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»Amy,« sagte Nielsen und legte den Brief des Doktors, nachdem er ihn gelesen, auf den Tisch des Wohnzimmers, in dem sie saßen, »hier ist ein Brief aus Dänemark von Doktor Koldby gekommen. Ich will ihn dir nicht vorlesen, denn du kennst meinen Freund nicht und würdest seine Worte nicht beurteilen können. Indessen hat er recht mit dem, was er schreibt. – Es liegt ein Leichnam im Keller dieses Hauses – ein Toter, der noch nicht erledigt ist. Drei Monate lang hat er ruhig und geduldig gewartet – gewartet, wie nur ein Toter warten kann. Nun aber verlangt er, daß wir ihn erledigen – verlangt es im Namen aller Toten.«
Amy blickte auf; es lag Sorge in ihren Augen – Sorge und stiller Schrecken. Aber sie sagte nichts, und Nielsen fuhr fort: »Als mein Freund und ich den Toten entdeckten, faßten wir einen ungewöhnlichen Entschluß. Wir handelten nach einer Theorie – meiner Theorie, und jeder Schritt, den wir nach dieser Theorie unternahmen, brachte uns auf dem richtigen Wege vorwärts. Gleichzeitig aber trat an die Stelle der düstern grauen Theorie das helle grüne Leben, und jetzt entscheidet nur das Leben über unsre Handlungen, die Theorie ist zurückgetreten. Nicht einen Augenblick lang habe ich vergessen, daß der Tote dort unten ein Recht vorstellt – nicht ein Recht der Toten, sondern ein Recht der Lebenden – der ganzen Gesellschaft. Ich verstehe es und erkenne an, daß die Gesellschaft ein Recht zu der Forderung besitzt, daß keine Tat, durch die ein Lebender den Tod erleidet, willkürlich dem öffentlichen Gerichtswesen entzogen werde. Siehst du das ein, Amy? Fühlst du wie ich, daß wir nicht imstande sind, der Gesellschaft ihr Recht abzusprechen, daß wir nicht – wie der Doktor schreibt – alle Spuren des in diesem Hause Geschehenen zerstören können?«
Sie erwiderte nichts.
Nielsen fuhr fort: »Es lebt ein Instinkt in uns, der uns angeboren ist und mit unserm Wachstum zunimmt. Wir beide mögen freilich fühlen, daß deine Tat gerechtfertigt war, daß du wenigstens kein Verbrechen verübtest, als du ihn niederstießest. Und ich glaube auch: wenn du von Angesicht zu Angesicht den Männern, die nach dem Gesetz dieses Landes unsre Richter sind, gegenüberständest und ihnen alles so erzähltest, wie du es mir erzählt hast, dann würden sie sagen: Gehen Sie ruhig Ihres Wegs, wir verurteilen Sie nicht! Aber du sowohl wie ich, wir fühlen, daß wir dieses Urteil erst herausfordern müssen. Nicht wahr?«
»Nein,« sagte Amy, »nein. Ich habe dir alles berichtet und dich in alles eingeweiht, weil du es so wolltest. Aber du kannst nicht verlangen, daß ich, die Schuldlose, die Wehrlose, mich der gaffenden Menge aussetze, mich dem zweifelhaften Urteil einiger mir gleichgültiger Fremder unterwerfe. Ich fühle, daß ich unschuldig bin – welch ein Gewicht soll da das Urteil der andern haben? Du verstehst mich – – und du sagst, daß du mich liebst!«
Nielsen kniete vor ihr und ergriff ihre Hand.
»Meine Amy,« sagte er, »du hast recht, du bist wirklich schuldlos. Aber nun stehe auf und steige dort hinab in den Keller zu unsern Füßen, wo die Leiche liegt. Vernichte sie, verbrenne sie – tilge sie fort aus der Wirklichkeit. Tue das, Amy, mit deinen eigenen Händen.«
Da erschauderte sie, beugte den Kopf über seine Schulter, und er fühlte ihre Tränen auf seiner Wange, während sie flüsterte: »Das kann ich nicht, Holger, das kann ich nicht.«
Er küßte ihre Augen. »Siehst du, Amy,« sagte er traurig, »du kannst es nicht, und daher darf es auch nicht geschehen. Ich könnte alles in der Welt für dich tun, das Schwerste würde mir leicht erscheinen, wenn ich es für dich täte. Doch dies hier vermag auch ich nicht zu vollbringen, ich kann's nicht tun. Meine innere Stimme ist der höhere Leiter aller meiner Handlungen. Ich fühle, was recht ist, und ich fühle, was unrecht ist, und diesem Gefühl gegenüber ersterben alle gegnerischen Gedanken und Worte. Du und ich, wir sind eins; was ich für dich tue, tue ich auch gleichzeitig für mich, und wenn ich dich selbst vor einer Überführung der Schuld retten könnte dadurch, daß ich dieses täte, so könnte ich es dennoch nicht tun.«
»Und wenn mein Leben auf dem Spiel stände?« flüsterte sie.
Nielsen sah auf.
