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Nimptschen 1517.
Diese letzten drei Jahre haben große Veränderungen in Tante Cottas Familie hervorgebracht. Else ist seit mehr als zwei Jahren verheiratet, und erzählt mir in ihren Briefen Wunderdinge von der Schönheit und dem Verstand ihrer kleinen Margarethe, welche anfängt, die Namen Vater, Mutter und Tante zu stammeln. Else hat das kleine Geschöpfchen gelehrt, einem Bilde, das sie von mir haben, Kußhändchen zuzuwerfen und es Base Eva zu nennen. Sie wollen meinen Klosternamen nicht anerkennen.
Auch Chrimhilde ist verlobt mit dem jungen Ritter Ulrich von Gersdorf, der ein Schloß im Thüringerwalde besitzt. Sie schreibt mir, daß sie oft von Schwester Ave sprechen, und daß er noch immer die getrockneten Veilchen neben einer Locke von den Haaren seiner Mutter und einer Reliquie seiner Schutzpatronin verwahre. Chrimhilde sagt, ich würde ihn kaum mehr erkennen, so gesetzt und fromm und voll guter Pläne sei er geworden.
Und die kleine Thekla schreibt mir, daß Elsens Gatte sie auch ein wenig Latein gelehrt habe, und daß Else und Gottfried nichts lieber hätten, als sie die Lieder singen zu hören, welche Base Eva zu singen pflegte.
Sie scheinen meiner als einer Engelsschwester zu gedenken, die Gott früh hinwegnahm und die nie altern wird. Es ist ein süßes Gefühl, so in ihrer Erinnerung zu leben; aber zuweilen bäucht es mir, daß eigentlich nicht ich es bin, derer sie gedenken oder die sie lieben, sondern was ich war, oder hätte werden können.
Würden sie wohl in der ernsten, ruhigen, zweiundzwanzigjährigen Nonne Base Eva wieder erkennen? Denn während in der lieben, alten Heimat die Zeit, einem Strome gleich, ihren Lauf mit Wachstum und Leben bezeichnet, scheint sie hier im Kloster denselben nur mit dem langsamen Fortschritt des Schattens auf dem schweigenden Zifferblatt, mit dem Schatten des Todes, zu bezeichnen. In dem Kloster gibt es kein anderes Werden, als das Altwerden.
In Tante Cottas Hause ging das Jahr vom Winter in den Frühling, Sommer und Herbst über; Saat und Erntezeit, die Zeit der Blumen und der Früchte wechselten lieblich mit einander ab. Die Jahreszeiten verschmolzen ineinander, wir wußten nicht wie und wann. Im Kloster dagegen ist das Jahr blos scharf geteilt nach den Monaten: Dezember, Januar, Februar, März u. s. w., und nichts als der Name unterscheidet einen Monat von dem andern.
In der lieben, alten Heimat stieg der Tag von der Morgendämmerung an allmählig bis zum hellen Mittag, reifte bis zum Sonnenuntergang und verschmolz endlich in die Nacht. Hier im Kloster teilt nur der Glockenschlag den Tag in Stunden ein.
Schwester Beatrixens armes, verblühtes Gesicht wird nach und nach ein wenig welker; die Züge von Tante Agnes abgehärmter und schärfer, und ich, wie die übrigen bin sechs Jahre älter geworden, als da ich herkam, und das ist alles.
Wohl sind neue Novizen angelangt und haben das unwiderrufliche Gelübde abgelegt, und ich sehe mich von hübschen jungen Gesichtern umgeben; allein das thut mir oft weh, wenn ich sie ansehe und bedenke, daß auch sie, wie wir alle, sich den Eingang in das Leben mit all seinen mannigfaltigen Veränderungen verschlossen und den einförmigen Pfad zum Grabe betreten haben, dessen verschiedene Stufen durch nichts als das Altern bezeichnet werden.
Einige der Novizen kamen voll edlen Strebens nach einem gottgeweihten Leben. Man hatte ihnen von dem himmlischen Bräutigam gesagt, der ihre geheiligten Herzen mit reiner, unaussprechlicher Freude erfüllen werde, welche die Welt nie kennen lernen kann.
Allein manche kamen auch als Opfer des Familienstolzes oder der Armut, weil ihre adeligen Eltern zu unbemittelt sind, sie standesgemäß zu versorgen, oder um mit ihrem Anteil die Mitgift einer verheirateten Schwester zu vergrößern.
