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XVII.
Fritzens Geschichte.

Augustinerkloster zu Mainz, im August 1517.

Sieben Jahre sind verflossen, seit ich nicht mehr in meine alte Chronik geschrieben habe, und nun, da ich sie in der Stille dieses Klosters einmal wieder aufschlage, ist die Tinte auf den ersten Seiten schon vor Alter braun geworden; aber ein seltsamer, wohlbekannter Duft, wie von den ersten Frühlingsblumen, weht mir daraus entgegen. Meine Kindheit mit ihrer frommen Einfalt; meine Jugend mit ihren reichen Aussichten, ihren kühnen, feurigen Hoffnungen steht wieder vor mir. Meine Kindheit gleicht einem jener stillen, grünen Thäler meiner Heimat, ja dem Thale meiner Vaterstadt Eisenach selbst, so lange dieser Streifen Waldes, das ruhige Städtchen mit seinen Türmen und Glocken, das bescheidene Vaterhaus mit seiner Liebe, seinen Sorgen, seinen Plaudereien in der alten Rumpelkammer noch meine ganze Welt ausmachten.

Dann steigt die Jugend vor mir auf, wie jene erste Reise durch den Wald nach der Universität zu Erfurt, wo die Welt sich vor meinen Blicken erschloß, wie die Ebenen von den duftigen Höhen herab gesehen, ein Kampfplatz für ruhmvolle Thaten, ein unbegrenzter Ocean für Abenteuer und Entdeckungen, ein weites Feld für edle Arbeit. –

Dann kam wieder eine kurze Zwischenzeit, wo die unscheinbare Heimat zu Eisenach mir teurer und wichtiger wurde, als die ganze, weite Welt draußen, und wo das ganze Leben geheiligt vor mir sich ausdehnte in dem Licht eines reinen, heiligen, liebenden Mädchenherzens. Ich habe nichts so himmlisches mehr gesehen, wie sie war. Aber dann kam der furchtbare Schlag, der mein Leben zerriß und mich mit gleicher Strenge von der Heimat wie von der Welt losriß.

Jahre lang wagte ich es nicht mehr, an Eva auch nur zu denken. Allein seit meiner Pilgerfahrt nach Rom verweile ich gern in der Erinnerung bei ihr und danke Gott täglich, daß nichts dieses Bild der Unschuld und Liebe aus meinem Herzen vertilgen kann. Ohne dieses Bild und ohne die Erinnerung an Dr. Luthers männliche, aufrichtige Frömmigkeit hat es Zeiten gegeben, wo ich an aller Wahrheit und Heiligkeit auf Erden verzweifelt wäre, ein solcher Abgrund von Schlechtigkeit schien mir die Welt. –

Wie oft hat der Schein des kleinen Herdfeuers meiner Heimat mich vor dem Schiffbruch bewahrt, als »viele Tage weder Sonne noch Mond zu sehen war und kein geringer Sturm mich umbrauste.«

Denn ich habe seitdem hinter dem Vorhänge des äußerlichen Scheines gelebt als ein armer, unbedeutender Mönch, vor dem es nicht der Mühe wert war, sich zu verstellen. Ich habe überdies viele Stunden im Beichtstühle zugebracht; ich bin vor der Messe in der Sakristei und nach derselben bei der Klostermahlzeit gewesen. Ich habe hin und wieder Monden im Mittelpunkte der Christenheit, in Rom zugebracht, wo die Ablaßzettel, welche gegenwärtig ganz Deutschland in Aufregung bringen, fabriziert werden, und wo das damit gewonnene Geld verbraucht wird, – nicht bloß zum Bau der St. Peterskirche oder zum heiligen Kriege gegen die Türken!

Gott sei Dank, daß sich endlich die Stimme gegen diese empörende ungeheure Lüge erhoben hat, die treue Stimme Dr. Luthers! Sie ertönt durch das ganze Land. Vor kurzem bin ich von einer Rundreise durch Deutschland zurückgekehrt, wo ich Gelegenheit hatte, die Wirkung seiner Thesen zu beobachten.

Es war ein Prediger in einer Dominikanerkirche Baierns, von dem ich sie zuerst erwähnen hörte.

