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Tunnenberg, im Mai 1521.
Ist dies noch die nämliche Welt? Hat es jemals einen solchen Frühling gegeben, wo das Leben überzuströmen und in Blätterknospen, Blüten, Liedern und Quellen hervorzusprudeln scheint?« –
Es kann nur darum so herrlich sein, weil Gott mich durch Bertrand von Crequis' Liebe so unbeschreiblich glücklich gemacht hat, und weil ein Leben so voll froher Hoffnung und Thätigkeit sich vor uns öffnet: oder weil dies der erste Frühling ist, den ich auf dem Lande zubringe. Mir ist nicht anders, als ob Gott wirklich eine Flut neuen Lebens durch die Welt ergösse.
Fritz ist aus dem Gefängnis zu Mainz entkommen und schreibt, er fühle, daß in der That für alle Menschen die Osterzeit gekommen sei. Ueberall, sagte er, öffnen sich die Herzen der frohen Botschaft von der erlösenden Liebe Gottes.
Sollte denn wirklich jeder Mai auf dem Lande ein solches Fest sein, und dieser alte, ehrwürdige Wald jedes Jahr solch Zauberhaften Feiertag halten und seine kahlen Zweige mit Kränzen behängen, jeden braunen Winkel, wohin nur ein Sonnenstrahl dringen kann, so reich mit Blumen decken, wie wir den Pfad einer Braut zu bestreuen pflegen? Wem hätte es auch einfallen sollen, daß diese ernsten, alten Fichten und stattlichen Birken, die Wiegen all dieser zarten, sammetweißen Blüten und zierlich gefalteten Blättchen werden sollten, die überall aus ihren klebrigen Scheiden hervorbrechen. Und o der Freude aller Freuden! Nicht unbewußtes Pflanzenleben allein ist es, was sich um uns her verbreitet. Gott ist es, der jeden Zweig, jede Wurzel berührt und mit neuem Schmuck bekleidet. Es ist nicht blos Sonnenschein und laue Lüftchen, sondern unser Vater im Himmel, all seinen Werken zulächelnd und die ganze Welt schön und herrlich schmückend für Seine Kinder; es ist die Leben und Gesundheit bringende Berührung, es ist die holdselige Stimme, die wir kennen gelernt haben. »Wir sind in der Welt, und die Welt ist durch Dich gemacht; und Te Deum laudamus, wir huldigen Dir, Herr, unser Erlöser!«
Unsere Chrimhilde hat in der That eine reizende Heimat. Auch Bertrand besitzt in Flandern ein Schloß auf dem Lande. Allein er sagt, seine Gegend sei ganz verschieden von unserm lieben Thüringerwalde. Fleißige Hände haben es schon längst gelichtet und urbar gemacht. Stattliche Alleen führen zu dem Schlosse seines Vaters; aber rings umher ist es eben, und grüne Wiesen wechseln mit goldenen, wogenden Kornfeldern ab. Das muß auch recht schön sein. Aber vielleicht werden wir doch nicht dort wohnen. Einige Glieder seiner Familie sind sehr aufgebracht über seine sogenannte lutherische Ketzerei, und obgleich er der älteste Sohn ist, so ist es doch leicht möglich, daß der Zweig der Familie, der noch dem alten Glauben anhängt, ihm sein Erbe entreißen wird. Allein das bekümmert uns wenig. Gott wird, wenn wir Ihn darum bitten, gewiß das rechte Plätzchen für uns finden und uns dahin zu leiten wissen. Und sollte es in einer Stadt sein, nun so ist der Strom des Lebens in Menschenherzen noch wichtiger und edler, als in Blumen und Bäumen. In wenig Monaten wird es sich entscheiden. Vielleicht kommt er auch hieher zurück und wird Professor in Wittenberg, wohin Luthers Name ihn vor einem Jahre gezogen hat, um seine Vorlesungen zu hören.