Ich weiß, welch schmerzliche Enttäuschung ihrer wartet, wenn sie einsehen lernen, das das Kloster nur eine elende, kindische Nachäfferei der Welt ist, mit all ihrem kleinlichen Ehrgeiz und Neide, ohne ihr Leben und ihre Liebe. Ich weiß, die Edelsten werden am meisten leiden und vielleicht am tiefsten sinken.
Für engherzige, phlegmatische Naturen kann der alte Schlendrian der Gewohnheit eher den wechselnden Strom des Lebens ersetzen. Sie werden sich schneller in ihr Joch fügen, und eben so lebhaften Anteil an den Klatschereien ihres Klosters oder Ordens, an der Wahl der Vorgesetzten, oder dem Scandal irgend eines benachbarten Frauenstiftes nehmen, als sie an dem Geschwätz ihrer Stadt oder ihres Dorfes genommen hätten, wenn sie in der Welt geblieben wären.
Aber warmfühlende Herzen, lebhaftere, höher begabte Geister werden sich ereifern und kämpfen, und wähnen zu den äußersten Tiefen der Selbsterniedrigung hinabgestiegen zu sein, oder in unnennbaren Höhen mystischer Andacht zu schweben, und wenn sie dann aus diesen Träumen erwachen, sich selbst die bittersten Vorwürfe machen, falls sie sich zu schwach finden irgend einer kleinen Versuchung zu widerstehen.
Diesen will ich helfen, so viel mir möglich ist. Allein ich habe, seit ich nach Nimptschen kam, einsehen gelernt, daß es etwas schreckliches und gefährliches ist, die Erziehung unserer Seelen aus den Händen Gottes in unsere eigenen zu nehmen.
In seiner Hand muß das reinigende Messer oft verwunden und ärmer zu machen scheinen; aber in der unsrigen schneidet und verwundet es und macht arm, ohne zu reinigen und zu beschneiden. Wir können uns freilich Schmerzen auflegen; doch Gott allein kann den Schmerz heilsam und das Leiden wirksam zur Besserung machen.
Ich kann nichts als beten, daß, obgleich viele einen traurigen Irrtum begehen, indem sie sich hier einmauern, Du, der große Arzt der Seelen, uns mit all unseren unnötigen, selbstgeschlagenen Wunden, all unseren vergeudeten, eigenmächtig an der Entwicklung gehinderten Anlagen, so wie wir sind, doch annehmen und für Dich selbst erziehen wollest.
Was mich am meisten interessiert, ist das Krankenzimmer. Da wir uns selbst abgeschlossen haben von den Freuden, Schmerzen und Wechselfällen des gewöhnlichen Lebens, ist es beinahe, als ob nichts mehr in Gottes Hand liege, um unsern Glauben zu prüfen und unsere Ergebung in Seinen Willen zu üben, als Krankheit. Schmerzliche Verluste gibt es nicht mehr für uns, die wir uns selbst des Zusammenlebens mit unsern Lieben auf immer beraubt haben. Wir kennen nicht die Versuchungen des Reichtums noch der Armut, da uns weder das eine noch das andere zu Teil werden kann, weil wir das Gelübde freiwilliger Armut gethan haben, und nichts unser Eigentum nennen können, aber zugleich als Glieder eines reichbegabten Ordens vor Sorgen und Mangel geschützt sind.
Nur vor Krankheit sind wir nicht bewahrt; und wenn ich daher eine der Schwestern auf dem Krankenlager sehe, denke ich:
»Gott hat dich dahin geworfen! und es muß also zum Besten sein.«
Ich bin noch immer mit dem Unterricht der Novizen beschäftigt; allein oft steigt die traurige Frage in mir auf:
»Wozu unterrichte ich sie denn eigentlich?«
Für sie hat ja das Leben keine Zukunft, nur eine monotone Verlängerung der monotonen Gegenwart.
Ich suche mich zu überreden, »daß ich sie für die Ewigkeit erziehe.« Allein wer vermöchte dies, außer Gott, der in der Ewigkeit lebt und sieht, welchen Einfluß der kleinste Augenblick, als ein Ring in der ungeheuren Kette der Ewigkeit, auf dieselbe ausübt?
Jedoch, ich thue mein Bestes. Besonders Katharina von Bora, ein sechszehnjähriges Mädchen, das erst kürzlich ins Kloster getreten ist, flößt mir die innigste Teilnahme ein. Sie hat ein so warmes Herz und solche Charakterstärke. Doch ach! was soll sie hier damit!
Tante Agnes hat mir ihr Herz noch immer nicht aufgeschlossen. Als ich krank war, pflegte sie mich freilich so zärtlich, wie Tante Cotta selbst es nur thun konnte; allein so bald ich hergestellt war, wies sie jeden Ausdruck meiner Dankbarkeit und Liebe streng von sich ab und kehrte zu ihren Bußübungen und Kasteiungen zurück, weshalb die Nonnen sie als besonders heilig verehren.