Der Redner sprach von Dr. Luther, den er mit Namen nannte, indem er behauptete, der Teufel selbst habe ihm seine Thesen eingegeben, und ihr elender Verfasser werde in der Hölle einen noch schlimmeren Platz bekommen, als alle Ketzer von Simon Magnus an bis auf die neuesten Zeiten.

Die Versammlung war sehr aufgebracht, und jedermann sprach beim Auseinandergehen davon. Einige fromme Leute waren neugierig, wer nur dieser Ketzer sein könnte, der noch schlimmer sein sollte, als Huß. Andere fragten, worin wohl die neue, giftige Lehre bestehe, und viele kauften ein Exemplar der Thesen, um selbst zu sehen.

Im Augustinerkloster waren sie des Abends der Gegenstand heftigen Streites. Nicht wenige unter den Mönchen triumphierten darüber, als über eine tüchtige Schlappe für Tetzel und die Dominikaner. Einige freuten sich und sagten, daß sie sich schon seit Jahren gesehnt hätten, solche Worte zu hören. Viele wunderten sich, daß man solches Aufsehen davon mache, da sie doch nichts enthielten, als was alle aufrichtigen Menschen längst gedacht hätten.

Einige Tage später übernachtete ich bei Ruprecht Haller, einem Priester in einem fränkischen Dorfe. Eine Frau von stillem, bescheidenem Wesen, zwar noch jung, aber mit abgehärmten Zügen und einer demütigen, gebeugten Haltung, bereitete uns das Abendbrot. Während sie uns bediente, fing ich an mit dem Priester über Luthers Thesen zu sprechen.

Er machte mir aber ein Zeichen, davon stille zu sein, und wendete rasch das Gespräch auf einen andern Gegenstand.

Als wir allein waren, erklärte er mir seine Gründe. »Ich gab ihr vorige Woche das Geld zu einem Ablaßzettel, und sie kaufte einen von einem Gefährten Dr. Tetzels,« sagte er, »und als sie zurückkehrte, schien ihr Herz leichter zu sein, als ich sie in Jahren nicht gesehen, seit Gott uns unserer Sünden wegen schlug und den kleinen Dietrich uns hinwegnahm. Um alle Welt möchte ich sie nicht dieses kleinen Trostes, sei er nun wahr oder falsch, berauben lassen.«

Das war eine traurige Geschichte; was die Sünde betrifft, häufig genug in Städten und Dörfern, und nur ungewöhnlich durch die Sehnsucht nach etwas Besserem, die noch in dem Herzen der Schuldbewußten zurückgeblieben war.

Ich schlug vor, ob sie zu ihren Verwandten zurückkehren oder ins Kloster gehen wollte.

»Sie hat keine Verwandten mehr, welche sie aufnehmen würden,« sagte er, »und sie ins Kloster zu schicken, um von einer ganzen Schwesterschaft verachtet und mit Bußübungen gemartert zu werden? –Nimmermehr!«

»Aber ihre Seele,« wendete ich ein, »und die Eure?«

»Unser Heiland hat solche Sünder, wie wir, angenommen noch vor den Pharisäern,« antwortete er fast mit Ingrimm.

»Ja, solche, die Ihn aufnahmen,« versetzte ich ruhig, »und hingingen und sündigten hinfort nicht mehr.«

»Und wann hat denn Gott je gesagt, daß es für einen Priester Sünde sei, ehelich zu werden?« fragte er. »Im alten Testament gewiß nicht, denn der Sohn des Priesters Elkanah und der Hannah diente dem Herrn in seinem Tempel, wie vielleicht unser kleiner Dietrich,« setzte er in leiserem Tone hinzu, »jetzt vor ihm in seinem Tempel dient. Und wo findet ihr im Neuen Testament ein solches Verbot?«

»Die Kirche verbietet es,« sagte ich.

»Seit wann?« fragte er weiter. »Die Sache liegt mir zu nahe am Herzen, als daß ich nicht sorgfältig nachgeforscht hätte. Vor fünfhundert Jahren, habe ich gelesen, zur Zeit des Papstes Hildebrand, hatte mancher Priester auf dem Dorfe sein rechtmäßig angetrautes Weib, das er liebte, wie ich meine Bertha: denn Gott weiß es, daß keines von uns je ein anderes liebte.«

»Tröstet dies ihr Gewissen?« fragte ich.