Im Juni 1521.
Das Gerücht hat sich verbreitet, Dr. Luther sei auf seiner Rückreise von Worms plötzlich verschwunden.
Dieser Frühling wird in der Welt, sowie in der Natur seine Stürme haben. Vergangene Nacht rollte der Donner von Berg zu Berg, und der Wind heulte schrecklich durch die Fichtenwälder. Es war schauerlich, von meinem kleinen Fenster im Turmstübchen gerade über dem Abhange des Felsens den schäumenden Waldbach unten von den zuckenden Blitzen erglänzen zu sehen, welche oft plötzlich das Dunkel des Waldes erhellten, um einen Moment darauf die Finsternis nur desto undurchdringlicher erscheinen zu lassen.
Ich dachte an die Nacht, welche Fritz einsam im Walde zubringen mußte, als er sich auf dem Wege nach Erfurt verirrt hatte, und dankte Gott, daß ich gelernt habe, in dem Donner Seine Stimme, und diese als eine Stimme, welche Vergebung und Frieden verkündigt, zu erkennen. Nur möchte ich in solchen Augenblicken die, die mir teuer sind, um mich versammeln, und die Teuersten sind, ach! so weit umher zerstreut!
Der alte Ritter Ulrich ist ein wenig ungestüm und heftig, und seine Schwester, Dame Hermentrud, ernst und steif. Glücklicherweise betrachten beide unsere Chrimhilde als ein Wunder von Güte und Schönheit; aber ich muß mich doch ein wenig in Acht nehmen. Dame Hermentrud ist leicht geneigt, meine zu große Lebhaftigkeit beim Wortstreit dem bürgerlichen Blute der Cotta zuzuschreiben; und obgleich beide Ulrichs und Chrimhildens Auslegung der Lehren Luthers mit Teilnahme zuhören, so warnt mich doch Dame Hermentrud häufig vor unweiblicher Uebertreibung und Eifer in solchen Dingen, und erinnert mich daran, daß die Ahnen von Gersdorf fromm und edel gewesen, noch ehe dem Bergmann Hans Luther ein Sohn geboren war.
Der Zustand der Bauern betrübt Chrimhilden und mich auf's tiefste. Sie und Ulrich hatten so schöne Pläne gemacht, sich ihrer anzunehmen, als sie hieher zogen; aber nun ist sie fast ausschließlich mit der Erziehung, eines kleinen ritterlichen Wesens beschäftigt, das vor zwei Monaten zur Welt kam, und in seiner kleinen Person alle angestammten Tugenden der Gersdorf, von den Schönberg gar nicht zu reden, vereinigen soll. Es hat, wie Dame Hermentrud versichert, in seinen Zügen nicht die geringste Aehnlichkeit mit den Cotta's: und ich kann in der That nicht leugnen, daß es unverkennbare Spuren jenes aristokratischen Charakters, jene vornehme Neigung zum Herrschen zeigt, wodurch sich zuweilen unsere Großmutter und ohne Zweifel alle Gersdorf von Adams Zeiten her, oder wenigstens seit dem Turmbau zu Babel, ausgezeichnet haben, lieber diesen hinaus, glaube ich, können wenig Stammbäume verfolgt werden, außer in allgemeiner Weise bis auf die Söhne Noahs. Allein es ist immer eine große Ehre für mich, mit einem so vornehmen Wesen, wenn auch in entferntem Grade, verwandt zu sein. Mit der Zeit darf ich auch hoffen, einen schwachen Widerschein von Adel in meine Bürgernatur aufzunehmen; inzwischen bemerkten Chrimhilde und ich insgeheim in den Zügen des süßen Kindes merkwürdige Aehnlichkeit mit unserer Großmutter, und selbst mit unserm geliebten, blinden Vater. Gewiß ist es ein großes Glück, daß unser Vater unsere Namen aus Gedichten, von Sternen und dem Kalender der adeligen Heiligen hernahm, anstatt aus dem gemeinen Stammbaum der Cotta.
