gemüt, seinem tiefen Gefühl für Kindespflicht und seiner Ehrfurcht und Zärtlichkeit für seine Eltern. Indessen, da der Schritt einmal gethan ist, möge die heilige Maria ihm beistehen, daß er nicht mehr umkehre.
Im Dezember 1505.
Was habe ich diesen Morgen sehen müssen! Ein Augustinermönch in seiner grauen Kutte und Kapuze zog langsam durch die Straßen mit einem ziemlich schweren Sacke auf den Schultern. Der Boden war mit Schnee bedeckt und der Mönch ging barfuß. Doch dies war kein seltener Anblick und ich weiß nicht, warum ich ihm nachschaute, wie er von Thür zu Thüre ging, demütig jede Gabe, die ihm gereicht ward, in Empfang nahm und in den Sack steckte, bis er endlich vor dem Thore des Hauses, wo ich war, stille stand, und, als er an dem Fenster, an welchem ich stand, heraufsah, Martin Luther von mir erkannt ward! Ich eilte mit einem Brote in der Hand nach der Thüre und wollte ihn wie sonst umarmen, ehe ich es ihm reichte; allein er verbeugte sich fast bis zur Erde und ein » Gratias« murmelnd wollte er vorübergehen.
»Martin,« rief ich, »kennst du mich denn nicht mehr?«
»Ich bin im Dienste des Klosters,« versetzte er. »Es ist gegen die Regeln, zu sprechen oder zu verweilen.«
Es war mir schmerzlich, ihn so fortgehen zu lassen.
»Mögen Gott und die Heiligen dir beistehen, Bruder Martin!« sagte ich.
Hierauf wendete er sich ein wenig um, bekreuzte sich, machte abermals eine tiefe Verbeugung, und als eine Magd ihm einige Stücke übrigen Fleisches zuwarf, sprach er demütig: »Gott sei gelobt für jede Gabe, die er spendet!« und dann setzte er mit gebeugtem Rücken und niedergeschlagenen Augen seine mühselige Wanderung fort. Aber wie verändert er aussah! Keine jugendliche Röte der Gesundheit mehr auf seiner: magern, eingefallenen Wangen; alles Feuer heitern Witzes und der Phantasie erloschen in den roten, tiefliegenden Augen! Feuer war wohl noch darin, aber ein verzehrendes, keines, das erwärmt und erheitert.
Man ist gewiß im Kloster sehr hart gegen Martin Luther. Ihn, der vor kaum sechs Monaten der Stolz und die Zierde der Universität war, von Thüre zu Thüre betteln zu schicken, vor die Häuser seiner Freunde und Schüler, mit denen er nicht einmal ein Wort der Begrüßung wechseln darf! Suchen diese unbekannten und unwissenden Mönche nicht eine geheime Freude darin, den zu demütigen, welcher noch vor kurzem so hoch über ihnen stand? Hände, die solche Geißeln schwingen, sollten von den zartesten, edelsten Herzen geleitet sein. Nichtsdestoweniger bin ich überzeugt, daß Bruder Martin sich härtere Bußübungen auflegt, als alle, die andere ihm vorschreiben können. Es ist kein äußerlicher Kampf, was ihn in weniger als einem halben Jahre so abgezehrt und gebeugt hat. –
Ich fürchte, daß er sich für die paar Worte, die er mit mir gesprochen und wozu ich ihn veranlaßt habe, eine schwere Buße auflegt.
Doch es ist nun einmal sein Beruf; und wenn er dadurch den Himmel verdient und Verdienste erwirbt, die er andern mitteilen kann, dann ist der Preis wohl des Ringens wert.
Juli 1506.