Zuweilen schaue ich sehnsüchtig nach dem Rauch und den Lichtern in dem Dorfe, welches wir aus den obern Fenstern des Klosters zwischen den Bäumen erblicken können. Ich weiß, jede kleine Rauchsäule kommt von dem Herde einer Familie, bestehend meist aus Vater, Mutter und Kindern; und mir ist, als ob diese Rauchsäulen gleich Wolken heiligen Weihrauchs Zu unserm himmlischen Vater emporstiegen.
Mein die von der Schwesterschaft sehr freigebig gespendeten Almosen werden an der Klosterpforte ausgeteilt, weshalb wir mit den uns umgebenden Armen in keine nähere Verbindung treten, als die zwischen Bettlern und Almosenspendern, und ich möchte ihre Freundin sein!
Zuweilen fürchte ich, daß es eine That ungeduldigen Eigensinns von mir war, Tante Cottas Haus zu verlassen, daß ich Gott hätte besser dienen können, wenn ich dort geblieben wäre, und daß mein Weggehen doch eine Lücke gemacht hat, die ich besser gethan hätte auszufüllen. Wenn ihre Töchter sich verheiraten, wäre ich eine Stütze für Tante Cotta geworden, und als »Base Eva« hätte ich Elsens Kindern vielleicht nützlicher werden können, als hier den Nonnen unter dem Namen »Schwester Ave«. Allein was auch hätte der Fall sein können, jetzt ist es Ungeduld und Empörung, daran zu denken, und nichts kann mich von Gott und seiner Liebe trennen.
Ich weiß nicht, wie es kommt, aber selbst die » Theologia Germanica« und die erhabene und innige Gemeinschaft mit Gott, die sie lehrt, schien mir in den unterbrochenen Mußestunden eines thätigen Lebens süßer als jetzt, da sie die Beschäftigung ungestörter Muße ausmachen. Die Stunden frommen Nachdenkens und der Andacht waren reicher gesegnet, eben durch die Prüfungen und Arbeiten, welche sie zu hindern schienen.
Zuweilen ist mir, als ob auch mein Herz am Erstarren wäre, als ob es teilnahmslos und hart würde. Ich fürchte sehr, dies würde, geschehen, wenn Schwester Beatrix nicht wäre, welche, vom Schlage bettoffen, jetzt eine beständige Bewohnerin der Krankenstube ist. Sie spricht oft sehr unbestimmt und kann überhaupt nie zusammenhängend denken. Da habe ich nun ein Buch gefunden, das sie interessiert; das Evangelium nach St. Lucas in lateinischer Sprache, welches ich aus der Klosterbibliothek nehmen darf, um es ihr zu übersetzen. Die Geschichten darin sind so kurz und einfach, daß sie sie gut Verstehen kann und nie müde wird, sie anzuhören. Gerade daß sie diese Erzählungen schon kennt, macht ihr dieselben teuer, und mir sind sie immer neu. Was mich übrigens wundert, ist, daß in dem ganzen Evangelium gar nichts von Bußübungen oder Gelübden oder von der Anbetung der heiligen Jungfrau steht. Wahrscheinlich werde ich es in den andern Evangelien oder in den Episteln finden, welche nach der Himmelfahrt der Jungfrau Maria geschrieben wurden.
Schwester Beatrix hört mich sehr gern das Lied von Bernhard von Clugny singen, von der ewigen Seligkeit im Himmel:
Hic breve vivitur, hic breve plangitur, hic breve fletur,
Non breve vivere, non breve plangere, retribuetur.
O retributio! stat brevis actio, vita perennis,
O retribntio! coelica mansio stat lue plenis.
Zu deutsch:
Nur kurz ist hier das Leben, nur kurz ist hier der Schmerz,
Nur kurz im Jammer schweben muß hier das arme Herz.
Es bringt die Saat der Thränen die schöne Erntezeit;
Erfüllt wird dann das Sehnen deß, der bewährt im Leid.
April 1517.
Dr. Martin Luthers Visitation hat den ganzen Augustinerorden in Sachsen mächtig erschüttert. Er ist zum zeitweiligen Generalvikar ernannt worden an der Stelle des Dr. Staupitz, welcher im Auftrage des Kurfürsten nach den Niederlanden gereist ist, um für dessen neue Kirche zu Wittenberg Reliquien zu sammeln.