Ulrich hat seine Pläne zum Wohle der Bauern auf den Gütern seines Oheims durchaus nicht aufgegeben; allein er findet mehr Widerstand, als er erwartet hatte. Der alte Ritter, obwohl sehr bereit auf Anklagen gegen die ihren Lüsten stöhnenden Priester oder die faulen Mönche zu hören (besonders des Klosters, dessen Jagdrevier an das seinige grenzt), ist allen Neuerungen äußerst abgeneigt. Er sagt, das gemeine Volk sei so schon schwer genug in Ordnung zu halten; und wenn man sie vollends lehre, selbst zu denken, so werde kein Wild noch sonst etwas mehr sicher sein. Sie werden die Bibel auf alle mögliche Weise verdrehen, um sie gegen ihre rechtmäßigen Herren anzuführen, ja sogar anfangen, an der Rechtmäßigkeit der Erbfehden zu zweifeln und sich weigern, der Fahne ihres Lehensherrn in den Krieg zu folgen.
Was die Religion betrifft, so ist er fest überzeugt, daß das Ave und das Paternoster alles ist, was von dem gemeinen Volke erwartet werden kann, während Dame Hermentrud es durchaus nicht billigen kann, daß man neuerdings in der gewöhnlichen Volkssprache Bücher schreibt und Gottesdienst hält. Sie fürchtet, der Pöbel werde sich bald für ebenso weise wie die Priester, und für weiser als die Edelleute halten.
Wer aber Ulrichs Erwartungen am meisten getäuscht hat, das sind die Bauern selbst. Es scheint, daß ihnen eben so wenig um Verbesserung zu thun ist, wie ihren Herren, und es ist wirklich in hohem Grade ärgerlich, mit welchem Mißtrauen sie jeden Vorschlag zu ihrem Wohle aufnehmen, sobald er von dem Schlosse ausgeht. Daß ihre Kinder im Lesen unterrichtet werden sollen, betrachten sie als einen Eingriff in ihre Rechte. Sie murmeln: wenn sie ihrem Edelmanne auf die Jagd oder in den Streit folgen, seine Felder pflügen und Sonntags in die Messe gehen, so gehöre die übrige Zeit ihnen selbst, und es sei ungerecht von Ritter oder Priester, mehr zu verlangen.
Ich fürchte, es wird lange dauern, ehe die harte, verdorrte Schale ihres mühseligen Lebens zerbrochen werden kann; und doch ist das Wort Gottes für sie so gut da wie für uns. Und dann scheint mir auch darin eine große Schwierigkeit zu bestehen, daß es so wenig deutsche Andachtsbücher gibt, selbst wenn sie lesen lernten. Welche Bücher könnten sie auch verstehen, außer einigen Traktaten von Luther? Wenn nur jemand die Geschichte, die Thaten und Worte unseres Herrn und Seiner Apostel übersetzen wollte, dann wäre es wohl der Mühe wert, jedermann lesen zu lehren.
Wenn wir ihnen nur Vertrauen zu uns einflößen könnten! Es muß hinter dieser Zurückhaltung Nachdenken und ganz gewiß Zuneigung verborgen sein. Diese Erinnerungen an erlittenes Unrecht und Tyrannei, und dieses gegenseitige Mißtrauen sind ein trauriges Erbe, welches die Ahnen der Gersdorf der jetzigen Generation hinterlassen haben. Doch sagt Ulrich, es sei nur zu gewöhnlich durch das ganze Land. Viele der alten Vorrechte des Adels waren gar zu drückend in harten oder leichtsinnigen Händen!
Für jetzt scheint das günstige Feld der Thätigkeit unter der Dienerschaft zu sein. Bei dieser findet man oft eine herzliche Anhänglichkeit, und das Andenken an Ulrichs fromme Mutter muß wohl den Glauben an Herzensgüte zurückgelassen haben, welcher das Erbteil eines frommen Lebens ist.