Bruder Martins Noviziat ist zu Ende. Er hat den Namen Augustin angenommen; allein wir werden uns schwerlich gewöhnen können, ihn so zu nennen. Mehrere von uns waren zugegen, als er vor wenigen Tagen in der Augustinerkirche das Gelübde ablegte. Noch einmal hörten wir die liebe, klare Stimme, welche die meisten an jenem Abschiedsabend in lebhafter Unterredung und im Gesang vernommen hatten. Jetzt klang sie leise und schwach, gewiß vom Fasten. Nachdem er das Novizenkleid abgelegt und die Mönchskutte angezogen hatte, kniete er vor den Stufen des Altars nieder; der Prior legte beide Hände auf sein gesenktes Haupt, und Martin sprach auf lateinisch das Gelübde:
»Ich, Bruder Martin, verspreche gehorsam zu sein dem allmächtigen Gott, der unbefleckten Jungfrau Maria und Dir, mein Bruder, dem Abte dieses Klosters, an der Stelle des Oberpriors des Ordens der Einsiedler des heiligen Augustinus, dem Bischof und seinen rechtmäßigen Nachfolgern, und gelobe, in Armut und Keuschheit nach der Regel des besagten heiligen Augustinus zu leben bis an meinen Tod.«
Dann wurde ihm die brennende Kerze, das Symbol eines erleuchteten und allezeit wachsamen Herzens, in die Hand gegeben. Der Prior murmelte ein Gebet über ihn, und sogleich ließen die Mönche alle das Lied » Veni Sancte Spiritus« (Komm heiliger Geist) erschallen.
Er blieb auf den Knieen liegen, während sie sangen, hierauf führten ihn die Mönche die Stufen hinan in das Chor und gaben ihm den Bruderkuß. Da war er nun hinter dem Vorhang innerhalb des Chors, umgeben von der heiligen Brüderschaft, die vor dem Altar diente! Und wir, seine alten Freunde standen draußen im Schiff der Kirche, auf ewig von ihm getrennt durch das unwiderrufliche Gelübde!
Auf ewig! Ist es wirklich auf ewig? Wird sein Gelübde denn eine unübersteigliche Schranke zwischen uns sein (am jüngsten Gericht)? Werden wir draußen stehen? Dann vielleicht, aber jetzt noch nicht!
Im Januar 1507.
Soeben komme ich aus der lieben Heimat zurück, wo ich abermals die Weihnachtsferien zugebracht habe. Es sieht jetzt ein wenig heiterer dort aus. Im letzten Jahre, seitdem ich Magister geworden, habe ich von dem Gelde, das ich von meinen Schülern erhalte, sie besser unterstützen können. Welche Freude, meiner lieben, aufopfernden Else einen neuen Sonntagsanzug mitbringen zu können, obgleich sie behauptete, daß ihr alter roter Rock und ihre schwarze Jacke noch so gut wie neu seien. Die kleine Eva hat noch immer denselben tiefen, ruhigen, ernsten Blick, als ob sie in eine unsichtbare Welt sähe und darin erblickte, was ihr Herz mit Freuden erfüllt. Ich vermute, daß diese engelgleiche Tiefe ihrer Augen im Gegensatz zu dem harmlosen, rosigen Lächeln ihres kindlichen Mundes ihrem Gesichte diesen seltsamen Reiz verleiht und an die kleinen Engel auf den Bildern erinnert.
Sie kann jetzt geläufig lateinisch lesen und ist besonders von den frommen Liedern entzückt. Wenn sie mit ihrer sanften, andächtigen, kindlichen Stimme dieselben hersagt, so scheinen sie mir tiefer und erhabener, als wenn sie der vollständigste Chor singt. Ihr Lieblingslied ist das » Jesu dulcis memoria« des heiligen Bernhard und sein » Salve caput cruentatum,« aber auch einige Verse des » Dies iræ« wiederholt sie oft. Wie eine glückliche, im Dickicht eines stillen Waldes verborgene Turteltaube hörte ich sie oft bei ihrer Arbeit oder im Hause singen:
Jesu mi dulcissime, domine cœlorum,
Conditor omnipotens, Rex universorum,
Quis jam actus sufficit mirari gestorum;
Quæ te ferre compulit salus miserorum
Te de cœli curitas traxit animarum.
Pro quibus palatium deserens præclarum;
Miseram ingrediens vallem lacrymarum
Opus durum suscipis, et iter amarum
Zu deutsch:
Du mein süßester Jesu, erhabener König des Himmels!