»Manchmal,« versetzte er bitter, »aber nur zuweilen. Viel öfter lebt sie wie unter der Last eines Fluches, zu bange, irgend etwas Gutes anzunehmen, sich unter jeden Kummer als einen wohlverdienten beugend, und ihn als den Vorschmack der schrecklichen Vergeltung in der Ewigkeit betrachtend.«

»Alles, was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde,« murmelte ich.

»Was wird aber denen zu Teil werden, die das Sünde heißen, was Gott geheiligt hat,« sagte er, »und die Unruhe und Befleckung in ein so reines Herz bringen, wie das ihrige?«

Die Frau war indessen wieder in die Stube getreten und mußte seine letzten Worte gehört haben; denn eine tiefe Röte überflog ihr bleiches Gesicht. Während sie sich umwandte, zitterte ihre ganze Gestalt wie von unterdrücktem Schluchzen. Als aber der Priester bald darauf das Zimmer verließ, kam sie zu mir und sagte, mich mit ihren dunklen, glanzlosen, traurigen Augen anschauend: »Ihr habt davon gesprochen, daß Viele an der Wirksamkeit der Ablaßzettel zweifeln. Thut Ihres auch? Ich kann ihm nicht trauen,« setzte sie sanft hinzu; »er würde es mir nicht gestehen wollen, wenn er so dächte.«

Ich wußte nicht recht, was ich ihr erwidern sollte. Ich konnte keine Unwahrheit sagen und vor diesen ernsten, durchdringenden Augen war kein Ausweichen möglich.

»Ihr glaubt nicht, daß dieser Zettel mir etwas nützen kann,« sagte sie, »ich auch nicht.« Und ruhig zu dem Herde gehend, zerriß sie den Ablaßzettel in Stücke und warf sie ins Feuer.

»Sagt es ihm nicht,« bat sie, »er glaubt, es sei mir ein Trost.«

Ich sprach davon, daß Buße und Vergebung Allen umsonst angeboten seien.

»Buße würde in meinem Falle verlangen, daß ich mich von ihm trennte, nicht wahr?« fragte sie.

Ich konnte es nicht verneinen.

»Ich werde ihn nie verlassen,« versetzte sie mit einer Ruhe, welche mehr aus Grundsatz als aus Leidenschaft zu entspringen schien. »Er hat mir sein Leben geopfert; wäre ich nicht gewesen, könnte er jetzt ein reicher, angesehener Mann sein. Glaubt Ihr, ich könnte ihn verlassen, um sein zerstörtes Leben allein zu tragen?«

Es war also nicht Furcht vor Verachtung und strengen Bußübungen, was sie vom Kloster zurückhielt.

Ich schwieg eine Weile. Ich wagte weder zu richten noch zu trösten. Endlich sagte ich: »Das Leben, sei es froh oder kummervoll, geht schnell vorüber. Heiligung ist unendlich wichtiger als Glück, und Heiligung schafft Seligkeit in jenem Leben. Wenn Ihr überzeugt wäret, daß es zu seinem besten diente, würdet Ihr alles thun, möchte es Euch auch noch so schwer fallen, nicht wahr?«

Ihre Augen füllten sich mit Thränen. »So glaubt Ihr also, daß noch etwas Gutes selbst an mir ist,« sagte sie. »Gott lohne es Euch!« Und damit verließ sie das Gemach. –

Vor fünfhundert Jahren hätten diese zwei Menschen ein reines, ehrenvolles, glückliches Leben führen können; und jetzt. –

Mit schwerem Herzen und mehr als je von Zweifeln gequält, verließ ich das Haus.

Aber jenes bleiche, abgehärmte Gesicht, die dunkeln, traurigen, ehrlichen Augen, die Stirne, welche hätte so rein sein können, wie die der heiligen Agnes, stehen mir seitdem immer vor der Seele. Und ich gedenke ihrer stets mit dem stillen Seufzer: »Gott sei uns Sündern –ihnen und mir –gnädig!«

Hat denn nicht meine eigene gute, reine, fromme Mutter fast eben so bittere Zweifel und Gewissensbisse? Hat sie nicht wie unter einem Fluche gelebt? Wer oder was hat über so manche Familien einen düstern Schatten geworfen? Wer, der das Innere vieler Klöster kennt, wagt es, sie heiliger zu nennen, als so manche Familien? Welcher Beichtiger von Mönchen oder Nonnen kann sagen, daß sie himmlischer gesinnt seien, als Gatten und Gattinnen, Väter und Mütter? Ach! die Fragen jenes Priesters sind mir nichts Neues. Aber ich darf ihnen nicht Raum geben. Denn, wenn das Klosterleben ein Wahn ist, wofür habe ich dann meine teuersten Hoffnungen, die so rein und heilig hätten sein können, geopfert? –