Selbst die Bauern im Dorfe sprechen mit Liebe von ihr; von den Arzneien, die sie aus Kräutern zu bereiten und mit eigener Hand den Kranken zu bringen pflegte. Auch von einer lieblichen Jungfrau aus dem Schlosse, Namens Beatrix, erzählt man uns, welche die Hütten der Armen besuchte und überall Sonnenschein und Freude verbreitete, wohin sie kam. Allein sie verschwand, wie man sagt, vor vielen Jahren, und die alte Amme erzählt uns kopfschüttelnd, wie man ihr das Herz gebrochen habe, indem man sie einer Familienfehde wegen von ihrem Verlobten getrennt, worauf sie im Kloster zu Nimptschen den Schleier genommen habe und seitdem für die Welt gestorben sei.
Nimptschen! Das ist ja auch der Ort, in welchem unsre teure Eva lebendig begraben ist. Und doch, der Ort, wo sie weilt, kann sicher keine Stätte des Todes sein, denn sie bringt überall Leben und Segen mit sich. Ich will ihr schreiben und ihr besonders die arme geopferte Beatrix empfehlen.
Jedenfalls scheinen die Bauern gegen den weiblichen Teil der Gersdorfischen Familie weit weniger mißtrauisch als gegen den männlichen. Sogar mir hören sie oft ganz aufmerksam zu, und wenn Chrimhilde sie erst öfter besuchen kann, werden hoffentlich bessere Zeiten kommen.
Im August.
Diesen Morgen hatten wir ein seltsames Abenteuer. Schon vor mehreren Tagen hatten wir einen geheimnisvollen Wink erhalten, daß Dr. Luther lebe und bei Freunden, nicht ferne von uns, wohl aufgehoben sei. Heute, als ich mit Ulrich durch den Wald ritt, um ein der Familie Gersdorf gehöriges, etwas entfernteres Gut, das in der Richtung von Eisenach liegt, zu besuchen, hörten wir das Jagdhorn durchs Thal erschallen und das Gekläff der das Wild verfolgenden Meute. Bald sahen wir durch eine Lichtung des Waldes die Jagd durch das Thal und den gegenüberliegenden Hügel hinauf uns entgegenstürmen. Entfernt von der übrigen Jagdgesellschaft und uns etwas näher, an einer engern Stelle des Thälchens bemerkten wir eine Gestalt mit dem Federhut eines Ritters, der augenscheinlich so wie wir der Jagd zusah. Während wir ihn ansahen, floh ein armes, aufgescheuchtes Häschen zu ihm und verkroch sich zwischen seine Beine. Er bückte sich, hob es sachte auf und barg es in dem weiten Aermel seines Wamses und trat rasch zur Seite. Im nächsten Augenblick jedoch kam die Jagd herbei, die Hunde rochen das Häschen, packten es in seinem Zufluchtsorte, rissen es heraus und töteten es.
Dieser ungewöhnliche Vorfall, ein menschliches Wesen, das sich auf die Seite der Verfolgten, statt auf die der Verfolger stellt, erregte unsere lebhafte Teilnahme. Auch kam uns die kräftige Gestalt, der feste Gang so bekannt vor. Unser Weg führte durch das Thal, und Ulrich ritt ein wenig zur Seite, um den fremden Ritter zu grüßen. Einen Augenblick darauf näherte er sich mir und flüsterte leise:
»Es ist Martin Luther.« Wir konnten der Sehnsucht, die lieben, treuen Züge wieder zu sehen, nicht widerstehen, sondern ritten näher heran und begrüßten ihn.
