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In der ersten Nacht, die Holger Nielsen im neuen Hause verbrachte, konnte er nicht schlafen. Nicht etwa, weil es ihm an Müdigkeit fehlte, denn er war immer müde in London. Die langen Spaziergänge durch die Straßen, bei denen er mitten im Leben der Weltstadt stand und den Strom des Volkes, unter dem alles Individuelle verschwand, verfolgen konnte, wo er die reich gekleidete, geputzte Menge, die an den glänzenden Schaufenstern vorüberwogte, immer geschäftig einkaufend und ihren Überfluß vermehrend, beobachten konnte, sowie das unendliche Gewirr von Nebenstraßen und kleinen Gäßchen, in denen Schmutz und Armut wohnten, wo die elenden Kinder der Armen ihn spielend umgaben, und wo der Gegensatz zu dem Überfluß der großen Straßen ihn die Elemente des Sozialismus lehrte – alle diese Gänge ermüdeten ihn sehr.
Und dennoch konnte er nicht schlafen.
Der Lärm auf der Straße legte sich gegen Mitternacht mehr und mehr, das Schnaufen der Motorwagen, und das Rattern der Omnibusse wurde immer seltener, die Rufe der Kutscher erstarben, und die Schritte auf dem Steinpflaster erklangen nur noch hin und wieder. Schließlich verstummte alles, von der Nacht bedeckt; nur auf dem nahen Turm kündete die Uhr mit dumpfen Schlägen die Stunden an.
Es war eine dunkle Nacht – ohne Mondschein – und völlige Stille war nunmehr eingetreten. – Und dennoch glaubte Holger Nielsen irgendwo im Dunkeln etwas zu hören, etwas, das er nicht enträtseln, sich nicht erklären konnte.
Es klang fast wie das Weinen eines Kindes – oder einer Katze. Nicht wie ein lautes Katergeheul oder Miauen, sondern wie ein ganz leises, klägliches, hilfloses Weinen, das von weit her zu kommen schien. Nielsen versuchte, es nicht zu beachten und Schlaf zu finden, doch dann wurde das Klagen lauter und noch kläglicher. Nun wußte er freilich, daß in jedem Haus in London mindestens eine Katze ist, aber dieses sind durchweg sehr gut behandelte Tiere, die eine Art von Bürgerrecht genießen, unter keinem Zwange stehen und sich bei Tag und Nacht ihres Lebens erfreuen können, wie es ihnen behagt. Diese Katze dagegen – sofern es eine solche war – mußte ein elendes, mißhandeltes Wesen sein, das in den Kellern des Hauses trauerte; denn in diesem Hause saß es ganz unbedingt.
Nachdem Holger Nielsen eine Weile gelauscht hatte, stand er auf, legte einige Kleidungsstücke an, machte Licht und stahl sich leise auf den Gang hinaus. Auch hier konnte er nicht ausfindig machen, von wo der Laut herkam; er klang ganz unbestimmt von der Tiefe herauf.
Nun schritt Nielsen leise, um seinen Gefährten nicht zu stören, in die Küche. Dort angekommen, vernahm er ein Rascheln in Madame Sivertsens Kammer und bemerkte einen Lichtstreifen unter ihrer Tür.
»Frau Sivertsen!« flüsterte er.
»Sind Sie es, Herr Nielsen?« erklang ihre Stimme. »Gott sei Dank.«
»Schlafen Sie noch nicht?« fragte er.
»Nein,« war ihre Antwort. »Ich kann kein Auge zutun. Ich höre immer, daß sich etwas bewegt.«
Es bewegte sich wirklich etwas, Nielsen vernahm es jetzt auch. Der Laut klang wie ein leises Kratzen, Kriechen, Schleichen und ähnelte doch wieder keinem von alledem.
»Es muß irgendwo eine Katze im Hause sein, Frau Sivertsen,« sagte Nielsen flüsternd.
» Das ist keine Katze,« erwiderte sie gedämpft, doch entschieden.
»Was soll es denn sonst sein?« erwiderte er. »Hören Sie, jetzt heult es. – Wo mag das Tier nur stecken?«
Die alte Frau kam nunmehr in einem recht phantastischen Kostüm und mit einer riesigen Nachtmütze versehen aus der Kammer heraus.
»Das ist keine Katze,« wiederholte sie und schüttelte den Kopf, daß die Bänder flogen. »Es geht im Hause etwas um, Mr. Nielsen.«
Nielsen mußte lächeln. »Meinen Sie, es spukt?«
Sie schwieg.
»Sie glauben doch wohl nicht an Gespenster, Frau Sivertsen?«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Eine Katze ist es auf keinen Fall. Es geht etwas im Hause um.«
»Haben Sie etwa Angst?«
»Ich? Nein. Ich habe ein gutes Gewissen – mich werden sie schon in Ruhe lassen. Aber es hört sich so unheimlich an.«
Nielsen beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Er durchsuchte das ganze Haus, stampfte auf den Fußboden und klopfte an die Wände. Der Laut erstarb darauf; sowie er aber den Korridor verließ, ertönte das Klagen von neuem.
Schließlich schlug die Uhr eins.
»Na, nun pflegt solch ein Spuk ja zur Ruhe zu gehen,« sagte er lächelnd zu Frau Sivertsen. »Und ich denke, wir tun desgleichen.«
Madame Sivertsen schüttelte ihre Nachtmützenbänder und wackelte in ihre Kabine zurück.
Auch Nielsen begab sich zur Ruhe, fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf und träumte von einem riesigen schwarzen Kater, der laut schnurrend vor ihm auf dem Bett saße.
Er schlief sehr schlecht in dieser Nacht.
Doktor Koldby dagegen lag im wahren Schlaf des Gerechten und hatte am nächsten Morgen bloß ein Spottgelächter für Nielsen und Frau Sivertsen übrig. Er war entzückt von dem Hause und besonders von dem Atelier.
Nielsen benutzte den ganzen Tag zur Durchsuchung aller Räume, doch ohne eine Katze oder sonst etwas Bemerkenswertes zu finden. Schließlich schlug er sich die Sache aus dem Kopf und nahm seine Spaziergänge wieder auf.
Allein auch in der nächsten Nacht vermochten sowohl er als auch Frau Sivertsen wieder kein Auge zu schließen; die Katze ließ sich aufs neue vernehmen.
Da weckten sie den Doktor, und er mußte zugeben, daß irgend etwas ein Geräusch verursachte. Er neigte auch mehr dazu, es für eine Katze zu halten als für einen Spuk, und die beiden Freunde beschlossen, am nächsten Tage eine höchst eingehende Untersuchung vorzunehmen.
Das war der Entschluß der zweiten Nacht, der am dritten Tage ausgeführt werden sollte.