Solches Bedauern, solches Bereuen ist eine Bürde, die ein mutiger Mann abschütteln muß. Was ist's auch, wenn das Leben eines unbedeutenden Menschen durch diesen Irrtum getrübt und der süßesten Freude beraubte wurde? Aber wer könnte das Laster an den heiligsten Stellen schmachvoll herrschen und Skrupel, die höchst wahrscheinlich falsch sind, die reinsten Herzen beflecken sehen, ohne zu trauern? Hier werden Verbrechen, die ein Heide verabscheuen würde, mit wenigen Gulden gebüßt; dort lasten Sünden, welche die heilige Schrift selbst kaum als solche bezeichnet, auf zarten Gewissen wie schwere Verbrechen.

Wie wird diese Verwirrung sich endlich lösen?

Die folgende Nacht brachte ich in dem Schlosse eines alten Ritters, Otto von Gersdorf, zu. Er lud mich sehr freundlich zu Tische, wo seine verwitwete Schwester, eine stattliche, alte Dame, den Vorsitz führte.

»Was bedeutet all das Gerede über Dr. Luther und seine Thesen?« fragte er; »doch wohl nur irgend einen geringfügigen Streit zwischen den Mönchen. Und doch meint mein Neffe, es komme auf der ganzen Welt niemand diesem kleinen Bruder Martin gleich. Ihr guten Augustiner wollt den schwarzen Brüdern nicht den ganzen Profit lassen: ist's nicht so?« fragte er lachend.

»Dies ist jedenfalls Dr. Luthers Beweggrund nicht,« sagte ich; »ich glaube nicht, daß ihm am Geld mehr gelegen ist, als den Vögeln in der Luft.«

»Nein, Bruder,« sagte die Dame; »denke doch an die herrlichen Worte, welche Chrimhilde uns aus seinem Buche über das Vaterunser vorgelesen hat.«

»Ja, Du und Ulrich und Chrimhilde und Atlantis,« erwiderte der alte Ritter, »seid alle gleich; der kleine Mönch hat euch alle verhext.«

Mein Herz schlug heftig, als ich die Namen meiner Schwestern hörte.

»Kennt die gnädige Frau Chrimhilde und Atlantis Cotta fragte ich.

»Komm, Neffe Ulrich,« sagte der alte Ritter zu einem jungen Manne, der, soeben von der Jagd zurückkehrend, in die Halle getreten war. »Sage diesem guten Bruder alles, was du von Fräulein Chrimhilde Cotta weißt!«

Wir waren bald die besten Freunde und noch lange, nachdem der alte Ritter und seine Schwester sich zurückgezogen hatten, saßen Ulrich von Gersdorf und ich beisammen, plaudernd von Dr. Luther, seinen herrlichen Worten und Thaten, und von Namen, die uns beiden noch teurer waren als selbst der seinige.

»Ihr seid gewiß Fritz,« sagte er nach einer Pause nachdenklich; »Fritz, von dem sie alle so gerne reden und dem nach ihrer Meinung niemand gleichkommen kann. Ihr seid Fritz, von dem Chrimhilde sagt, daß ihre Mutter immer gehofft habe, er werde das engelgleiche Fräulein Eva von Schönberg heiraten, die jetzt eine Nonne im Kloster zu Nimptschen ist, dessen Theologia Germanica und Liederbuch sie mit ins Kloster genommen hat. Ich begreife nicht, wie Ihr sie habt verlassen können, um ein Mönch zu werden,« fuhr er fort; »Ihr müßt einen sehr mächtigen Beruf dazu gefühlt haben.«

In diesem Augenblick fühlte ich wahrlich einen sehr schwachen. Allein um alles in der Welt hätte ich es ihn nicht mögen merken lassen und sagte daher mit so fester Stimme, als ich's nur imstande war: »Ich glaubte, daß es Gottes Wille sei.«