Er lächelte uns wie ein alter Bekannter zu und sagte, die Hand auf Ulrichs Sattel legend, mit sanfter Stimme: »Die Jagd ist ein geheimnisvolles Bild höherer Dinge. Seht, so wie die grausamen Hunde mein armes Häschen aus seinem Verstecke gerissen haben, wütet der Satan gegen die Seelen und sucht selbst die schon geretteten aus ihrer Zufluchtsstätte zu ziehen. Allein der Arm. welcher sie umfängt, ist stärker als der meinige. Ich bin dieser Art Jagd überdrüssig,« setzte er hinzu; »mich verlangt weit mehr, die Bären, Wölfe, Eber und Füchse zu jagen, welche die Kirche verwüsten, als diese harmlosen Geschöpfe. Und solcher reißenden Tiere gibt es leider genug in der Welt!«
Mein Herz war so voll von den armen Bauern, die ich in der letzten Zeit in ihren Hütten aufgesucht hatte. Auch habe ich mich nie vor Dr. Luther gefürchtet, und diese Gelegenheit war zu kostbar, um sie nicht zu benützen. Es schien mir immer so natürlich ihm mein Herz zu öffnen. Er versteht so schnell und vollständig. Als er sich daher von uns verabschiedete, sagte ich (ich fürchte, auf meine gewöhnliche, vorschnelle, ungeschickte Weise):
»Lieber Dr. Luther! Die Bauern hier sind so unwissend, und ich habe fast nichts ihnen vorzulesen, das sie verstehen können. Bitte, laßt doch die Evangelien für sie in's Deutsche übersetzen, in solches Deutsch, wie Euere Predigt über das » Magnificat« oder über das »Vaterunser«; denn das verstehen sie alle.«
Er lächelte bei diesen Worten und sagte freundlich:
»Das wird nächstens geschehen, liebes Kind. Auf meinem Patmosturme bin ich damit beschäftigt, noch einmal dem Volke die Offenbarung Gottes zu enthüllen, und sicherlich wird es dieselbe mit Freuden hören. Dieses Buch allein ist die Sonne, von der alle wahren Lehren ihr Licht borgen. Wollte Gott, daß jeder Mensch es in seiner Sprache in der Hand hätte, daß jedes Auge es läse, jedes Ohr darauf lauschte, jedes Herz es aufnähme und bewahrte! Ich hoffe, daß es noch einmal so weit kommen wird.«
Er war eben im Weggehen begriffen, da, als wir ihm ehrfurchtsvoll nachschauten, wandle er sich wieder zu uns zurück und sagte: »Gedenket daran, daß die Wüste der Ort war, wo die Versuchung sich zutrug, und betet für mich, daß ich in der Einsamkeit meiner Wüste vom Versucher befreit werde.« Damit winkte er uns mit der Hand noch ein Lebewohl zu und war uns bald aus dem Gesichte.
Wir hielten es für unbescheiden, ihm zu folgen oder zu fragen, wo er sich verborgen halte. Allein als die Jagd an uns vorbei kam, erkannte Ulrich in einem Jäger einen Ritter aus dem Gefolge des Kurfürsten auf der Wartburg. Und seitdem, wenn ich Morgens und Abends in meinem Gebet wie gewöhnlich Luthers Name mit dem meiner Eltern und Geschwister nenne, dann denke ich an die langen Tage und Nächte, die er einsam in jenem düstern Schlosse zubringt, das auf mein liebes Eisenacher Thal herabschaut, und sage: »O Herr, laß die Wildnis eine Schule werden für sein Predigeramt durch unser ganzes Vaterland.«
Denn ward nicht auch unser Heiland zuerst in die Wüste geführt, daß er in der Einsamkeit den Versucher überwände, ehe er hervortrat, um zu lehren, zu heilen und Teufel auszutreiben? –
Im Oktober.