Voriges Jahr besuchte Dr. Luther das Kloster zu Grimma, das nicht weit von uns entfernt ist, und durch unsere Priorin, welche mit dem Abte von Grimma verwandt ist, haben wir viel von ihm gehört.
Er empfiehlt den Brüdern und Schwestern des Ordens dringend das Studium der heiligen Schrift und des heiligen Augustinus vor jedem andern Buche. Wir haben auch in unserm Kloster angefangen, seinen Rat zu befolgen, und neues Leben scheint überall zu erwachen. Auch zwei herrliche Briefe haben wir gelesen, welche Dr. Luther an Brüder des Augustinerordens geschrieben hat. Sie sind vom April vorigen Jahres datiert und haben auf Viele unter uns liefen Eindruck gemacht. Der erste war an den Bruder Georg Spenlein, einen Mönch zu Memmingen. Er beginnt: »Im Namen Jesu Christi.« Nachdem er über eine pekuniäre Privatangelegenheit geschrieben, fährt er fort:
»Besonders aber verlangt mich zu wissen, wie es mit Deiner Seele steht; ob sie, ihrer eigenen Gerechtigkeit müde, lernt, sich auf die Gerechtigkeit Christi zu verlassen. Denn in unserer Zeit ist in Manchen die Versuchung zur Selbstüberhebung sehr mächtig, vorzüglich in denen, welche sich ernstlich bestreben, gut und fromm zu werden. Unbekannt mit der Gerechtigkeit Gottes, welche uns in Christo reichlich und umsonst dargeboten ist, suchen sie aus eigener Macht gute Werke zu thun, um zuletzt getrosten Mutes mit ihren Werken und Verdiensten geschmückt vor Gott bestehen zu können –was unmöglich ist. Du warst, als Du noch unter uns weiltest, dieser Meinung, wie ich auch; allein jetzt kämpfe ich gegen diesen Irrtum, obgleich ich ihn noch nicht ganz überwunden habe.
»Darum, mein lieber Bruder, lerne Christum den Gekreuzigten kennen; lerne, an Dir selbst vertagend, zu Ihm sprechen: »Herr Jesu, Du bist meine Gerechtigkeit, und ich. bin Deine Sünde. Du hast mich auf Dich genommen und mir gegeben, was Dein ist; Du hast auf Dich genommen,, was Du nicht warst und mir geschenkt, was ich nicht war.« Hüte Dich, nach einer solchen Reinheit zu streben, daß Du Dich selbst für keinen Sünder mehr hältst; denn Christus wohnt nur in Sündern. Dazu kam Er vom Himmel herab,, wo Er bei den Gerechten weilte, um bei den Sündern zu wohnen. Denke über diese Liebe nach, so wirst Du süßen Trost daraus schöpfen. Warum wäre Er denn gestorben, wenn, wir mit unsern Bußübungen und Arbeiten Ruhe für unser Gewissen erwerben könnten? Darum, nur wenn Du an Dir selbst und Deinen guten Werken verzweifelst, wirst Du in Ihm Frieden finden, denn Er hat Deine Sünden auf sich genommen und Seine Gerechtigkeit zu der Deinigen gemacht.«
Tante Agnes schien diese Worte zu verschlingen, wie ein Fieberkranker den kühlenden Trank. Ich mußte sie ihr wieder vorlesen, und dann für sie übersetzen und abschreiben, und seitdem trägt sie sie überall bei sich.
Mir sind die folgenden Worte eben so köstlich. Dr. Luther sagt: »Da Christus uns Verirrte so geduldig getragen hat, sollten auch wir mit andern Geduld haben.« »Wirf Dich vor dem Herrn Jesu nieder,« schreibt er, »und bitte um alles, was Dir fehlt. Er wird Dich alles lehren, selbst das für andere zu thun, was Er für Dich gethan hat.«
Der andere Brief ist an Bruder Georg Leiffer von Erfurt. Er spricht darin vom Leiden:
»Das Kreuz Christi ist durch die ganze Welt verteilt. Jeder bekommt unfehlbar zur rechten Zeit sein Teil davon. Suche darum nicht Dein Teil abzuschütteln, sondern nimm es an als eine heilige Reliquie, um dieselbe aufzubewahren, nicht in einem goldenen oder silbernen Reliquienkästchen, sondern in dem Heiligtums eines goldenen, d. h. eines liebenden, gottergebenen Herzens. Denn wenn das Holz des Kreuzes durch die Berührung des Leibes und Blutes Christi so geweiht wurde, daß es für die köstlichste Reliquie gilt, um wie viel mehr sind Schmähungen, Verfolgungen, Leiden und der Haß der Menschen heilige Reliquien, geheiligt nicht durch die Berührung seines Leibes, sondern durch die Gemeinschaft seines liebevollen Herzens und seines gottähnlichen Willens. Darum sollten wir sie auch annehmen und segnen und lieben, weil durch Ihn der Fluch in Segen, das Leiden in Herrlichkeit, das Kreuz in Freude verwandelt worden ist.«
Schwester Beatrix hatte ihre Freude an diesen Worten und murmelt sie immer leise vor sich hin, seitdem ich sie ihr erklärt habe. »Ja, ich verstehe es,« sagte sie; »diese Krankheit, diese Hülflosigkeit, –alles, was ich verloren und gelitten, –sind heilige Reliquien meines Heilandes; nicht weil er mein vergißt, sondern weil er mein gedenkt –mein gedenkt! –Schwester Ave, ich bin glücklich.«
Und dann hört sie so gerne, wenn ich ihr Lieblingslied: Jesu dulcis memoria, singe.