»Nun wohl,« fuhr er fort, »es ist für jeden gut, sie gesehen zu haben, und dieses Bild der Unschuld und Frömmigkeit mit sich in sein Haus oder ins Kloster zu nehmen. Besser als das gemalte Bild irgend einer Heiligen ist es, dieses kindliche, engelgleiche Gesicht, diese Stimme, so süß wie Orgeltöne, im Herzen zu haben.«

»So ist's,« erwiderte ich, unfähig ein Wort mehr zu sagen. Zu meinem Glücke ging er auf einen andern Gegenstand über und rühmte lange die Schönheit und Vortrefflichkeit seiner lieben Chrimhilde, welche er, wie er sagte, nächstes Jahr heimzuführen gedachte; indessen in meinem Herzen nur zwei Gedanken festgewurzelt waren: was meine Mutter für Eva und mich gewünscht, und daß Eva mein » Theologia Deutsch« mit ins Kloster genommen hat.

Mehrere Tage lang konnte ich das süße, unschuldige Gesicht nicht in die heilige, überirdische Ferne zurückversetzen, in der ich allein es ohne Sünde anschauen darf.

Allein Ulrich mußte mich wohl für einen sehr teilnehmenden Zuhörer halten, denn nach ungefähr einer Stunde sagte er: »Ihr seid wahrlich ein geduldiger, gutmütiger Mönchs so meinen Liebesgeschichten zuzuhören. Freilich ist sie auch Eure Schwester, und ich wünschte, daß Ihr zu unserer Hochzeit kommen könntet. Jedenfalls freut es mich herzlich, Chrimhilden und den andern allen Nachrichten von ihrem Fritz geben zu können.«

Es war meine Absicht gewesen, auf ein paar Tage nach Wittenberg zu gehen; allein nach dieser Unterredung wagte ich nicht, es so bald zu thun. Ich kehrte daher nach der Universität in Tübingen zurück, um mein Gemüt durch das Studium der griechischen und hebräischen Sprache unter der Leitung des gelehrten Reuchlin ein wenig zu beruhigen, da der General-Vikar mir geboten hatte, mich der alten Sprachen zu befleißigen.

In Tübingen fand ich jedermann von Dr. Luthers Thesen begeistert. Die Gelehrten freuten sich darüber, als über einen Angriff gegen Unwissenheit und Rohheit; Männer von strenger Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit begrüßten dieselben als einen Protest gegen ein Lügen- und Betrugssystem; fromme Leute dankten Gott für diese Verteidigung der Wahrheit und Heiligkeit. Die Studenten besonders begrüßten mit Jubel Dr. Luther als den Fürsten eines neuen Zeitalters. Der greise Reuchlin und viele Professoren erkannten in ihm einen Bekämpfer alter Feinde von einem neuen Angriffspunkte aus.

Hier besuchte ich einige Wochen lang die Vorlesungen des jungen Doktors Philipp Melanchthon (damals erst zweiundzwanzig Jahre alt, obgleich schon seit vier Jahren Doktor), bis er nach Wittenberg berufen ward, wo er am 25. August 1518 eintraf.

Da ich gerade um dieselbe Zeit in Geschäften des Ordens nach dem Augustinerkloster zu Wittenberg gesandt worden war, sah ich ihn daselbst eintreffen. Der Eindruck, welchen sein erstes Auftreten hervorbrachte, war nichts weniger als günstig. Konnte dieser kleine, unscheinbare Jüngling der große Gelehrte sein, den Reuchlin mit solcher Wärme empfohlen, und von dessen Talenten der Kurfürst so große Erfolge für seine neue Universität gehofft hatte?

Dr. Luther war der Erste, der unter dieser unbedeutenden Hülle den verborgenen Schatz entdeckte. Allein Melanchthons erste lateinische Rede, die er vier Tage nach seiner Ankunft hielt, gewann ihm allgemeine Bewunderung, und bald drängle man sich in seine Vorlesungen.

Dies war die Begebenheit, welche ganz Wittenberg beschäftigte, als ich es zuerst sah.

Es war mir seltsam zu Mute, als ich die alte Heimat wieder besuchte. Zeit und Umstände hatten eine so mächtige Schranke zwischen mir und den Meinigen aufgerichtet.