Ulrich hat Dr. Luther wieder gesehen. Er ging durch den Wald nahe bei der Wartburg und sah traurig und angegriffen aus. Das Herz war ihm schwer wegen den Unordnungen in der Kirche, der Falschheit und Erbitterung der Feinde des Evangeliums, und wegen des Ungestüms oder der Lauheit zu vieler seiner Freunde. Er sagte, es wäre fast besser gewesen, wenn man ihn von der Hand seiner Feinde hätte sterben lassen. Sein Blut würde um Befreiung zu Gott geschrieen haben. Er sei bereit, sich ihnen selbst auszuliefern, wie ein Ochse seinen Nacken unter das Joch beugt. Er wolle lieber auf glühenden Kohlen langsam verbrannt werden, als die kostbaren Jahre so halb tot in träger Ruhe verschlafen. Als jedoch Ulrich sich ferner von seinem täglichen Leben erzählen ließ, zeigte sich's, daß, was er träge Ruhe nannte, den meisten Menschen angestrengte Arbeit heißen würde. Er sah das Zimmer, in welchem Dr. Luther Tag und Nacht lebt und arbeitet, Trostbriefe an seine Freunde und, wie man sagt, meisterhafte Erwiderungen an die Feinde der Wahrheit schreibt und (das beste von allem) die Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen in's Deutsche übersetzt. –
Das Zimmer hat ein großes Fenster, von dem man eine weite Aussicht über den Wald hat. Er zeigte Ulrich das Krähengeniste auf den Gipfeln der Bäume und sagte, daß er von den Krähen, die hier Beratungen pflegen und ihren Reichstag halten, Politik lerne. Auch redete er von den verschiedenen Geschöpfen in Feld und Wald, die seine Einsamkeit erheitern, von den Vögeln, die auf den Zweigen singen, den Beeren und Blumen des Waldes, von Wolken und Sternen. Aber er deutete auch auf furchtbare Kämpfe hin, auf leibhaftige Erscheinungen des bösen Feindes, und seine Gesundheit schien sehr angegriffen.
Wir fürchten, daß dieses edle, liebevolle Herz sich in der einsamen Festung aufreibt. Er scheint ungeduldig und aufgeregt wie ein Jagdroß, wenn das Hüfthorn erschallt, oder vielmehr wie ein gefangener Feldherr, welcher seine Truppen mit Gewalt und List überfallen, geschlagen und zerstreut sieht und doch seine Fesseln nicht zerbrechen, sie nicht wieder sammeln und gegen den Feind führen kann. –
Doch äußerte er sich höchst dankbar für die Gastfreundlichkeit, womit er im Schlosse aufgenommen worden; sagte: er lebe wie ein Prinz oder Kardinal, und verwies ernstlich den Gedanken, daß die gute Sache ohne ihn nicht gedeihen könne.
»Ich kann im Tode nicht bei einem jeden sein, noch sie bei mir,« sagte er. »Jeder muß allein diesen letzten Kampf kämpfen, dieses Leiden durchmachen. Und nur diejenigen werden überwinden, welche schon vorher zu siegen gelernt und tief in ihr Herz das Wort gepflanzt haben, welches eine Macht ist gegen Sünde und Teufel, daß Christus für einen jeden von uns gestorben ist und auf ewig den Satan überwunden hat.«
Er versichert ferner, daß, wenn nur Melanchthon am Leben bleibe, es für die Kirche von geringer Wichtigkeit sei, was aus ihm werde. Der Geist des Elias habe mit doppelter Kraft auf Elisa geruht.
Dann gab' er Ulrich auch einige köstliche Bruchstücke von seiner Uebersetzung der Evangelien, damit ich sie den Bauern vorlesen könne.
Im November.
Ich bin während des letzten Monats mit meinen köstlichen Abschnitten aus der zu erwartenden deutschen Bibel in manche Hütte gegangen und habe die einfachen Erzählungen von Lahmen, Blinden und Aussätzigen, die zu dem Herrn Jesu kamen und geheilt wurden, und von Sündern, die er begnadigte, den armen Bauersleuten vorgelesen.