Schon Deines Namens Süßigkeit
Gibt Freude, Trost und Seligkeit;
Doch süßer über Alles ist,
Wo Du, o Jesu, selber bist.
So lieblich schallet kein Gesang,
So süß ertönt kein Saitenklang,
Die ganze Welt hat keinen Lohn,
Wie Du, Erlöser, Gottes Sohn.
Du, der Du alle Schmerzen heilst,
Den Flehenden zu Hilfe eilst,
Wie selig ist, wer nach Dir strebt,
Wie selig der, der in Dir lebt!
Machst Du Dir in dem Herzen Bahn,
So bricht ein schöner Morgen an;
Dann leuchtet Freude, himmlisch klar,
Und macht Dein Lieben offenbar.
Nie komm es mir aus meinem Sinn,
Was ich durch Dich, o Jesu, bin;
Stets leuchte mir in vollem Licht
Dein gnadenvolles Angesicht.
O Jesu, Schmuck des Engelchors,
Entzückender Gesang des Ohrs,
Dem Geiste süße Lebenslust,
Und Wonn' und Himmel in der Brust,
Nichts stillet meinen Trieb nach Dir.
Wann, Jesu, kommst Du ganz zu mir?
Wann werd ich ganz durch Dich erfreut?
Wann seh ich Deine Herrlichkeit?
Komm Du, den meine Seele liebt,
Der Leben ihr und Alles gibt!
Komm und erfüll' ihr heißes Flehn,
Und laß mich Dich im Himmel sehn!
Ihr, die ihr schon vollendet seid,
Ihr Sel'gen, macht die Thore weit!
Lobsinget ewig Ihm mit mir:
Lob, Jesu, Gottes Sohn, sei Dir!
Mai 1517.
Endlich hat Tante Agnes mir ihr Herz ausgeschüttet. Ganz plötzlich und finster, als ob sie mehr unwillig auf sich selbst, als reumütig oder freudig wäre, sagte sie diesen Morgen zu mir: »Kind, diese Worte Dr. Luthers sind mir durchs Herz gegangen. Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich bemüht, eine Heilige zu werden und so Gott näher zu kommen. Und es ist mir völlig mißlungen. Jetzt erfahre ich es erst, daß ich eine Sünderin bin, und daß die Liebe Gottes dennoch mich hält und trägt; das Kreuz, das Kreuz Christi allein bahnt mir den Weg von der Hölle zum Himmel. Ich bin keine Heilige; werde nie eine sein. Christus ist der einzige Heilige, der Heilige Gottes; Er hat meine Sünden getragen, Er ist meine Gerechtigkeit. Er hat alles vollbracht, und ich habe nichts mehr zu thun, als Ihm allein die Ehre zu geben, und Ihn zu lieben, zu lieben in alle Ewigkeit. Und das will ich,« setzte sie mit Inbrunst hinzu, »armes, stolzes, verlassenes und sündiges Geschöpf, das ich bin. Ich kann nicht anders; ich muß!«
Allein wie ernst und streng auch ihre Worte lauteten, wie verändert war nicht Tante Agnesens Wesen! demütig und einfach wie das eines Kindes. Als sie mich verließ, um etwas im Hause zu besorgen, küßte sie mich auf die Stirn und sagte: »Ach Kind, habe mich ein bißchen lieb, wenn es dir möglich ist, nicht als eine Heilige, sondern als eine arme, alte, sündhafte Frau welche die Liebe, die sie zu dir fühlte, unter ihre ärgsten Sünden rechnete, was am Ende gerade die geringste war; liebe mich ein wenig, Eva, um meiner Schwester willen, die dir so teuer ist.«