Else, die mit ihrem Schlüsselbund an der Seite, mit ihren Vorräten, ihrem großen Haushalt und ihren zwei Kindern, dem kleinen Fritz und Gretchen, ganz mütterlich aussah, war im Herzen für mich dieselbe geblieben, wie an dem Tage, als ich zum erstenmale nach Erfurt reiste. Ihre ehrlichen blauen Augen hatten denselben liebevollen, freundlichen Blick. Aber eine für mich ganz neue, fremde Welt umgab sie, mit der ich in gar keiner Beziehung stand.

Bei Chrimhilden und den jüngeren Geschwistern schien die Vertraulichkeit gegen den ältern Bruder mit der Ehrfurcht vor dem Priester zu streiten. Christoph betrachtete mich mit einer Mischung von Mitleid, Achtung und Verlegenheit, die jeden vertraulichen Verkehr mit ihm hinderte.

Nur meine Mutter war ganz unverändert gegen mich, obgleich sehr gealtert und schwach. Allein die Zärtlichkeit, womit sie sich an mich anklammerte, schnitt mir mehr durchs Herz, als die bittersten Vorwürfe. Ich fühlte an dem stillen Blick, der alle meine Bewegungen bewachte, wie sehr sie mich vermißt hatte.

Mein Vater war nur wenig verändert; ausgenommen daß seine Projekte gerade in der Unmöglichkeit ihrer Ausführung ihm eine neue, stille Befriedigung zu geben schienen, und daß das Verhältnis zwischen ihm und unserer Großmutter ein viel freundlicheres geworden war.

In der Großmutter Benehmen gegen mich lag zuerst eine gewisse Strenge, die sich aber verlor, als wir uns beide mitgeteilt hatten, wie viel wir Dr. Luthers Lehren verdankten, und sie ward nie müde zu hören, was er in Rom gesagt und gethan hatte.

Die Einzige, von der ich gewiß wußte, daß sie ganz dieselbe gewesen wäre, war fort auf immer; und ich konnte diese Abwesenheit kaum bedauern, da sie mir ihr Bild, ungetrübt durch die Berührung der Zeit und frei von allen Schranken der Veränderung, bewahrte.

Niemand sprach mit mir von Eva, ausgenommen die kleine Thekla, welche mir öfters die lateinischen Lieder vorsang, die Eva sie gelehrt, indem sie mich fragte, ob sie sie wohl eben so singe, wie Base Eva?

Ich bejahte es. Es waren dieselben Worte, dieselben Melodien und fast dieselbe sanfte, fromme, unschuldige Weise. Allein Theklas Stimme war tief, kräftig und klar, wie der Gesang der Drossel, während Evas mehr dem sanften Girren der Taube im Waldesdickicht glich, eigentlich war es gar keine Stimme, sondern ein verkörpertes Gebet, als ob man an der Schwelle ihres Herzens stünde und drinnen die Musik ihrer kindlich frommen, seligen Gedanken hörte.

Nein, nichts vermöchte je mir diese Stimme wieder hervorzurufen.

Thekla und ich wurden aber die besten Freunde. Sie hatte mich früher kaum gekannt, und so schlossen wir uns an einander an, wie wir eben waren. Da war nichts Vergangenes aufzufrischen, nichts zu verwischen. Base Eva war für sie wie ein Stern, oder ein Engel des Himmels, oder wie ein liebliches Kind aus irgend einer schönen Legende gewesen, das Gott ihr zur Freundin gesandt hatte.

Uebrigens war dieser Besuch in der Heimat nicht ohne Schmerz. Ich hatte so inbrünstig gebetet, daß Gott die Lücke, welche mein Weggang zurückließ, ausfüllen möchte; aber nun, da ich sie ausgefüllt und das Leben meiner Geliebten in froher Geschäftigkeit dahinfließen sah, ohne daß ein Platz darin für mich übrig war, überkam mich ein trauriges Gefühl des Verbanntseins. Würden wohl die Toten, wenn sie zurückkehrten, etwas Aehnliches fühlen? Die heiligen Toten gewiß nicht. Sie würden sich im Gegenteil freuen, daß der Schmerz, wenn er sein Werk vollbracht, aufhört, so bitter zu sein, daß die Lücke, wenn gleich nicht ausgefüllt (denn treue Liebe kann durch keine andere ersetzt werden), doch verschleiert und fruchtbar gemacht worden, wie Zeit und Natur alle Ruinen verschleiern.

Aber die heiligen Toten würden aus einer Heimat, einem Vaterhause die Erde wieder besuchen; und dies ist das Kloster nicht und kann es niemals werden!