Es ist merkwürdig, mit welchem Interesse diese einfältigen Menschen darauf lauschen; das heißt die, welche überhaupt für etwas Höheres Sinn haben.
»Ist der Herr Jesus wirklich so herablassend?« fragen sie dann wohl. »O, da dürfen wir ja gewiß mit unserer gewöhnlichen Sprache mit Ihm reden und Ihn um das bitten, was uns not ist, wie jene armen Männer und Weiber aus der alten Zeit. Ist es wirklich wahr, daß Bauern, Weiber und Kranke geraden Weges zum Herrn Jesu kommen konnten? Hielt nicht eine Schar von Priestern und Heiligen das gemeine Volk von ihm ab? War er, der große Herr, denn in der That allen zugänglich?«
Ich sagte ihnen, daß bei den Fürsten der Erde die Notwendigkeit, nicht ihre Ehre verlange, Gesandte zu gebrauchen, anstatt jeden selbst anzuhören. Daß sie von ferne und mit dem Glanz des Thrones umgeben, am größten erscheinen, weil sie an sich schwach und sündig sind wie andere Menschen. Daß unser Heiland aber solches Glanzes, solcher Entfernung nicht bedürfe, da er sündlos und göttlich seine Herrlichkeit in sich selbst, nicht in den Dingen habe, die ihn umgeben.
Außerdem hatte ich noch eine Erzählung von der Kreuzigung zu lesen, wobei ich manche Thränen über rauhe Wangen rollen, manches trübe Auge betagter Leute von dankbarer Rührung erglänzen sah.
»Wir meinen es auf einmal zu verstehen,« sagte eine alte Frau zu mir; »und doch finden wir jedesmal etwas neues darin.«
Im Dezember.
Diesen Morgen habe ich einen Brief von Bertrand erhalten, den ersten seit langer Zeit. Er ist voll froher Hoffnung, nicht eben sein Erbe wieder zu erlangen, als in wenig Wochen uns in Wittenberg zu sehen.
Mein Gesicht mußte wohl von Freude gestrahlt haben, als ich diese Nachricht empfing und damit auf mein Zimmer eilte; denn Dame Hermentrud sprach heute Abend sehr viel davon, daß man alles mit Mäßigung aufnehmen müsse; wie der Anstand verlange, daß eine Jungfrau stets eine ruhige, gesetzte Haltung bewahre, und von der Unsicherheit aller Dinge hienieden. Der himmlische Vater weiß, daß ich die Unbeständigkeit alles Irdischen nicht vergesse; obgleich ich bei diesem Gedanken oft nicht zu verweilen wage.
Aber Er selbst hat mir dieses Glück geschenkt, und ich will mit überfließendem Herzen Ihm dafür danken.
Ich kann Dame Hermentruds Religion nicht begreifen. Sie hält es, scheint mir, für weise, ja für eine Pflicht, alle Gaben Gottes kaltblütig anzunehmen, als ob wir uns nicht viel daraus machten, weil Er sonst denken könnte, Er habe uns etwas zu Gutes gegeben und müsse es uns wieder entreißen.
Nein, wenn Gott uns etwas hinwegnimmt, so nimmt Er's, wie Er es schenkte, aus unendlicher Liebe; und ich möchte mir die dunkeln Tage, wenn sie kommen sollen, nicht noch dunkler machen durch die bittere Reue, den Sonnenschein, so lange Er ihn gab, nicht genossen zu haben. Freilich kann ich mich oft der Furcht nicht erwehren, wenn ich an die Märtyrer aus alter Zeit denke, und an den Haß der Feinde gegen die frohe Botschaft in unsern Tagen. Aber ich bestrebe mich dann, hinauf zu schauen und zu sagen: »Sicherer, o Vater, ist er in Deinen Händen als in den meinen.« Und aller Trost des Gebets hängt davon ab, was ich bei dem Namen »Vater« fühle und denke.