»Dein Leben steht nicht in Frage, das weißt du ja. Was du fürchtest, ist bloß das öffentliche Aufsehen, das wir erregen würden, über das wir uns jedoch erhaben fühlen sollten. Regeln, die für alle Umstände gelten, können wir nicht aufstellen. Die Religionsbegründer haben es versucht, und es hat sich der Trugschluß einer jeden Lehre – der Streit zwischen Wahrheit und Lüge ergeben. Nein, wir Menschen müssen vielmehr jedes Ding für sich betrachten; das ist freilich nicht so tief, nicht so umfassend, aber es entspricht der menschlichen Natur. Die Frage, die wir uns in diesem Augenblick stellen müssen, ist nicht die: hat man das Recht, die Gesellschaft um das, was man ihr schuldet, zu betrügen, wenn man dadurch den einen, den man liebt, vor der Gesellschaft schonen kann? Wir dürfen die Frage nicht in dieser Weise stellen, sondern müssen sie weniger allgemein aufsetzen. Sie muß lauten: Habe ich das Recht, den Körper des toten Weston zu zerstören, um dich dadurch vor einem Verhör zu bewahren? – Nur dadurch, daß wir Menschen jede Kleinigkeit für sich betrachten, können wir uns klar darüber werden, was unsre Pflicht von uns erheischt. Mögen Prediger und Poeten von allgemeinen Regeln reden – Ärzte, Juristen und Alltagsmenschen müssen jedes Ding für sich nehmen, und so müssen wir es auch hier tun.«
»Laß uns ins Ausland gehen,« sagte Amy und Nielsen bemerkte, wie sie zitterte, als sie wieder ihre Wange gegen die seine drückte.
Nielsen schüttelte den Kopf. »Wir können's nicht. Es gibt nur zwei Dinge, zwischen denen wir wählen können: entweder frei herausreden und das Urteil der Gesellschaft erwarten oder Stillschweigen bewahren und die Leiche vernichten. Du fühlst gut, wie du handeln solltest – du fühlst ebenso wie ich. Wenn wir jetzt fehlen, werden wir nie davon frei werden; niemand kann straflos der innern Stimme Gehör verweigern. Wenn eine Handlung geschehen ist, so läßt sie sich im allgemeinen auch verteidigen; vielleicht könnte auch diese Handlung, wenn sie nicht mehr ungeschehen zu machen wäre, verteidigt werden – aber, jetzt, nein, der Tote liegt im Keller unter unsern Füßen, er wartet – er wartet, und du und ich, wir müssen jetzt handeln. Wir brauchen keine Verteidigung; was wir brauchen, ist das sichere Gefühl, recht gehandelt zu haben. Und du und ich, wir wissen, wie wir handeln sollen, um recht zu handeln.«
»Und die Schande?« flüsterte sie, »die Schande, von Angesicht zu Angesicht all diesen Leuten gegenüberzustehen! O Holger, Holger, du mußt doch fühlen können, wie schrecklich das ist.«
»Amy,« sagte Nielsen und legte seinen Arm um sie, »ich sprach einmal in einem Verein junger Sozialisten über Verbrechen und dessen Bestrafung. Einer von ihnen richtete die Frage an mich, ob ich der Ansicht sei, daß jede Gerichtsverhandlung öffentlich geführt werden müsse, und ich antwortete bejahend. Aber dennoch, fügte ich hinzu, könnte ich sehr wohl begreifen, daß ein Weib, dem von einem Manne eine Verletzung zugefügt ist, beanspruchen darf, daß die Öffentlichkeit nichts davon erfährt, weil die Schande sowohl auf den Unschuldigen wie auf den Schuldigen fallen würde. Und der junge Arbeiter antwortete mir: Sollten wir nicht die Gesellschaft erziehen, nur da Schande zu empfinden, wo eine Handlung vorliegt, die wirklich Schande verdient? Und ich sagte nichts, denn der junge Mann hatte recht.«
»Nur arme Leute leben so dicht bei einander, daß sie nichts verbergen können,« sagte Amy. »Du mußt verstehen, Holger, daß ich, die ich so ganz abseits von der Welt gelebt habe, es deutlich empfinde, daß die Schande auch auf mich fallen würde, obwohl ich nur die Verletzte bin. Ich bitte dich, Holger, tu es um meinetwillen, um unsrer Liebe willen!«
Nielsen hatte sich erhoben; sie erhob sich auch und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»O rette mich, Holger, bewahre mich zum letztenmal vor jenem schrecklichen Menschen und vor dem Übel, das er mir zufügen will.«
Nielsen machte sich frei; er ergriff ihre beiden Hände und küßte sie, eine nach der andern, dann küßte er ihr Stirn, Augen und Mund.
»Amy,« sagte er, »ich stehe an deiner Seite. Wollte ich es ablehnen, auf meine innere Stimme zu hören, dann handelte ich nicht nur gegen mich falsch, sondern auch gegen dich. Komm, noch heute wollen wir auf das Gericht gehen, und du wirst sehen, sobald wir gesprochen haben, wird die Last von uns gewichen sein. Wir wollen es nicht tun, weil die Gesellschaft mit ihren Gesetzen uns beherrscht, sondern weil wir uns in Übereinstimmung mit dem Geiste fühlen, der das Zusammenwirken zwischen Mensch und Mensch – jeder für sich und alle übrigen – erhält.«
* * *
Da läutete es an der vorderen Tür. Gleich darauf trat Madame Sivertsen herein.
»Herr Nielsen, hier ist ein Telegramm für Sie gekommen.«
Nielsen nahm und las es; es war von Doktor Koldby.
Amy hielt ihre Augen auf ihn geheftet, ihre Wangen glühten und mit heiserer Stimme rief sie: »Bevor du das tust, Holger – sprich erst mit ihm – sprich mit ihm oder laß mich mit ihm sprechen.«
Nielsen lächelte: »Weißt du, was er sagt? Nur dies: Treffen Sie mich morgen abend um halb acht im South Weston Hotel in Southampton.«
Amy ergriff seine Hand und stieß hervor:
»Tu das, Holger, tu das, bevor du das andre tust.«
Und am nächsten Morgen hatte Nielsen seinen Koffer gepackt und forderte Amy auf, ihn zu begleiten.