Und doch wäre ich gern in Wittenberg geblieben. Im Vergleich mit Wittenberg scheint die ganze übrige Welt in Schlaf versunken. Dort war es Tag, und man war von einer Atmosphäre von Hoffnung und Thätigkeit umgeben. Dr. Luther war dort, und bewußt oder unbewußt richten Alle, die sich nach besseren Zeiten sehnen, ihre Blicke auf ihn.

Allein ich war nach Mainz gesandt. Auf der Reise dahin machte ich einen kleinen Abstecher, um dem unglücklichen Ruprecht, dessen Dorf mitten in einem Fichtenwalde liegt, ein neues Buch von Dr. Luther zu bringen. Es war die Auslegung des Vaterunsers für Laien und Ungelehrte. Niemand war bei ihm zu Hause; aber ich legte das Buch auf eine hölzerne Bank vor der Thüre mit ein paar Worten des Dankes für seine Gastfreiheit und meinem Namen. Als ich hierauf meinen Weg durch den Wald fortsetzte, sah ich von einer gegenüberliegenden Anhöhe aus eine Frau sich dem Hause nähern, sich bücken, um das Buch aufzuheben, und dann darin lesend unter der Thüre stehen. Als ich mich wendete, um weiter zu gehen, stand sie noch unbeweglich unter der gewölbten Thüre, und die weißen Blätter des Buches stachen ganz deutlich von dem dunkeln Innern des Hauses ab. –

Ich betete, daß doch diese Worte in ihr Herz möchten geschrieben werden. Ich wußte, es waren herrliche Worte heiliger Liebe und Gnade, welche Reinheit und Frieden jedem Herzen bringen mußte, das sie aufnahm.

Und jetzt bin ich in diesem Augustinerkloster zu Mainz in den Rheinlanden.

Es hat sonderbare Traditionen, dieses Kloster. Hier ist ein Kerker, in dem vor nicht ganz vierzig Jahren (im Jahre 1481) Johann von Wesel starb, jener alte Mann, der es gewagt hatte, gegen den Ablaßhandel zu protestieren und ähnliche Wahrheiten auszusprechen wie die, welche Dr. Luther jetzt verteidigt.

Ein alter Mönch hier im Kloster, der zur Zeit, als Johann von Wesel starb, ein junger Mann war, erinnert sich seiner noch und hat mir oft von ihm erzählt. Die Inquisitoren machten einen Prozeß gegen ihn anhängig, der, wie so viele andere, insgeheim im Kloster geführt wurde.

Man sagte, daß er sich zu einem Widerruf im allgemeinen entschloß, aber gegen zwei Anklagen sich nicht zu verteidigen suchte. Diese waren folgende: »Daß ein Mönch nicht durch das Klosterleben, sondern durch die Gnade Gottes selig werde;« und »daß derselbe heilige Geist, der die heilige Schrift eingab, sie auch allein in dem Herzen lebendig und wirksam machen könne.«

Die Inquisitoren verbrannten seine Bücher, worüber, wie mein Berichterstatter sagte, der alte Mann weinte.

»Warum,« sagte er, »war man denn so aufgebracht gegen ihn? Es war doch so viel Gutes in seinen Schriften; warum denn alles verbrennen um der geringen Irrtümer willen, die mit dem Guten vermischt waren? Das war der Menschen und nicht Gottes Urteil, der auf Abrahams Bitte Sodom verschont hätte, wenn zehn Gerechte dort zu finden gewesen wären. O Gott,« seufzte er, »muß denn das Gute mit dem Schlechten umkommen?«

Allein die Inquisitoren blieben ungerührt. Seine Schriften wurden verdammt und schmachvoll öffentlich den Flammen übergeben. Der alte Mann wurde als Ketzer gebrandmarkt, und er selbst bis zu seinem Tode im Klostergefängnis zum Schweigen gebracht.

Ich fragte den Mönch, für welche besondere Ketzerei Johann von Wesel verurteilt worden sei.

