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Elftes Kapitel

Doktor Koldby hielt an diesem Abend eine lange, eindringliche Rede.

»Nielsen,« sagte er, »lassen Sie mich meine Diagnose stellen: Sie sind in Mrs. Weston verliebt! Ich habe das schon lange kommen sehen, und es ist ein ganz normaler Fall. Sie gehen nun mit ihr nach London, um ihr beizustehen. Schön, dazu sage ich weiter nichts; ich bin sogar geneigt, Ihrer Absicht beizustimmen, denn über kurz oder lang werden Sie ihr Vertrauen gewinnen und damit zweifellos die Lösung des Rätsels in die Hand bekommen. Aber die Sache hat auch zwei Seiten. Entweder Sie entdecken wirklich alles und werden dann in moralischer und juristischer Hinsicht ihr Komplize und Mitschuldiger, während ich auf Ihr Ersuchen sofort meine Forschungen einstellen werde, wozu ich jeden Augenblick mehr als bereit bin. Der Mann im Keller interessiert mich nur wenig. Nur müßten Sie mir die Geschichte erzählen, denn neugierig bin ich doch.«

»Das wäre also die erste Seite der Sache. Und nun die zweite?«

»Die zweite ist folgende: Mrs. Weston läßt sich Ihre Begleitung gefallen, weil sie einen Mann braucht, der ihr aus der Klemme zu helfen vermag, denn sie selbst gibt zu, daß sie in einer Klemme sitzt. Sie weiß, daß sie hübsch ist, das haben ihr der Spiegel und viele Gentlemen sicher genügend oft erzählt, und sie stellt ebenfalls eine Diagnose: ›Der ist der rechte Mann für meinen Zweck,‹ sagt sie und fügt sogleich hinzu: ›Und ich habe ihn auch schon eingefangen!‹ Jawohl, denn augenblicklich passen Sie ihr in den Kram. Lassen Sie uns hoffen, daß sie sich Ihnen für Ihre Bemühungen erkenntlich zeigen wird, aber seien Sie nicht zu schnell befriedigt, wie das verliebten Männern eigen ist. Passen Sie vielmehr auf, mein Junge, daß Sie sich nicht von Ihrer Eingenommenheit hinreißen lassen, den einzigen Vorteil, den Sie haben, aus der Hand zu geben. Versprechen Sie mir daher – ob Ihre Liebelei nun Erfolg hat oder nicht – sich auf keinen Fall von ihr abspeisen und Ihren Namen aus der Geschichte des Hauses streichen zu lassen. Ich will keine Moralpredigt halten; handeln Sie meinetwegen so verrückt, wie Sie nur irgend wollen – aber ich für meine Person lasse mich nicht aus der Geschichte des Hauses Cranbourne Grove streichen. Beachten Sie das.«

Nielsen lachte. »Sie haben keinen Glauben an sie.«

»An kein weibliches Wesen auf der Erde habe ich Glauben. Lassen Sie sich meinetwegen von dieser Dame ein Halsband um das Genick legen – ein kleines Kettchen mit der Aufschrift: Amys Kater – à la bonheur – es gibt ja Männer, denen derlei Vergnügen macht. Den solideren Teil des Resultats dagegen möchte ich haben: volle Klarheit über die Geschichte der Katze Amys – aller Katzen Amys und der Katzen aller Amys. Mehr verlange ich nicht. Geben Sie mir nun Ihre Instruktionen, bevor Sie reisen; ich werde handeln, wie Sie es wünschen, denn jetzt ist es ganz und gar Ihre Angelegenheit geworden. Ziehen Sie also hinaus, Sie törichter Knabe, und nehmen Sie das Schicksal auf sich, das Ihnen zu teil wird.«

»Sie sind ein mitfühlender Mensch, Doktor Koldby. Sie predigen nicht, Sie moralisieren nicht, Sie sind bloß zur Hilfe bereit. Hören Sie mich also an: Den Mr. Weston – wir wollen ihn so nennen, bis wir seine Identität festgestellt haben – überlasse ich Ihnen. Sie sind mir für ihn verantwortlich. Halten Sie ihn daher gut fest. Wenn Miß Derry ankommt, wird sie ihn warnen; ob Sie ihn dann freilassen dürfen oder nicht, hängt von dem ab, was ich in London ausfindig machen werde. Ich habe mich entschlossen, fest zu sein und meinen Willen durchzusetzen – lachen Sie nur immer zu – ich habe Willenskraft genug. Wenn sie so ist, wie ich es von ihr glaube und hoffe, so ist freilich mein Platz an ihrer Seite.«

»Und die Justiz kommt erst in zweiter Linie,« bemerkte der Doktor dazwischen.

»Ja, lieber Doktor, wenn Liebe und Justiz miteinander in Zwiespalt geraten, dann trete ich allerdings auf die Seite der Liebe.«

»Die Phrase haben Sie sicher in einem schlechten Roman gelesen, mein guter Nielsen. Aber genug davon. Ich habe meine Orders erhalten. Ziehen Sie nun also aus, Ihrem Geschick entgegen und lassen Sie mich nicht um die Lösung des Rätsels kommen. Sonst kündige ich Ihnen die Freundschaft, Verehrtester.«

»Verlassen Sie sich nur auf mich,« sagte Nielsen begütigend.

»Den Teufel werde ich! Wenn ein Mensch erst verliebt ist und auf Freiersfüßen herumläuft, dann ist so wenig Verlaß auf ihn wie auf ein Weibsbild selber, und jede Freundschaft mit ihm steht in Gefahr. Eine klassische Freundschaft, wie bei Cicero und Seneca – auf Lateinisch amicitia – ist nur zwischen ganz reinen Männern möglich. Aber wir wollen diese traurigen Dinge ruhen lassen und uns zu Bett begeben. Denn morgen mit dem Frühesten beginnt Ihre und der Lady Flucht. Die Postkutsche geht um halb sechs. Ich werde Ihrem Namen im ehrbaren Lökken eine freundliche Erinnerung zu bewahren suchen.«

»Schön,« sagte Nielsen, »aber vor allem passen Sie auf Weston auf.«

So waren sie denn beide einig – oder richtiger alle drei.


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