Großer, allmächtiger Schöpfer! Beherrscher des Weltalls!
Wer kann genugsam bewundern die heiligen Thaten,
Welche das Heil der Elenden dich zu vollbringen getrieben!
Brünstige Liebe der Seelen, sie zog dich vom Himmel hernieder,
Sie zu erlösen, verließest du willig Paläste des Lichtes;
Stiegest herab zu der Armen trübseligem Thale der Thränen;
Wandelnd den dornigen Weg, vollbrachtest das schwierige Werk Du!
Die wohlklingenden Worte der alten majestätischen Sprache tönen so sanft und seltsam und doch wieder so traulich von der frischen kindlichen Stimme. Latein von ihren Lippen ist nicht mehr eine tote Sprache. Es ist, als hätte sie es von selbst in ihrer Kindheit durch die Gesänge der Engel gelernt, die ihren Schlaf behüteten, oder von einer heiligen Mutter, die sich vom Himmel herab über ihr Bettchen niederbeugte.
Nur eines beunruhigt die kleine Eva. (Sie weiß einen Spruch aus einem Buche, das ihr Vater ihr hinterließ, das sie aber nachher nie mehr sehen durfte.) Bis jetzt hat sie vergeblich gehofft, das Buch wieder zu finden, worin jener Spruch steht.
Es ist mir gar nicht unwahrscheinlich, daß es irgend ein ketzerisches Buch war, da ihr Vater als ein Hussite hingerichtet wurde. Wir wollen daher nur wünschen, daß sie es nie mehr findet. Sie hat mir dies nicht alles selbst gesagt, weil Else, der sie es anvertraute, ihr von weitern Nachforschungen abriet. Wir sind alle sehr glücklich, diese unschuldige Seele aus den Schlingen der gefährlichen Häretiker, gegen welche unser sächsisches Volk einen so edlen Kampf gekämpft hat, errettet zu haben. Jetzt gibt es nur noch wenige Hussiten in Böhmen. Seitdem die Calixtiner sich von ihnen getrennt, sind sie keine Partei mehr. Doch gibt es noch einige, die in Gebirgen und Wäldern kümmerlich ihr Leben fristen, und man sagt, daß auch in den Städten ihre Ansichten, trotz der strengen Maßregeln gegen sie; nicht ganz unterdrückt seien. Im Gegenteil sollen nicht Wenige im Geheimen noch immer ihrem alten Glauben anhängen, obgleich sie sich äußerlich den Gebräuchen der Kirche unterwerfen. So hartnäckig ist das Gift der Ketzerei und so groß die Gefahr, aus welcher wir die kleine Eva befreit haben.
Erfurt im Mai 1507.
Noch einmal ist heute das Schweigen und die Einsamkeit, welche Martin Luther seit seinem Eintritt ins Kloster verhüllten, gebrochen worden. Er hat heute die Priesterweihe empfangen und seine erste Messe gelesen. Ein großes Fest wurde im Augustinerkloster gefeiert, reichliche Opfer fielen in den Schatz des Klosters, und Martins Vater, Johann Luther, kam von Mansfeld, um der feierlichen Handlung beizuwohnen. Er ist zwar endlich mit seinem Sohne, den er lange Zeit nicht vor Augen sehen wollte, ausgesöhnt, aber noch nicht mit dessen Mönchsberufe, und das ist wahrlich kein Wunder. Nachdem er jahrelang gearbeitet hatte, seinem geliebtesten Sohn eine Stellung zu verschaffen, die seinen außerordentlichen Anlagen ein weites Feld der Thätigkeit eröffnete, mußte es sehr schmerzlich für ihn sein, diesen Sohn eigensinnig alle schon erlangten Vorteile, alle Hoffnungen für die Zukunft von sich werfen zu sehen, und das, wie es dem Vater scheinen mußte, um einer abergläubischen Furcht willen; alles ohne die Eltern, wie es die Kindespflicht verlangte, um Rat gefragt, ohne sie nur mit einem Worte auf den Schlag vorbereitet zu haben!