Ich glaube, es waren Lästerungen wider die Kirche, war seine Antwort. »Ich habe ihn in seinen Predigten behaupten hören, daß die Kirche so verderbt sei, wie die jüdische Nation zur Zeit des Herrn Jesu. Er eiferte gegen die weltliche Pracht der Priester und Prälaten, gegen die toten Gebräuche, die an die Stelle des Gottesdienstes getreten, gegen den leeren Aberglauben, welcher wahre Frömmigkeit des Herzens und Lebens ersetzen sollte. Er sagte, das Salz sei dumm geworden; viele Priester seien nicht Hirten, sondern Diebe und Räuber; die Religion, die jetzt in der Mode, sei weniger besser als die der Pharisäer, welche unsern Heiland kreuzigten, ein Mantel für geistlichen Stolz und engherzige bittere Selbstsucht. Er behauptete, daß göttliche und kirchliche Autorität von sehr verschiedenem Gewicht seien; daß man die äußere Kirche von er wahren, lebendigen Kirche Christi unterscheiden müsse; und daß die den Priestern verliehene Macht der Absolution sakramentlich und nicht richterlich sei. Zu Worms hörte ich ihn einst in einer Predigt sagen, daß weder Papst, noch Kirche, noch Konzilium der Grund sei, auf den unser Glauben gebaut sein solle, sondern Jesus Christus einzig und allein. »Möge das Wort Christi reichlich in uns wohnen!«

»Das waren kühne Worte,« bemerkte ich.

»Noch mehr,« begann der alte Mönch wieder; »Johann von Wesel versicherte, daß er das, was die Bibel nicht für Sünde erkläre, auch nicht für eine solche halten könne; und er soll gesagt haben: »Iß an Fasttagen, wenn du hungrig bist.«

»Diese Erlaubnis haben viele Mönche zwar nicht mehr nötig,« erwiderte ich. »Also ist nicht sein Leben, sondern nur seine Lehre verdammt worden?«

»Mir war es sehr leid, daß man ihn verurteilen mußte,« versetzte der Alte; denn seit dieser Zeit habe ich keine Predigt mehr gehört, die so ins Herz drang, wie die seinigen. Wenn er die Kanzel bestieg, war die Kirche gedrängt voll. Die Laien so gut wie die Geistlichen verstanden ihn und hörten ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu. Wie schade, daß er ein Ketzer war, denn ich werde nie einen solchen Prediger mehr hören.«

»Ihr habt wohl noch nie Dr. Luther gehört?« fragte ich.

»Dr. Luther, der jene Thesen schrieb, über welche so viel gestritten wird?« entgegnete er. »Drängen sich die Leute auch zu seinen Predigten und hängen sie an seinem Munde, als ob er Worte des Lebens redete?«

»So ist's,« versetzte ich.

»Dann,« entgegnete der alte Mönch sanft, »mag sich Dr. Luther nur in Acht nehmen. So ging es schon manchen ketzerischen Predigern. So war's gerade mit Johann von Goch zu Mecheln und Johann von Wesel, der aus Paris verbannt wurde. Aber,« fuhr er fort, »wenn Dr. Luther nach Mainz kommt, muß ich ihn hören. Ich wollte, daß mein kaltes, trockenes Herz noch einmal so gerührt würde. Oft, wenn ich die Evangelien lese, kommen seine Worte mir wieder in den Sinn. Bruder, es war wie Lebensodem.«

So also starb der letzte Mann, welcher es Deutschland in's Gesicht zu sagen wagte, daß Menschenwort nicht Gotteswort gleichgestellt werden dürfe, und daß die Bibel die einzige Richtschnur für den Glauben, die einzig giltige Regel für Recht und Unrecht sei!

Wie wird es dem nächsten, wie dem Manne ergehen, der dies jetzt vor der ganzen Welt behauptet?

Der alte Mönch kehrte noch einmal um, als wir uns schon getrennt hatten, und sagte leise:

»Sagt Dr. Luther, er soll sich an Johann von Wesel ein warnendes Beispiel nehmen. Fromme Männer und berühmte Prediger werden so leicht Ketzer, ohne es zu wissen. Und doch,« setzte er hinzu, »so zu predigen wie Johann von Wesel, ist vielleicht doch der Mühe wert, im Gefängnis zu verschmachten. Ich glaube, ich wollte gerne sterben, wenn ich nur einen solchen Mann noch einmal hören könnte! Sagt Dr. Luther, er solle vorsichtig sein. Aber nichtsdestoweniger will ich ihn hören, wenn er hieher kommt.«

So ist also die Wahrheit, die Johann von Wesel lehrte, trotz der Flammen nicht untergegangen


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