Allein da er sich nun entschlossen hatte, dem Sohne zu vergeben, so that er es auch väterlich und kam mit kostbaren Geschenken, um ihm Ehre zu erweisen. Mit einem Gefolge von zwanzig Rittern erschien er vor dem Klosterthore und brachte seinem Sohne zwanzig Gulden zum Geschenk.
Bruder Martin war so erfreut über diese Versöhnung, daß er bei dem Einweihungsfest versuchte, auch die Billigung seines Vaters zu erlangen; aber das war umsonst. Vergebens setzte er mit seiner ihm eigentümlichen Beredsamkeit und Wärme die Gründe auseinander, welche ihn bewogen hatten, das Gelübde auszusprechen; vergebens unterstützten ihn die Mönche und priesen seinen Entschluß, der alte Mann war nicht zu überzeugen.
»Lieber Vater,« sagte Martin, »was hast du denn gegen meinen Mönchsberuf einzuwenden? Warum warst du so unzufrieden darüber und bist vielleicht noch nicht damit ausgesöhnt? Ist es doch ein so friedliches, gottseliges Leben!«
Ich kann nicht gerade sagen, daß Bruder Martins abgehärmtes, gefurchtes Gesicht sehr zu Gunsten seines friedlichen Lebens gesprochen hätte. Herr Johann Luther aber antwortete freimütig, so daß alle an der Tafel es hören konnten:
»Hast du nie gehört, daß ein Kind seinen Eltern Gehorsam schuldig ist? Und ihr, gelehrte Herren, habt ihr nicht in der heiligen Schrift gelesen: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren? Gebe Gott, daß jene Zeichen, von welchen ihr sprecht, nicht Lügenwunder des Satans seien!«
Bruder Martin versuchte nun nicht länger seinen Entschluß zu verteidigen. Sein Gesicht trug den Ausdruck heftiger Schmerzen, als ob ein Pfeil sein Herz durchbohrt hätte, allein er schwieg stille.
Doch jetzt ist er ein Priester, begabt mit einer Macht, die selbst den heiligen Engeln nicht verliehen ist, –Brot in Gott zu verwandeln, für Lebendige und Tote ein Opfer darzubringen. Er ist in den innern Hof des Himmels aufgenommen. Er ist eingestiegen in die heilige Arche, die er auf dem Bilde in Magdeburg sah, worin Priester und Mönche sicher rudern inmitten einer versinkenden Welt. Und was noch mehr ist, er kann aus seinem sichern und heiligen Schiffe sich herniederbeugen und Menschen erretten, die ohne ihn ewig verloren wären, ja vielleicht kann er gerade dem Vater, dessen Worte ihn so tief verwundeten, zu unbeschreiblichem Segen werden.
Für ein solches Ziel kann er wohl den Pfeil aushalten, der ihm das Herz durchbohrt. Ist nicht auch ein Schwert durch deine Seele gedrungen, o du trostreiche Schmerzensmutter?
Ja, er ist seines Berufes gewiß. Er denkt nicht, wie es bei uns in der Welt so oft der Fall ist: Ist es Gott, der mich leitet, oder der Teufel? Während ich die Pflichten des gewöhnlichen Lebens zu erfüllen suche, widerstrebe ich nicht vielleicht dem höhern, himmlischen Rufe? Werde ich meinen Lieben zum Segen oder zum Fluche?
Bruder Martin hat gewiß keine so quälenden Zweifel. Wohl kann er dann leicht alle andern Sorgen und Schmerzen ertragen, welche auf den Wegen Gottes, und eben weil er sie erwählt hat, über ihn kommen. Wenigstens muß er nicht solche Erzählungen hören, wie ich sie jüngst aus dem Munde eines jungen Ritters, Namens Ulrich von Hutten, vernahm, der gegenwärtig hier studiert und Dinge von den Mönchen, Priestern und Bischöfen in Rom aussagt, die einen verleiten könnten, alles Unsichtbare für eine Täuschung, alle Religion für Heuchelei zu halten.